In der Ukraine findet ein Genozid an der Bevölkerung statt

Von Kai Diekmann

Zwei Jahre dauert der brutale Krieg gegen die Ukraine nun schon an. 24 Monate mit vielen Tausend Toten, brutalen Vergewaltigungen, Folter, Zerstörung von Leben, Existenzen und Häusern, der Verschleppung tausender ukrainischer Kinder nach Russland. Zwei Jahre, in denen Familien ihre Söhne, Männer, Brüder, Freunde kaum gesehen haben, weil sie ohne Pause an der Front kämpfen. Zwei Jahre, in denen ich mir Sorgen um ukrainische Freunde mache und um Kolleginnen und Kollegen, die über den Krieg berichten.

Über 10.000 zivile Opfer hat dieser Genozid bis heute in der ukrainischen Bevölkerung gekostet, davon fast 600 Kinder. Über 19.000 Zivilisten sind verletzt worden, davon über 1.000 Kinder. Ich benutze bewusst das Wort Genozid, denn nichts anderes ist es, was der russische Diktator bezwecken will: die ukrainische Bevölkerung auszulöschen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht.

Ich höre sie schon wieder, die Stimmen, die sagen: „Dann liefert keine Waffen mehr an die Ukraine und bietet Putin Verhandlungen an, dann ist der Krieg vorbei und es herrscht Frieden.“ Ich weiß nicht, ob das alles Putin-Trolle sind oder ob es wirklich möglich ist, dass Menschen aus aufgeklärten, demokratischen, freiheitlichen Ländern wie Deutschland, in denen man Zugang zu allen Informationen hat, so etwas glauben. Dann müssten sie wissen, dass Putin selbst keinen Hehl daraus macht, was er wirklich im Schilde führt. Und das beschränkt sich mitnichten auf die völlige Eroberung und Vernichtung der Ukraine als Nation, der Auslöschung der ukrainischen Identität, Kultur und Souveränität. Sollte Putin in der Ukraine erfolgreich sein, wird er nicht davor zurückschrecken, seine Finger nach anderen Ländern auszustrecken, die einst zur untergegangenen Sowjetunion gehört haben. Wenn er sagt, er habe kein Interesse an „Polen, Lettland oder anderen Ländern“, kann man davon ausgehen, dass er genau an diesen Ländern Interesse hat. Und er will noch mehr. Er will eine neue Weltordnung, in der Diktatoren wie er am Schalter der Macht sitzen. Er hasst alles Westliche, er hasst alle Demokratien, und wohin das führt, kann man anschaulich in Russland, China oder Nordkorea beobachten. Wollen Menschen, die Putins Propaganda unterstützen, wirklich in solchen Verhältnissen leben?

Ich war in meinem Leben oft in der Ukraine. Das letzte Mal Anfang April 2022, sechs Wochen, nachdem Putin sein Nachbarland überfallen hat. Von Kyiv aus fuhren wir damals nach Butcha, der einst so jungen, modernen Vorstadt der Hauptstadt, in der die russischen Soldaten ein furchtbares Massaker unter der Bevölkerung angerichtet hatten. Wir gingen durch Straßen, in denen kein Stein mehr auf dem anderen stand, vorbei an ausgebrannten Panzern und Fahrzeugen, alles wirkte wie ausgestorben. Dann standen wir neben einer kleinen orthodoxen Kirche unvermittelt an einem Massengrab, aus dem die Hände von Toten aus der schlammigen Erde ragten. Ich habe noch nie so etwas Erschütterndes und Grauenhaftes gesehen. Und ich möchte mir nicht vorstellen, wie die anderen Orte, die die Russen in ihrem imperialistischen, irrsinnigen Kriegswahn überfallen, heute aussehen.

Wir im Westen haben es uns in unserem friedensseligen Schaukelstuhl über viele Jahre allzu gemütlich gemacht und können uns gar nicht vorstellen, dass auch über uns der Feuersturm eines Krieges hereinbrechen könnte, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat.
Deshalb würde ich mir wünschen, dass die freiheitsliebenden Menschen in Deutschland und Europa, vor allem auch die jungen Leute in den Universitäten, weniger gegen einen nicht stattfindenden Genozid im Gaza-Streifen demonstrieren (wenn er stattfindet, dann wird er von den Hamas-Terroristen gegen seine eigene Bevölkerung geführt), sondern den Blick gen Osteuropa wenden, wo ein wirklicher Genozid an Menschen stattfindet. Ein Massenmord an Menschen, die genauso sind wie wir, die in einem Land lebten, in dem Gleichberechtigung und eine junge Demokratie herrschte und das nun von einem gewissenlosen, machthungrigen Diktator in Schutt und Asche gebombt wird.

„Wenn die Ukraine fällt, dann fallt ihr auch“, hat Wladimir Klitschko vor nicht allzu langer Zeit beim M100 Media Award in Potsdam gesagt. Und er hat recht. Wartet nicht darauf, bis es passiert, denn dann könnte es zu spät sein.

Kai Diekmann ist ehemaliger Chefredakteur der BILD-Zeitung, Gründer der Social-Media-Agentur Storymachine und im Beirat des M100 Sanssouci Colloquium.

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