Es geht um eine europäische Zukunft in Frieden

Von Prof. Dr. Wolfgang Ischinger

Es ist jetzt fast genau zwei Jahre her, seit Russlands Präsident Wladimir Putin den militärischen Großangriff gegen die Ukraine startete.
Drei Feststellungen lassen sich jetzt schon treffen:
1. Putin hat nicht nur sein ursprüngliches Kriegsziel, die handstreichartige Unterwerfung der Ukraine und die Beseitigung der gewählten ukrainischen Führung, nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Ukraine hat durch die russischen Interventionen seit 2014 ihre eigene nationale Identität ganz wesentlich stärken können und sucht seither entschlossen den Weg nach Westen, in die EU und hin zur Nato.

Putin hat überdies entgegen russischen Zielsetzungen erreicht, dass traditionsreiche neutrale europäische Staaten wie Schweden und Finnland sich der Nato angeschlossen haben und dass überall im Westen seit Jahren die Verteidigungsbudgets steigen. Also 1:0 für die Ukraine und den Westen?

2. Nicht ganz. Denn die mit medialen Vorschusslorbeeren gepriesene ukrainische Gegenoffensive 2023 ist ins Stocken geraten, ja verpufft. Militärische Experten sprechen jetzt von einem quälenden Stellungskrieg mit unsäglich hohen Verlusten an Mensch und Material. Ein Durchbruch ist nicht in Sicht. Gleichzeitig hat die westliche Sanktionspolitik die russische Industrie und Wirtschaftskraft keineswegs so geschwächt wie von manchen prognostiziert.

Sanktionen sind, das zeigt sich hier erneut, kein Allheilmittel. Sie haben Nebenwirkungen und können umgangen werden. Russland verdient weiter fleißig am Energieexport und kann bis auf Weiteres Rüstungsgüter und Munition schneller an die Front nachliefern als der Westen: Das ist der besorgniserregende aktuelle Befund.

3. Aus den zusätzlichen Unsicherheiten, die sich aus der US-Präsidentschaftswahl ergeben, ergibt sich eine bittere Erkenntnis: Die Ukraine wird womöglich nicht mehr lange standhalten können, sie hat mangels Nachschubs an Munition jetzt schon von Angriff auf Verteidigung umgeschaltet. Russland wird allmählich und immer stärker territoriale Gewinne an einzelnen Frontabschnitten erzielen, wenn sich nichts ändert.

Das heißt im Klartext: Die Ukraine würde zum Rückzug gezwungen – die denkbar schlechteste Voraussetzung für ernsthafte Verhandlungen über Waffenstillstand oder gar Frieden. Und natürlich dürfen solche etwaigen künftigen Verhandlungen nicht einfach an den gescheiterten Minsk-Prozess anknüpfen: Die Ukraine braucht künftig feste Garantien, am besten durch eine Nato-Mitgliedschaft.

Um keine Illusionen zu schüren: Echte Verhandlungsbereitschaft aufseiten Moskaus dürfen wir ohnehin erst dann erwarten, wenn im Kreml Klarheit herrscht, dass der fortgesetzte Einsatz russischer militärischer Mittel keine weiteren erkennbaren Vorteile mehr bringt. Leider dürfte der Kreml aktuell von dieser Einsicht weiter entfernt sein als jemals zuvor in den letzten 24 Monaten.

Was also muss geschehen? Fünf Anregungen:
1. Der Westen muss die Ukraine 2024 militärisch noch intensiver unterstützen als bisher. Dieser Krieg befindet sich ohnehin in einer asymmetrischen Schräglage: Die Russische Föderation kann in mindestens zehn ihrer elf Zeitzonen ungehindert weiterrüsten, während sie sich gleichzeitig das Recht nimmt, das gesamte Territorium der Ukraine regelmäßig, unter Einbeziehung ziviler Ziele, unter Beschuss zu nehmen.

Dem Westen wird der Schneid abgekauft, indem Russland rote Linien zieht: wehe, russisches Territorium würde etwa mit westlichen Flugkörpern angegriffen! Warum dreht der Westen nicht einfach den Spieß um, von passiv-reaktiv auf proaktiv: Noch ein weiterer Beschuss ziviler Objekte in der Ukraine, könnte die Botschaft an Moskau sein, und die Ukraine erhält weiterreichende Systeme wie etwa Taurus. Dann wäre es an Russland, westliche rote Linien zu überschreiten oder eben nicht.

2. Die Europäische Union muss sich von der rüstungspolitischen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts endlich verabschieden. Es geht hier überhaupt nicht um die vielbeschworene Vision einer EU-Armee, sondern um praktische Fragen. Wenn nicht jetzt, wann denn dann werden die Staats- und Regierungschefs erkennen, dass 27 separate Rüstungsbehörden unsinnig sind? Dass wir – allesamt europäische Kleinstaaten – Forschung, Entwicklung, Bau, Kauf, Ausbildung, Training und Wartung gemeinsam organisieren müssen?

Viele Milliarden werden unnütz alljährlich verschwendet, weil jeder europäische Zwergstaat seine paar Flugzeuge separat einkauft, nebst teurem Wartungs- und Ersatzteilpaket. Und dass wir uns unsinnigerweise kleinteilige europäische Panzer- oder Flugzeug-Rivalitäten leisten, wo es doch ums Ganze geht? Wenn nicht jetzt, wann denn wird also die European Defense Agency entsprechend ausgebaut? Und wenn wir strukturell überfordert sind, das vollmundige EU-Versprechen zu erfüllen, eine Million Artilleriegranaten zu liefern, dann muss eben ein Sonderbevollmächtigter mit Durchgriffsrechten her, ein Rüstungszar, wie man in den USA sagen würde. Die Lage ist ernst!

3. Die Wirtschaftskraft des Westens übertrifft die Russlands um mehr als das 20-Fache. Russland hat längst auf Kriegswirtschaft umgeschaltet. Im Westen haben hingegen viele die Dimension der Zeitenwende noch nicht begriffen und wollen weiter business as usual treiben. Dabei ist ganz Europa existenziell bedroht, keineswegs nur die Ukraine, und das vielleicht für Jahrzehnte. Putin hat erst dieser Tage wieder expressis verbis auch die baltischen Staaten ins Fadenkreuz genommen. Er muss verstehen lernen, dass wir ihn, wenn nötig, totrüsten können und werden und dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann und nicht gewinnen wird.

Wie wurde übrigens der Zweite Weltkrieg gewonnen? Ja, auch in Stalingrad oder Hiroshima. Aber der entscheidende Faktor für den alliierten Sieg war, dass die USA ab 1943 mehr Rüstungsgüter produzierten als sämtliche anderen Kriegsparteien auf beiden Seiten zusammengenommen. Kann man daraus Schlüsse ziehen?

4. Die Lage ist so ernst, dass strategisch und nicht nur taktisch gedacht werden muss. Überfällig ist das vertrauliche europäische Gespräch mit Paris, vielleicht auch mit London, wie die nukleare Abschreckung für unseren Kontinent gestärkt werden könnte – natürlich nicht gegen, sondern in engster Abstimmung mit den USA.

Träume über eine nukleare EU-Fähigkeit sind erlaubt, aber absurd unrealistisch, wie jeder Experte weiß. Glaubwürdige Abschreckung funktioniert nicht per Komitee, sondern erfordert das Entscheidungsmonopol einer Person. Genauso abwegig ist das Raunen über eine deutsche atomare Bewaffnung, nachdem Deutschland sich doppelt völkerrechtlich verpflichtet hat, dauerhaft nicht-nuklear zu bleiben.

5. Und wenn ein verteidigungsfähiges und außenpolitisch handlungsfähiges Europa heute nicht mit allen 27 EU-Staaten zustande kommen kann, dann sollte Berlin sich mit Paris, Warschau, Italien, Benelux und anderen an Kerneuropa-Ideen erinnern, wie sie von Wolfgang Schäuble schon vor Jahrzehnten entwickelt wurden.

Die letzte große europapolitische Initiative aus Deutschland entstand vor 34 Jahren – das war der Euro. Könnte jetzt vielleicht ein guter, ja überfälliger Zeitpunkt sein, um mal wieder initiativ zu werden? Um den Anstoß für ein Europa zu geben, das nicht nur integriert, sondern uns alle schützt?

Die Ukraine darf und wird nicht verlieren, sondern sich weiter erfolgreich durchsetzen: Sie gehört zu Europa und muss ein freies Land sein dürfen. Und Europa muss seinen Willen zur Selbstbehauptung unter Beweis stellen, Donald Trump hin oder her.

Prof. Dr. Wolfgang Ischinger ist ehemaliger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, ehemaliger deutscher Botschafter in London und Washington und Mitglied im Beirat des M100 Sanssouci Colloquiums.

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