Von Anastasiia Ivantsova
Russland ist nicht nur eine Bedrohung für die Menschen in der Ukraine. Russland ist auch eine Bedrohung für Sie. Und diese Bedrohung ist langsamer und heimtückischer, denn Russlands Krieg findet bereits in Ihren Köpfen statt.
Einen Teil dieses Textes schreibe ich aus dem Bombenkeller. Heute geht die Bedrohung von Marschflugkörpern aus, die von strategischen Tu-95-Bombern abgefeuert werden. Sie sind schnell und schwer, aber dank der westlichen Waffen unserer Partner können wir sie abschießen. Trotzdem verstecken wir uns um 5 Uhr morgens in der Tiefgarage unseres eigenen Hauses, denn schon die Trümmer einer Rakete können großen Schaden anrichten. Ballistische Raketen, Hyperschallraketen und iranische Kamikaze-Drohnen fliegen auch auf unsere friedlichen Städte zu. Und als ukrainische Zivilistin, die ein paar hundert Kilometer von der Frontlinie entfernt lebt, spüre ich nur einen kleinen Teil des Krieges. Aber er ist trotzdem da. Ich kann Bilder von ihm machen und sie Ihnen zeigen, ich kann ihn beschreiben.
Doch Desinformation ist viel schwieriger.
Es geht nicht nur darum, dass es besser sei, „mit Russland befreundet zu sein“ oder dass die Ukraine „den Krieg provoziert hat“. Es geht um den systematischen Einsatz falscher Informationen durch die russische Regierung, um die öffentliche Meinung und das Verhalten zu beeinflussen. Es ist eine Art psychologischer Kriegsführung, die das Vertrauen in demokratische Institutionen untergräbt und Russlands Interessen durch Chaos fördert.
Und ich erinnere daran: Die russische Propaganda ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Wir müssen ihr entgegentreten, nicht nur um die Wahrheit zu erfahren, sondern auch um kluge demokratische Entscheidungen zu treffen.
Bei der Nichtregierungsorganisation Vox Ukraine haben wir diese Versuche seit unserer Gründung im Jahr 2015 immer wieder erlebt. Im Februar 2022 wurden sie noch schlimmer. Pro-russische Akteure in Europa begannen, die ukrainische politische Führung und das Militär zu diskreditieren, einschließlich falscher Anschuldigungen von Kriegsverbrechen. Sie versuchten auch, russische Gräueltaten und gezielte Tötungen von Zivilisten zu leugnen.
Im Mai 2022 stellte VoxCheck (die Abteilung für Faktenüberprüfung von Vox Ukraine) die erste Datenbank mit russischen Desinformationsberichten den Medien europäischer Länder vor. Die Datenbank „Propaganda Diary“ soll nun sechs Länder überwachen: Deutschland, Italien, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn.
In den eineinhalb Jahren der Beobachtung haben wir 27 russische Desinformationsgeschichten gefunden.
Und ich bin mir sicher, dass wir sie alle schon einmal gehört haben. Die beliebteste lautet: „Die Handlungen der Ukraine und des Westens haben Russland provoziert und gezwungen, einen Krieg zu beginnen“. Das hören wir seit 2014. Offensichtlich ist unser Wunsch nach Unabhängigkeit und unser Versuch, eine demokratische Regierung nach europäischem Vorbild zu haben, sehr „provokativ“.
Es gibt auch eine These über „militärische biologische Labors in der Ukraine und Drogenlabors“. Diese werden regelmäßig von russischen Propagandisten erwähnt. Angeblich sind sie einer der Gründe, warum Russland sich verteidigt, weil die „bösen USA und die NATO“ es mit ihren Labors zur Herstellung biologischer Waffen umzingeln. Tatsächlich reichen die russischen Spekulationen über amerikanische Biolabors bis in die Zeit der UdSSR zurück. Wie der amerikanische Wissenschaftler Milton Leitenberg behauptet, führte die Sowjetunion von 1949 bis 1988 eine fast ununterbrochene Informationskampagne gegen die USA, in der sie sie des Einsatzes biologischer Waffen beschuldigte. In den 1980er Jahren versuchte die Sowjetunion beispielsweise, die Welt davon zu überzeugen, dass „HIV von den Amerikanern geschaffen und absichtlich in Afrika freigesetzt wurde, um die afrikanische Bevölkerung zu vernichten“.
Ein anderes Narrativ basiert auf historischen Ereignissen. Ich bin sicher, dass Sie solche Interpretationen in Tucker Carlsons Interview mit Putin gehört haben. Natürlich haben wir es überprüft und Wladimir Putins historisches „Wissen“ hat sich als sehr dürftig und manipulativ erwiesen. Wie der Historiker Timothy Snyder sagte: „Putin brauchte ein paar Stunden, um zu sagen: ‚Ich muss die Ukraine zerstören, weil ich keine Ahnung habe, was Russland ist.'“
Russland investiert aber auch viel in Propaganda, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun hat. Viele Fälschungen beziehen sich auf die Gesundheitsversorgung oder die „Unfähigkeit“ Ihrer Länder, bestimmte medizinische Leistungen zu erbringen. Und das ist eigentlich ein cleverer Schachzug. Denn Sie verstehen vielleicht nichts von Waffen, Atomenergie oder Außenpolitik, aber Sie wissen, wenn Sie krank sind, und Sie wissen, dass sich das schlecht anfühlt.
Haben Sie schon von der Studie „Weaponized Health Communication“ gehört? Im Jahr 2018 untersuchten Forscherinnen und Forscher Twitter-Posts, die Verschwörungstheorien über Impfungen verbreiteten. Während die Leserinnen und Leser glaubten, Impfungen seien sicher und wirksam, vermittelten die Verfasserinnen und Verfasser dieser Posts einen anderen Eindruck – als gäbe es immer noch eine Debatte über Impfungen. Deshalb sei es notwendig, zu zweifeln, niemandem zu vertrauen und nach einer „alternativen Wahrheit“ zu suchen. Es stellte sich heraus, dass diese Berichte von Russland aus koordiniert wurden.
Warum tun sie das? Weil die russische Regierung vom Chaos profitiert. Die russische Propaganda zielt darauf ab, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu untergraben. Wenn wir unserer Regierung oder den Medien nicht vertrauen, sind wir weniger bereit, uns am demokratischen Prozess zu beteiligen. Das macht es leichter, Menschen zu manipulieren und Medien und Politiker zu korrumpieren.
Der beste Weg, uns zu schützen, ist, russische Nachrichten und pro-russische Experten aus der öffentlichen Informationsblase auszuschließen. Das ist keine Verletzung der Meinungsfreiheit. Ganz im Gegenteil. Es schafft Raum für neue Medien und neue Stimmen, die nicht durch russische Desinformation korrumpiert werden.
Anastasiia Ivantsova ist Analystin bei VoxCheck, dem Faktencheck-Projekt der unabhängigen analytischen Plattform „Vox Ukraine“, und M100 Alumna.
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