„Nord Stream 2 ist nicht nur eine Pipeline, sondern ein Symbol“

23. Februar 2022. Interview mit Christoph Lanz, Mitglied des M100-Beirats und Head of Board Thomson Media, über den Russlandkonflikt und die Rolle Deutschlands. Das Interview führte Vazha Tavberidze, regelmäßiger Teilnehmer des M100 Sanssouci Colloquim, für den Georgischen Dienst von Radio Free Europe und wurde leicht gekürzt. Es erschien im Original am 15. Februar anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Scholz in Moskau.

Vazha Tavberidze: Wären Deutschland und Scholz bereit, in Sachen Nordstream 2 auf die Linie Washingtons einzuschwenken?

Christoph Lanz: Wenn im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen die Ukraine etwas passiert, bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass wir Nordstream 2 nicht in Betrieb nehmen werden, das ist sicher. Wenn die deutsche Regierung anders entscheidet, wenn Putin eine neue Aggression gegen die Ukraine startet und wir Nordstream 2 nicht in Betrieb nehmen, bedeutet das, dass es ihm gelungen ist, Europa zu spalten. Nord Stream 2 ist nicht mehr nur eine Pipeline, sondern jetzt auch ein Symbol.

VT: Deutschland wurde für seine etwas zweideutige Haltung zur Ukraine kritisiert – was unterscheidet die deutsche Denkweise vom Rest des Westens?

CL: Wir haben unseren Anteil an „Putinverstehern“, wie den verrückten Altkanzler Schröder, dessen Verhalten abstoßend ist. Aber selbst wenn wir diese Putinversteher haben, sind die meisten in Deutschland für die Ukraine und ihre Souveränität. Außerdem wollen wir keinen Krieg innerhalb Europas. Das könnte übrigens unser Problem in diesem Konflikt sein. Timothy Snyder, ein amerikanischer Historiker, sagt, dass Russland immer versuchen wird, sein „Blutland“, seine Einflusssphäre, zurückzugewinnen – die Ukraine ist eines dieser Länder, und Georgien auch. Als er in Berlin war, sagte er, dass wir uns der wahren Absichten der Russen bewusst werden müssen. Und dann sagte er: „Wissen Sie, was die Frage ist? Seid ihr bereit, dafür zu kämpfen oder nicht?“ Das sind wir nicht, und genau das ist das Problem.

VT: Ist es gleichbedeutend mit der Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine, einen Krieg zu führen? Denn das ist eine Haltung, für die Deutschland viel Kritik einstecken musste. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die offizielle Erklärung Berlins darin besteht, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern – obwohl Berlin im letzten Jahr Rekordeinnahmen aus Waffenverkäufen verzeichnen konnte und Waffen an Länder wie Ägypten geliefert hat. Warum diese Doppelmoral?

CL: Ich würde sagen, dass der ukrainische Präsident zwar ein ehemaliger Komiker war, jetzt aber Präsident und Politiker ist, während die deutsche Regierung und die Politiker sich jetzt wie Komiker verhalten, indem sie Helme in die Ukraine schicken. Das ist lächerlich. Ich persönlich denke, dass wir nicht anfangen sollten, Millionen von Waffen zu schicken, aber ich denke, dass es ein gutes Zeichen der Solidarität wäre, eine begrenzte Menge zu schicken, welche Art von verteidigungsorientierten Waffen es auch sein mögen. Und ich bin nicht der einzige, der das in Deutschland sagt. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung sieht das genauso.

VT: Die einzige diplomatische Lösung, die Russland zu favorisieren scheint – und mit der Berlin und Paris wahrscheinlich zufrieden wären – macht Kiew sehr unglücklich. Die Minsker Vereinbarungen und die darin enthaltene Steinmeier-Formel lassen die Ukraine befürchten, dass sie zu einer Föderalisierung und einem De-facto-Veto gegen den Westkurs des Landes führen werden. Sind die Befürchtungen Kiews berechtigt?

CL: Ich will keine Verschwörungstheorien aufstellen, aber man darf nicht vergessen, dass Steinmeier ein sehr enger Verbündeter von Gerhard Schröder war. Er war in Schroders Amtszeit sechs Jahre lang Stabschef des Kanzleramtes. Und er gehört zu den „alten Hasen“ unter den Sozialdemokraten. Ich glaube nicht, dass er sich an unsere Ethik und unsere Prinzipien gehalten hat, als er einen solchen Vorschlag machte. Ich würde also sagen, die Ängste in Kiew sind berechtigt. Ich kann wirklich verstehen, dass die Menschen in der Ukraine heute über Deutschland verärgert sind. Ich habe mich mit einer ukrainischen Freundin getroffen, und als es an der Zeit war, mich von ihr zu verabschieden, habe ich gesagt, dass ich mich für das Verhalten der deutschen Regierung sehr schäme. Ich entschuldigte mich und sagte, dass ich ihrem Land alles Gute wünschte. Und es war nicht leicht für mich. Aber das ist alles, was man sagen kann.

VT: Und schließlich – was halten Sie von der Auseinandersetzung zwischen RT und der Deutschen Welle, die der Kreml anscheinend allzu schießwütig angeht?

CL: Der Konflikt um die Deutsche Welle und Russia Today ist ein weiterer Stein im Mosaik der Spannungen zwischen Deutschland und Russland. Das ist wirklich eine harte, asymmetrische Reaktion – nach einem kleinen Zwischenfall große Geschütze aufzufahren. Ich sehe das als reine Provokation, aber was soll unsere Antwort sein? Sollen wir die russischen Journalisten deswegen rausschmeißen? Ich glaube nicht, dass das klug wäre. Unsere Politik besteht darin, dass wir im Gegensatz zu Russland wirklich eine unabhängige Presse haben. Und wir respektieren die Meinungsfreiheit wirklich, vielleicht manchmal sogar zu sehr. Wir sollten die Deutsche Welle zurückfordern, denn sie hatte – im Gegensatz zu Russia Today – eine laufende Lizenz, und der russische Staat hat sie einfach weggenommen. Aber in eineinhalb, zwei Jahren wird die Deutsche Welle wieder ein Büro in Moskau eröffnen.