„Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, wir müssen für sie kämpfen“

Zusammenfassung des Special Talk „The Totalitarian Temptation“

14. Oktober 2021. Am 6. Oktober 2021 diskutierten Saad Mohseni (afghanisch-australischer Medienunternehmer und Mitbegründer und Vorsitzender der MOBY Group), Dr. Claudia Major (Leiterin der Abteilung Internationale Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP), und Dr. Can Dündar (türkischer Top-Journalist und Chefredakteur von Özgurüz) im Rahmen des M100 Sanssouci Colloquiums über Zustand und Zukunft der Demokratie. Moderiert von dem internationalen TV-Moderator Ali Aslan, analysierte das Panel insbesondere den Aufstieg totalitärer Regime und die Fehler, die westliche Regierungen im Umgang mit Afghanistan, der Türkei, dem Nahen Osten und auch Afrika und China in ihren Versuchen des Demokratie-Exports gemacht haben.

Saad Mohseni hat 2002 mit der Moby Group das erste private, unabhängige Medienunternehmen im Post-Taliban-Afghanistan aufgebaut, in dem auch Frauen als Journalistinnen und Moderatorinnen arbeiten. Damit hat er fast 20 Jahre lang die Entwicklung des Landes zu einer Demokratie mitgestaltet und nun die Erosion des Fortschritts durch die Taliban aus nächster Nähe erlebt. Ende Juli war er das letzte Mal in Afghanistan.

Mohseni, dessen Sender mit seinen 400 MitarbeiterInnen noch immer in Afghanistan aktiv ist, betonte, dass die letzten Jahre angesichts der jetzigen Situation nicht umsonst gewesen seien. Im Unterschied zu Mitte der 1990er Jahre, als die Taliban schon einmal Afghanistan regierten, würden jetzt Frauen auf den Straßen für ihre Rechte demonstrieren, zivilgesellschaftliche Akteure würden Kampagnen für die Bildung von Mädchen anstoßen und die Taliban müssten im Fernsehen mit Frauen und der Zivilgesellschaft diskutieren. Das sei vor 20, 30 Jahren undenkbar gewesen und habe natürlich etwas mit dem Bildungssystem zu tun, das auch Mädchen Zugang zu Schulen und Universitäten ermöglicht hat.
Doch eine Erosion der Demokratie sieht man nicht nur in Afghanistan, sondern auch in gebildeten westlichen Gesellschaften weltweit, und auch in Europa, wo sich nicht zuletzt in Polen und Ungarn illiberale Demokratien durchgesetzt haben.

Can Dündar, der seit 2016 im Exil in Berlin lebt und von hier aus seine unabhängige deutsch-türkische Nachrichtenplattform Özgürüz (Wir sind frei) betreibt, wies auf die Fehler hin, die die USA und europäische Länder in den letzten 40 Jahren im Umgang mit dem Nahen Osten gemacht haben. Dabei sei der erste Fehler der Amerikaner gewesen, dass sie den Islam gegen den Kommunismus benutzt und die Islamisten unterstützt haben, was zur Gründung von Al-Qaida führte. Der zweite Fehler sei der Versuch gewesen, anstelle des radikalen Islams einen moderaten Islam installieren zu wollen und zum Beispiel den türkischen Präsidenten Erdogan und andere Führungsleute zu unterstützen. Allerdings hätten sie sich keine Gedanken darüber gemacht, die liberalen oder säkulären Kräfte in diesen Ländern zu fördern. Und als 2015 die Flüchtlingskrise kam, hatte Europa keine andere Wahl, als Erdogan zu bezahlen, um den Flüchtlingsstrom nach Europa zu stoppen. Wenn es um die politischen Interessen der westeuropäischen Länder und der USA geht, seien sie bereit, demokratische Prinzipien zu opfern. Dies schwäche die Demokratie insgesamt.

Claudia Major ergänzte, dass Deutschland sich nach dem Ende des Kalten Krieges auf der guten Seite der Geschichte gewähnt habe, man habe ja gegen die Sowjetunion gewonnen, was zeige, dass die liberale Welt gewinnt. Daraus erwuchs der Trugschluss, dass, wenn wir mit anderen Ländern, die kein demokratisches System haben, nur eng genug zusammenarbeiten, würden sie dadurch ein liberales und wirtschaftlich freiheitliches Land. Das hat allerdings nicht funktioniert, wie wir heute sehen. Der Weckruf sei die Annektierung der Krim 2014 und der Krieg in Donbass gewesen, und der Alarmruf in Bezug auf China fand vor kurzem statt, so Major. Der Ansatz dieser Außenpolitik habe sich ganz klar als falsch erwiesen. Was zur Wiedervereinigung von Deutschland geführt hat, habe weltweit nicht funktioniert, und diese Einsicht sei eine frustrierende Lektion und schwer zu verdauen.

Saad Mohseni sagte, dass „viele Werte, die uns so wichtig sind, international anerkannt sind, universelle Werte wie Meinungsfreiheit, Redefreiheit. Das sind nicht nur westliche Freiheiten.“ Die Lehren aus Afghanistan seien, dass es Zeit braucht und dass man vor allem eine gebildete gesellschaftliche Schicht braucht, eine Zivilgesellschaft, in der Frauenrechte und Rede- und Meinungsfreiheit herrschen. Gleichzeitig sei es natürlich so, dass die Unterstützer dieses demokratischen Prozesses nicht gleichzeitig diejenigen sein sollten, die korrupte Politiker befördern. Can Dündar ergänzte, dass Deutschland, das durch viel Unterstützung und Zeit ein demokratisches Land werden konnte, auch demokratische Kräfte und Länder weltweit unterstützen sollte. „Ihr könnt nicht einfach die Tür schließen“, sagte er, Totalitarismus und Autoritarismus sei „wie Luftverschmutzung, sie macht nicht an den Grenzen halt.“

Auch die zentrale demokratiepolitische Rolle der Medien wurde von den Panelisten diskutiert. In der Türkei, so Can Dündar, werden fast alle Medieneinrichtungen von der Regierung kontrolliert und seien reine Propagandamaschinen. Deshalb versuchen er und sein Team, die Menschen in der Türkei aus der Ferne zu erreichen, was unter den Umständen nicht gerade leicht sei. Man ist weit weg von den Reportern vor Ort und von den Quellen, die zudem extrem vorsichtig sein müssen, und natürlich sei auch die Finanzierung ein Problem.
Die sozialen Netzwerke spielten laut den Diskutanten ebenfalls eine große Rolle. Einerseits seien sie hilfreich und oftmals unabdingbar, um LeserInnen, ZuschauerInnen, Zielgruppen zu erreichen. Andererseits werden über sie massenhaft unkontrolliert Fake-News verbreitet, es gibt undurchsichtige Algorithmen, viel Sensationalismus, Aufgeregtheit, Rassismus, Sexismus und Gewalt, was zu weiteren Spaltungen innerhalb der Gesellschaft führe.

Dennoch spiele der Zugang zu Medien in Demokratisierungsprozessen eine zentrale Rolle – und Bildung. Er hoffe, dass sein Land eines Tages – vielleicht schon in zehn Jahren – da steht, wo Deutschland heute steht, sagte er. Aktuell haben ein Drittel der Afghanen Zugang zu Smartphones, eines Tages werden es vielleicht 80 % oder 90 % sein. Das und der Zugang zu Bildung trage dazu bei, dass Menschen differenzieren können, und deshalb müssen die Kinder „in der Schule und zu Hause die Fähigkeit erwerben, verschiedene Ansichten und Meinungen zu lesen und zu hören und sich nicht in einer Echokammer, einer Blase zu bewegen.“

Claudia Major wies darauf hin, dass nach der Annektierung der Krim 2014 und der aggressiven russischen Außenpolitik in den baltischen Ländern insbesondere der Journalismus gefördert und Journalisten unterstützt werden sollten, um Falschnachrichten aus Russland etwas entgegensetzen zu können. Um Medien zu analysieren und besser interpretieren zu können und eine stärkere Resilienz gegenüber Fake-News zu entwickeln. Deshalb müsse man überall in den Journalismus investieren, vor allem dort, wo es schwierig für ihn sei. Und man müsse auch die Bevölkerung darin ausbilden, guten Journalismus zu erkennen.

Etwas, das in diesem Zusammenhang häufig übersehen werde, so Major weiter, sei der Einfluss von Think Tanks und der Wissenschaft von außerhalb. So werde von einigen Seiten versucht, den wissenschaftlichen Diskurs zu beeinflussen, indem man Wissenschaftler bedroht oder versucht, den Diskurs in bestimmten Themengebieten wie zum Beispiel bei der Pandemie oder dem Ursprung der Pandemie zu bestimmen. Deshalb sei es wichtig, auch die wissenschaftliche, die akademische Freiheit zu verteidigen. „Wir sollten wissen, wer welchen Stuhl, welche Denkfabrik finanziert, weil die Freiheit des Denkens genauso wichtig ist wie die Presse- und Meinungsfreiheit.“

Hinsichtlich der in vielen Ländern zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung in der Gesellschaft teilte Claudia Major den Eindruck, „dass wir in den letzten Jahren realisiert haben, dass die Demokratie eine kritische Infrastruktur ist, die wir genau wie unsere Energiesysteme schützen müssen“. Ob Medien oder Bildung, wir müssten uns „dagegenstellen, dass unsere öffentliche Meinung und Forschung von anderen Ländern unterlaufen werden, wir müssen ein Screening durchführen, nicht nur, was russischen und chinesischen Einfluss in der Volkswirtschaft angeht, sondern auch in der Medienlandschaft. Ich denke, es gibt einen Bewusstseinsprozess.“

Trotz des derzeitigen Zustands der Demokratie zeigte sich Can Dündar in Bezug auf die Zukunft optimistisch. Wir alle hätten viel von der Pandemie gelernt und er habe den Eindruck, dass sich in vielen Gesellschaften gerade wieder soziale Tendenzen verstärken, sei es in den USA oder in Deutschland. Wichtig sei, dass Bildung und Medien weiter gestärkt und unterstützt werden. Was sein Heimatland betrifft, ist Dündar zuversichtlich, „dass wir bald ein Ende dieser dunklen Zeitperiode haben.“ Denn auch in der Türkei sei sichtbar, dass Politik und Islamismus nicht zusammenleben können; Religion muss von der Politik getrennt werden. Die Oppositionsallianz werde mächtiger, und seine Hoffnung ist groß, dass bei den nächsten Wahlen in der Türkei eine demokratische Allianz gewinnt.

Saad Mohseni wies darauf hin, dass das, was in Afghanistan passiert, nicht in Afghanistan bleiben wird. Das diktatorische Regime werde Millionen von Menschen dazu zwingen, das Land zu verlassen. „Afghanistan ist zwei Länder weg von Europa: Iran, Türkei und dann kommt schon Europa. Und wenn die EuropäerInnen sich wirklich Gedanken und Sorgen machen um Afghanistan, müssen sie sich darum kümmern, was in Afghanistan passiert“, sagte er. Er riet dazu, sich mit den Taliban zusammenzusetzen und sich in der Region zu engagieren. Was nicht bedeutet, die Taliban anzuerkennen. Aber man müsse sich mit dem Regime auseinandersetzen, denn sonst werde es Hunger, Massensäuberungen und eine noch größere Armut geben. „90% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Es liegen schwierige Zeiten vor dem Land, die Welt muss aktiv werden.“ Es sei Zeit, dass Deutschland, insbesondere in Afghanistan und der Türkei, eine Führungsrolle übernehme. „Denn alles, was in Afghanistan passiert, bleibt nicht notwendigerweise im Land. Es wird Auswirkungen auf Deutschland, die Türkei und auf andere Länder haben.

Die Demokratie, so der einhellige Tenor, ist fragil, mit einer kritischen Infrastruktur, die wir genau wie unsere Energiesysteme schützen müssen. Und sie ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen dafür kämpfen.