Andrej Dynko: Tagebuch aus einem Minsker Gefängnis

28. November 2021. 13 Tage war Andrej Dynko, von 2000 bis 2020 Chefredakteur der belarussischen Zeitung Nasha Niwa, im Juli in Haft. Mehr als 36.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Belarus aus politischen Gründen verhaftet. Kurz nach seiner Freilassung hat der 47-Jährige, der 2017 Teilnehmer des M100 Sanssouci Colloquiums war, einen erschütternden Text über seine Tage in einem Minsker Gefängnis niedergeschrieben. Gegen Dynko wird weiter strafrechtlich ermittelt und er darf das Land nicht verlassen, „aber ich bin froh, dass ich wenigstens mit meinen Kindern zusammen bin“, hat er uns in einer Email geschrieben. Und er bittet uns: „Sprechen Sie über Belarus, bringen Sie das Thema Belarus zur Sprache, wann immer es sinnvoll ist, und lassen Sie uns hoffen, dass ein starkes, geeintes Europa mit Rechtsstaatlichkeit der Pol sein wird, der schließlich auch mein Land verändern wird.“
Andrejs Kollegen, die Nascha-Niwa-Redakteure Jegor Martinowitsch und Andrej Skurko, sitzen weiter im Minsker Wolodarka-Gefängnis.

Andrejs aufrüttelnden Bericht lesen Sie hier:

Mein Kopf liegt auf einer Plastikflasche – Gefängnistagebuch

Ich werde durch einen Betonkorridor gezerrt: grauer Boden, die Unterseiten der Wände sind mit glänzender Ölfarbe in einem schmuddeligen Türkis gestrichen. Ich kann nichts anderes sehen: Ich werde nicht geführt, sondern geschleift, mein linker Arm ist verdreht, mein Kopf wird nach unten gedrückt, mir wurde befohlen, meine rechte Hand hinter meinem Rücken zu halten, sie umklammert immer noch die Plastiktüte mit ein paar Habseligkeiten, sie baumelt an meinem Hintern – das ist alles, was mir von der Welt geblieben ist, in der ich bis vor zwölf Stunden ein 47 Jahre alter Vater von drei Kindern und Redakteur der beliebtesten Zeitschrift in belarussischer Sprache war.
„An die Wand! Hände auf den Rücken!“ Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. „Ab in die Zelle, Kämpfer!“ Die Zelle empfängt mich mit dem fauligen, stickigen, konzentrierten Geruch von Pisse und Scheiße, in den man eintaucht wie in das Wasser seines neuen Lebens.

Weißes Licht

Ein blendendes, helles, weißes Licht fällt von zwei Lampen an der Seite sowie von der Lampe an der Decke. Ich schaue mich um, geblendet von der Halbdunkelheit des Ganges. Zweistöckige Etagenbetten, keine Matratzen, keine Kissen, nur nackte Bretter. Zwischen den Etagenbetten stolpert ein dürrer, dunkelhäutiger Junge von etwa 25 Jahren hervor, nackt bis zur Hüfte, stoppelig. „Jahor ist mein Name! Ich bin ein Terrorist“. Er reicht mir die Hand und zeigt mir im selben Moment seinen Haftbefehl. „Ich habe Glück, sie haben mich mit einem Politischen zusammengesteckt“, sage ich zu mir selbst. Es sind nicht so sehr seine Papiere, die mir das sagen – ich war darauf vorbereitet, gleich mit einem Spitzel oder einem Agent provocateur in Verbindung gebracht zu werden –, sondern das Aussehen des Jungen, seine intelligente Stimme und das offene Gesicht eines unverdorbenen Mannes, der in gewisser Weise an den Schauspieler Tom Cruise aus ‚Top Gun‘ erinnert. „Und ich bin der Herausgeber von Naša Historyja und Naša Niva. Kennen Sie die Zeitung?“
„Naša Niva! Unglaublich, dass man solche Leute ins Gefängnis steckt!“

Der Junge war sichtlich erfreut über seinen neuen Mitgefangenen.

Als erstes bot er mir etwas Brot an. Auf dem kahlen, schmutzig braunen Tisch lag ein kleiner Berg ganzer und teilweise zerkauter Brotscheiben inmitten von Brotkrümeln. Allein bei dem Gedanken, ein solches Brot zu essen, wird mir mulmig. Der Gestank, der von der nie oder nur selten geputzten Toilette hier in der Ecke ausgeht, ist mir noch sehr bewusst. Meine Nase hat sich noch nicht daran gewöhnt.

Ich ziehe die Reste einer Tafel Schokolade aus der Plastiktüte. Als ich heute unter den tränenreichen Blicken der Nachbarn aus dem Haus geführt wurde, drückte mir meine Frau eine Tafel Schokolade und ein Bonbon in die Hand. Das habe ich im Auto mit dem Konvoi des Dezernats für organisierte Kriminalität zum Abendbrot gegessen. „Nimm die Hälfte!“ Jahor konnte sich nicht zurückhalten, er stürzte sich förmlich auf die Schokolade, brach aber nur eines der restlichen fünf Quadrate ab. „Nein, nein, nein, der Rest ist für dich.“ Hastig kaut er sein Stück Schokolade und bietet mir seine Koje an, denn „da kommt nicht so viel Licht hin“. Was soll das heißen, machen die nachts nicht das Licht aus? In den Zellen, in denen es nur Kriminelle gibt, schon, aber in den Zellen, in denen auch nur ein einziger Politischer unter den anderen Insassen ist, machen sie es nie. Das hat Jahor von Straftätern erfahren, mit denen er in einer Zelle war. Sie schalten das Licht nicht aus, und sie geben einem keine Matratzen oder Bettzeug.

Du bekommst bis zu 20 Jahre

„Was glaubst du, was mit mir passieren wird?“, fragt er mich immer wieder. „Werden sie mich gehen lassen? Ich habe nichts getan. Ich war nur in einem Telegram-Chat-Kanal angemeldet. Der Ermittler sagt: „Sie werden bis zu 20 Jahre bekommen.“

Ich versuche, ihm so gut ich kann die Logik des Systems zu erklären. Ich denke, man muss realistisch sein und alle möglichen Varianten in Betracht ziehen, einschließlich der schlimmsten – dass sie dich nie rauslassen. Bei Jahor ist das anders: Ihn lässt der Gedanke nicht los, dass sie ihn bald freilassen werden. Stundenlang versucht er herauszufinden, wann es soweit sein wird. Es wird am Dienstag oder am Montag sein. Er ist 32, aber immer noch feucht hinter den Ohren, er ist zum ersten Mal in seinem Leben im Gefängnis. Er sieht jünger aus als er ist, dieser Elektriker aus dem Euroopt-Supermarkt, der einen Universitätsabschluss hat, die ihm aber keine seiner Qualifikation entsprechende Stelle verschafft hat, dürr und grimmig. Aus den Fragen, die ihm der Ermittler stellte, schloss er, dass er verhaftet wurde, weil er an einer Universität in Polen studiert hatte. „Deshalb haben sie mich verhaftet! Sie können unmöglich alle 5000 Leute verhaften, die diesen Chat abonniert haben.“ Er ist immer noch auf der Suche nach einer Logik.

Dieser „Terrorist“ aus der Elektrobranche ist blauäugig und naiv.

„Ich hatte den Job gerade erst bekommen! Einen guten sogar, man kann mit eineinhalb Schichten 500 Euro im Monat verdienen. Glaubst du, sie werden mich feuern?“ Jahor ist nervös. „Es ist nicht sicher, dass sie dich feuern werden.“ Ich versuche, ihn zu beruhigen. „Clevere Leute finden einen Weg, diese Probleme zu umgehen, sie werden dich von einer Abteilung in eine andere versetzen. Es gibt jetzt überall eine große Solidarität.“ Und das ist die Wahrheit, das habe ich mir nicht ausgedacht.

Eine polnische Ein-Groschen-Münze

„Schau, was ich gefunden habe: eine polnische Ein-Groschen-Münze. Wenn wir sie schärfen, können wir sie wie ein Messer zum Schneiden benutzen“. Er hält mir die Münze hin. Ich reiße meine Hand weg, und die Münze fällt auf den Boden. „Was ist los, denkst du, ich will dich reinlegen?“ Jahor ist überrascht.
Ich sage nichts.

Sie können, Jahor, sie können 5000 verhaften, wenn sie wollen.

Ich versuche ihm zu erklären, dass sie ihn und Dutzende von „Terroristen“ wie ihn theoretisch freilassen müssten, dass Massenverhaftungen in Fällen wie dem seinen dazu dienen, die Menschen zu verängstigen und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, Geld und Hardware von Aktivisten zu beschlagnahmen. „Sie werden auch Sie freilassen, Sie werden sehen“, versucht Jahor, mich zu überzeugen.

„Mein Fall ist anders“, sage ich ihm. „Sie haben uns auch entführt, um die Leute zu verängstigen, aber in diesem Fall, um die Journalisten zu verängstigen, die noch nicht ins Ausland gegangen sind, um sie in Panik zu versetzen und damit sie fliehen. Und meine Kollegen und ich sind auch Geiseln, die sie brauchen, um mit dem Westen zu tauschen.“ Europa führt Sanktionen als Reaktion auf die Unterdrückung in Belarus ein. Die Antwort des Regimes ist die Verhaftung weiterer Aktivisten und die Schließung unabhängiger Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Und so geht es weiter, die Spirale dreht sich immer weiter.

Schlafen Sie jetzt

Die Nationalhymne wurde gespielt, ein Zeichen, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen. Wir wälzen uns auf den nackten Brettern hin und her und versuchen, einzuschlafen. Er schafft es, aber ich kann es nicht. Ich drehe mich nun schon seit zwei Stunden von einer Seite auf die andere. Ich bin es nicht gewohnt, auf blanken Brettern zu schlafen, sie schneiden mir in die Rippen. Der Computer meines Gehirns spielt fieberhaft die Ereignisse des heutigen Tages und des ganzen Jahres durch: Maskierte Menschen rennen auf mein Haus zu, meine Finger zittern, ich treffe nicht die richtigen Tasten, wenn ich versuche, eine Nachricht an meine Kollegen zu schreiben, die Maskierten stehen schon vor der Tür. Wie hättest du dich davor retten können? Warum bist du nicht gegangen, du Idiot? Warum hast du in diesem Land, in dem Journalismus nicht mehr möglich ist, weiter Journalismus betrieben? Was macht deine Frau jetzt durch? Die Kinder? Mama? Was wird passieren?

Ein metallisches Klappern ertönt auf dem Gang, ein Geräusch von Gummi, das auf dem Betonboden schlurft, die eiserne Zellentür öffnet sich mit einem Klirren. Zwei Gestalten purzeln in die Zelle. Einer von ihnen trägt eine zerrissene, schmutzige Jeans und ein ungewaschenes T-Shirt; er hat blaue Flecken unter den Augen. Der andere ist dünn wie eine Harke, trägt ein alles andere als sauberes orangefarbenes T-Shirt und lange, schmierige Shorts, die einmal blau mit winzigen grünen Punkten waren. Die Gestalten strecken uns ihre Hände entgegen; ich schlage die Fäuste gegen sie. Es ist sofort klar, dass sie keine Politischen sind.

„Was zum Teufel? Wo sind die Matratzen? Was ist das denn, Kumpels, ihr schlaft einfach ohne Matratzen? Wo ist der verdammte verantwortliche Offizier?“ Er begann mit aller Kraft gegen die Tür zu hämmern. „He, bist du da draußen, wofür steckst du mich in eine Strafzelle?“ Der Krach dauert eine Weile. Der diensthabende Beamte ruft zurück, dass die Matratzen zum Desinfizieren gegangen seien und er nicht wisse, wann sie zurückkämen. Ich höre das letzte Wort dieses jüngeren Offiziers, der sich über ihn lustig macht, mit gedehnter letzter Silbe: „Schlafen Sue jetzt!“.

In einem Gefängnis darf man seine Fäuste nicht benutzen

Diejenigen, die gerade hereingebracht wurden, greifen nach dem Brot auf dem Tisch und fangen an zu mampfen, denn sie wurden den ganzen Tag in einem Polizeirevier festgehalten, ohne etwas zu essen zu bekommen. Ich hole die Schokolade heraus und gebe jedem von ihnen ein Stück. Für einen Moment strahlen ihre Gesichter. Ich weiß nicht, wie ich mich vor den Gewohnheitsverbrechern verhalten soll, ich beobachte sie aufmerksam, stapfe von einer Ecke zur anderen in der Zelle, wie ein Tier im Zoo. Jahor kennt die beiden bereits, er hat früher einige Zeit mit ihnen in derselben Zelle verbracht. Ich beobachte Jahor genau. Er behandelt die neuen Häftlinge und spricht einfach und ruhig mit ihnen, als wären sie ganz normale Menschen – Nachbarn von ihm oder Kommilitonen an der Uni. Als einer der beiden seine schmutzige Maske von der oberen Pritsche fallen lässt, hebt Jahor sie auf und reicht sie ihm, so wie er einer Frau im Bus die Fahrkarte zurückgeben würde, wenn sie sie auf den Boden fallen lässt. Und der Verbrecher bedankt sich mit fester Stimme, so wie sich die Frau für die Fahrkarte bedankt hätte.
Dies ist eine der kleinen Zellen; in den Gefängnissen in der Akreścina- und der Valadarka-Straße gibt es Zellen, die bis zu 25 Personen fassen – oder bis zu 16 in einer Zelle, die für vier Personen vorgesehen ist. So halten sie Politische fest, die wegen einer Ordnungswidrigkeit zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind. Sie „erziehen“ die Menschen um, indem sie ihnen in der stickigen Atmosphäre das Atmen schwer machen.

Es scheint, als hätten sich die Kriminellen bereits daran gewöhnt, hier und da zusammen mit Politischen inhaftiert zu sein; sie akzeptieren diese Form des Zusammenlebens als neue Norm. In der Regel ist es im Gefängnis wie auf einer kleinen Insel, wo man Tiere findet, die sich vor einer Überschwemmung retten – Wölfe, Hasen, Füchse, Hamster und Bären, die alle zusammen geduldig darauf warten, dass das Wasser zurückgeht, und niemand beißt oder frisst jemanden. Vielleicht ist das nur so lange der Fall, bis der Hunger ein kritisches Niveau erreicht, ich weiß es nicht. Einige der Kriminellen sind überrascht, dass ich Weißrussisch spreche und die Angewohnheit habe, sie höflich anzusprechen. „Ihr solltet euch an die neue Autorität gewöhnen“, scherze ich. Es sind alles Kleinkriminelle: Diebe, Alkoholiker, kleine Gauner – nicht gerade die Crème de la Crème der kriminellen Welt. Sie erzählen mir, wie es ist, in diesem oder jenem Gefängnis zu sitzen, wie die verschiedenen Abläufe und Vorschriften sind. Dass es in einer Haftanstalt nie Streit gibt: „In einem Gefängnis darf man seine Fäuste nicht benutzen.“ Aber sobald man in einem Arbeitslager ist, kommt es häufig zu Schlägereien.

Neben den Politischen fangen auch die Kriminellen an, ernsthaft über „etwas“ nachzudenken und darüber, „als Mensch bezeichnet zu werden“.1

Gebrauchte Streichhölzer und ein Brief an Alexijewitsch

Die Kriminellen sind sich des schlimmsten Aspekts unseres Strafvollzugssystems ebenso bewusst wie wir, die Politischen. Das wurde von Leo Tolstoi in seinem Roman „Auferstehung“ gut beschrieben und hat in dieser „Untersuchungshaftanstalt“ eine Perfektion erreicht, die die Insassen in den Wahnsinn treibt: das erzwungene Nichtstun, diese Unfähigkeit, sich mit irgendetwas zu beschäftigen. In den Zellen mit den Politischen ist es verboten, Zeitungen oder Bücher zu haben, und – unter eklatanter Missachtung aller Normen – dürfen wir nicht einmal Kugelschreiber oder Bleistifte haben. Mein größter Schatz sind zwei gebrauchte Streichhölzer, die ich in einer Ecke gefunden habe. Ich habe sie benutzt, um einen kurzen Brief an die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf die Rückseite meines Haftbefehls zu kritzeln.

„Chef, geben Sie mir eine Zeitung, egal welche“ – das ist die bescheidene, demütigende Bitte, die jeder, der einen Gefängnisflur entlanggeht, aus der winzigen Luke in der Tür hören kann, durch die das Essen gereicht wird. Es ist ein kleiner Dieb, der diese Bitte äußert – er ist ein Bauarbeiter aus einem armen Viertel. Als Antwort erhält er nur ein steinernes, verlogenes „Das ist nicht erlaubt“. Der Dieb träumt davon, ins Gefängnis von Valadarka verlegt zu werden: „Dort gibt es in jeder Zelle Bücher, und man kann in der Bibliothek weitere Bücher bestellen.“ Der Lesehunger ist ein so einfacher Akt des Strebens nach Kultur. „Das ist nicht erlaubt!“

Meine Mitgefangenen stellen mir Fragen, ich beantworte sie, das Ganze entwickelt sich zu Vorträgen über die Geschichte von Belarus und Europa. Das gibt dem Leben einen Sinn, es holt mich aus der Betäubung, die der chronische Schlafmangel mit sich bringt. Und ich beginne, die unglücklichen Individuen im Inneren dieser Gewohnheitsverbrecher zu erkennen; die meisten von ihnen sind alkohol- und drogenabhängig, sie haben seit ihrer Kindheit in einem Umfeld gelebt, in dem Diebstahl und Betrug nicht als etwas Abnormales angesehen wurden. Ich beginne, in ihnen einen Widerstand gegen die Entmenschlichung zu sehen.

In dieser „Untersuchungshaftanstalt“ gibt es nichts, was den Menschen helfen würde, sich zu ändern, das Beste in sich selbst zu entwickeln, einen Weg nach vorne zu sehen. Nein, dieser Ort hat nur ein Ziel – so unerträgliche Bedingungen zu schaffen, dass sich niemand mehr hier wiederfinden möchte. Aber das funktioniert nicht. Belarus ist in Europa der Spitzenreiter in Bezug auf die Anzahl der Gefangenen pro Kopf der Bevölkerung. Das ist wahrscheinlich das Einzige, in dem Belarus führend ist.

Das gibt es nicht einmal in einer Strafzelle

Die meisten der Unglücklichen, mit denen mich das Schicksal in Kontakt gebracht hat, leben nur für den Tag. Morgen werden sie die Qualen des gestrigen Tages vergessen und an ihren Anteil am Vergnügen für diesen einen Tag denken – billigen Schnaps oder einen Drogenrausch. Das kostet natürlich Geld. Und so ziehen sie wieder ihre Kreise in der Hölle, die aus ihnen – für eine Stunde oder für immer – einen „Nicht-mehr-Menschen“ macht, ein Wesen, das nur noch ein vegetatives Dasein führt, das gerade so viel zu essen bekommt, dass es nicht verhungert, das gerade so viel Sauerstoff durch die Essensluke bekommt, dass es nicht erstickt, das gerade so viel graues Klopapier zur Verfügung hat, dass es sich nicht mit der bloßen Hand den Hintern abwischen muss.

Alle Errungenschaften der europäischen Kultur liegen nun unerreichbar weit weg. Seine Menschenwürde zu bewahren, bedeutet hier, die elementarsten Normen der Hygiene und Gesundheit zu bewahren. Als Politischer wird das Leben hier zu einem täglichen Kampf, sich nicht in ein Tier verwandeln zu lassen.

Es gibt eine Lebensweisheit, die ich von den Kriminellen übernommen habe: Man kann auf einer Plastikflasche mit Wasser schlafen. Am besten füllt man sie nicht ganz voll, dann ist sie weich und schneidet nicht in den Kopf.

Manchmal gibt es kurze Momente der Barmherzigkeit, die in den Menschen des Systems aufblitzen – in den leitenden Beamten, in den Wärterinnen und Krankenschwestern, aber das System und seine Anweisungen funktionieren so, dass der Einzelne sich als rechtloses Tier sieht, das nur davon träumt, dass ihm sein Stück Brot nicht weggenommen wird und dass es einen Ort gibt, an dem man seinen Kopf irgendwie ablegen kann. Denn nicht einmal das wird man in einer Strafzelle bekommen.

Wenn dies ein Mensch ist…

Das System funktioniert durch winzige Details. In einer der Zellen spült die Toilette nicht. (Das Wort „Toilette“ bedeutet hier ein Loch im Boden mit einer Rille davor.) Man hat nur eine Wasserflasche, aus der man trinken muss und auf der man schläft, und jetzt muss man damit auch noch das Klo nachspülen. In jeder Zelle gibt es Klobürsten, aber die sind alle bis auf den Stock abgenutzt, und es ist sehr schwierig, die Reste deiner Kacke in einen Zustand zu bringen, in dem du sie mit dem Wasser aus deiner Flasche wegspülen kannst. Es gibt Zellen, in denen das einzige Klo ein Eimer ist, und es sind etwa 15 Leute in der Zelle eingesperrt. Ich kenne eine hervorragende Schülerin, die wegen einiger unbedachter Äußerungen auf dem Abschlussball 15 Tage eingesperrt wurde. Sie war nicht in der Lage, ihre Scham zu überwinden und den Eimer vor allen anderen in der Zelle zu benutzen. Sie wurde mit einem Darmverschluss aus dem Gefängnis entlassen.

Eine andere Zelle. Hier ist die Toilette mit dicken Metallplatten eingezäunt. Der untere Teil dieser Bleche ist durch das Wasser und die Urinspritzer völlig verrostet, aber das Wichtigste ist die schwere Metalltür mit drei Scharnieren: Sie gibt einen heulenden Schrei von sich wie der Wind in Jakutien, der einen durchschneidet, wenn man sie öffnet oder schließt. Wenn man bedenkt, dass 16 Personen in der Zelle sind, gibt es bestimmt jemanden, der nachts aufs Klo muss, und dann werden alle anderen – auch die in den angrenzenden Zellen – von diesem unheilvollen Geschrei geweckt. Du beginnst einen verzweifelten Kampf um dein letztes bisschen Komfort. Du versuchst, den Winkel der Tür zu berechnen, bevor das Geschrei losgeht und triffst eine Art Vereinbarung mit deinen Mitinsassen, die Tür nicht ganz zu öffnen oder zu schließen, sondern sie nur von Punkt x nach Punkt y zu bewegen. Natürlich halten sich nicht alle an die Vereinbarung; in der Zelle gibt es zwangsläufig einen Landstreicher, der auf einem anderen Planeten lebt, und einen Gefangenen, der vor lauter Angst, niemals aus dieser „anderen Welt“ herauszukommen, völlig verzweifelt ist und deshalb das für alle anderen so unerträgliche Geschrei nicht hört.

In einer anderen Zelle – die Politischen in der „Untersuchungshaftanstalt“ werden ständig von einer Zelle in die andere verlegt; das verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit und Entwurzelung, man hat keine Zeit, Freundschaften zu schließen oder anderen Menschen näher zu kommen – gibt es keinen Mülleimer, überall liegen Müllberge herum. Dreimal bettelt man unterwürfig durch die Türluke um einen Mülleimer oder eine Plastiktüte, und der Beamte schreit zurück, dass es keine gibt. Am nächsten Morgen kommt derselbe Beamte, der dich angeschrien hat, um die Zelle zu inspizieren, und regt sich wütend über den Müll auf, den du fein säuberlich in eine Ecke gefegt hast: „Bist du verrückt, oder was? Räumt sofort den verdammten Dreck weg!“ „Aber es gibt keinen Mülleimer“, jammerst du gedemütigt. „Was schert mich das?“, knurrt er durch die Zähne, in einem Tonfall, der in jahrelanger Übung geschärft wurde.

Die ganze Zeit über muss ich an das Buch „Wenn dies ein Mensch“ ist von Primo Levi denken. Er hat Auschwitz überlebt. Sie nehmen dir alles weg – Freiheit, materiellen Besitz, Zeit. Aber die ersten, die ihre Menschlichkeit verlieren, sind die Henker, nicht die Opfer.

Toilettenseife

In den Zellen findet man oft Besen, aber ich habe noch nie eine Kehrschaufel gesehen. Beim Fegen muss man den ganzen Dreck auf einem Stück Papier sammeln – und das Papier, das man am ehesten hat, ist der Haftbefehl, den man mit sich führen muss, und – das ist der Witz – auf diesem Stück Papier steht auch, dass man über seine Rechte aufgeklärt wird. Wenn man nicht in der Lage ist, den Schmutz auf einem Stück Papier zu sammeln, kann man das mit einem schmutzigen Lappen tun, der auf dem Boden liegt, und ihn dann in dem Waschbecken ausspülen, in dem man sich wäscht – es gibt keinen anderen Ort. Wenn es einen speziellen Lappen zum Waschen des Beckens gibt, kann man ihn mit dem Seifenstück einseifen, das etwa so groß ist wie eine halbe Streichholzschachtel; alle in der Zelle müssen damit ihre Hände, Haare, Socken, alle Körperteile und ihre Löffel vor dem Essen waschen – es gibt nur ein Stück Seife. Die Seife liegt auf dem Waschbecken; eine Seifenschale gibt es nicht, also schwimmt sie und löst sich auf. Wenn es in den Zellen Seifenschalen gäbe, würde selbst ein Stück Seife wie dieses – es trägt ein bisschen die stolze Aufschrift ‚Toilet Soap‘, es ist grau und weich wie Knete – wie gesagt, selbst ein Stück Seife wie dieses würde doppelt so lange halten, aber es gibt keine Seifenschale.

Und man muss sich waschen. Du merkst, dass du, wenn du aufhörst, dich zu waschen, jedes Gefühl des Menschseins verlierst. Wenn du eine Weste unter deinem Hemd trägst, ziehst du sie aus, damit du dich damit abtrocknen kannst. Es gibt kein Handtuch. Man wäscht sich die Haare unter dem Wasserhahn über dem Waschbecken, man wäscht sich den Hintern mit der Wasserflasche über dem Klo. Die Tage sind brütend heiß, in der Zelle herrschen etwa 40 Grad, und es ist stickig – ständig wäscht sich jemand, oder jemand versucht, seine Kleidung nach dem Waschen zu trocknen. Und dann fängt man an, das Belarussische Rote Kreuz zu hassen und seine aalglatten Chefs aus dem Gesundheitsministerium, die dafür sorgen sollen, dass alle Gefangenen mit Hygieneartikeln versorgt werden. Es handelt sich um dasselbe Rote Kreuz, das bei jeder „Wahl“ Vertreter in fast jeder „Wahlkommission“ sitzen hat.

Eine Schale mit gekochten Eiern

Wenn viele Leute in der Zelle sind, gibt es immer jemanden, der sein Frühstück isst, weil er Hunger hat, während nur einen Meter entfernt jemand seinen Darm entleert, um Platz für seine Portion mit gekochtem Buchweizen und sein Stück Regierungsbrot zu schaffen.

Das Schwarzbrot ist klebrig, wie Leim. Das Weißbrot ist trocken und zerbröselt leicht. Beide sind völlig geschmacklos, ohne jegliche Würze, genau wie das gesamte Essen. Alle paar Tage bekommt man ein Viertel einer Tomate, ein paar Tage später eine halbe kleine Salatgurke. Ein anderes Mal bringen sie einen Löffel Sauerkraut. Nach einigen Tagen dürstet es dich schon nach Vitaminen, aber es gibt keine. In deinen Träumen erscheinen Äpfel. Du träumst, dass du die Oma auf dem Land besuchst, und sie gibt dir eine Schale mit rosaroten Äpfeln.

Einmal schob ein freundlicher Wärter eine Schale mit gekochten Eiern durch die Türluke, aber wir hatten Angst, die zwei Eier zu essen, die wir hätten essen können, falls wir Verstopfung bekommen würden; wir waren auch unsicher, ob wir sie in der 40-Grad-Hitze der Zelle aufbewahren sollten, also gaben wir sie zurück. Ein anderes Mal schob ein Mädchen eine Schale mit Erbsen aus der Dose durch die Luke und wir fügten sie zwei Tage lang unseren Suppen und Brei hinzu. Ein anderes Mal überließ uns eine Wärterin eine Schale mit unreifen grünen Tomaten aus der Ernte des Vorjahres oder sogar aus dem Jahr davor. Wir versteckten sie, weil wir nicht wussten, ob derjenige, der zur nächsten Inspektion kam, sie mit dem Ruf „Was ist denn das für eine unhygienische Scheiße?“ wegnehmen würde.

Nach und nach, am dritten oder fünften Tag, fangen selbst die wählerischsten Häftlinge an, alle Schleimreste von der Graupenschale abzukratzen, die an den Seiten ihrer Metallschalen kleben und versuchen, keine einzige Kalorie zu verlieren oder eine Chance, ein Mikrogramm Vitamin C zu finden. Überleben! Überlebe und bleibe ein Mensch! – das ist der Befehl, den du dir selbst gibst. Du legst dein Brot auf deine Schüssel, damit es nicht mit dem Tisch in Berührung kommt. Nachdem du gegessen hast, wischst du deinen Teller mit schnellen Bewegungen des Zeigefingers ab. Das ist nicht schwer, denn es bleiben nie Fettreste auf dem Teller zurück. Die einzige Art von Fett, die wir bekommen, ist das hydrierte Pflanzenfett, das sie in die Schnitzel geben, die uns auf einem Bett aus Kleie serviert werden. In der realen Welt könnte einem bei dieser Art von „Delikatesse“ übel werden, aber in dieser Welt isst man es – schließlich ist es ein Fett, und in ihm könnte eine verzweifelte, lebensfreundliche Aminosäure überleben.

Das Lachen der Frauen

In den benachbarten Zellen, in denen genau die gleichen Bedingungen herrschen, sitzen weibliche politische Gefangene. Bei einer Gelegenheit hören wir sie lachen. Was finden sie denn so lustig? Das Lachen dieser Frauen weckt in uns eine wahre Dopamin-Fontäne; es ist ein Hauch von Normalität, der uns aus dem Land der Lebenden entgegenweht. Rein zufällig kreuzt sich mein Weg später mit einer der Frauen aus dieser Zelle. Sie erzählte mir, was sie so lustig fanden: Eine Frau wurde in die Zelle gebracht, die ein paar Würstchen bei sich hatte. Sie war verhaftet worden, als sie auf dem Heimweg von einem Geschäft war. So wurde sie ins Gefängnis eingeliefert – zusammen mit ihren Würstchen. „Das war das leckerste Abendessen, das wir je gegessen haben“, seufzte ihr Mitgefangener. Leider wurde die Frau mit den Würstchen nicht freigelassen. Die 44-jährige Taćciana Astroŭskaja, eine Freiwillige, die für den Fonds „Ein Land, das zum Leben taugt“ arbeitet, sitzt immer noch hinter Gittern; sie wurde bereits in ein anderes Gefängnis verlegt. Offiziell heißt es, sie sei „am 9. Juli im Rahmen einer Operation des Komitees für Staatssicherheit verhaftet worden, um das Land von radikalen Elementen zu befreien.“

Verschiedene Arten von Nicht-mehr-Menschen

In anderen Zellen in der Nähe warten Bürger aus anderen Ländern auf ihre Abschiebung. Einige von ihnen sind seit einem halben Jahr, einem Jahr, zwei Jahren hier, bis ihr Heimatland Gambia oder die Ukraine sie aufnimmt. Die Abgeschobenen haben Matratzen, und das Licht in ihren Zellen wird nachts ausgeschaltet. Außerdem erhalten sie zwei weitere goldene Boni: Jeden Tag werden sie zu einer zweistündigen Bewegung auf den Gefängnishof geführt, und am Abend erhalten sie eine zusätzliche Ration Schwarz- und Weißbrot. Diese Deportierten, die monate- und jahrelang in dieser Gefängniswelt versteckt waren, berühren selbst die herzlosesten weiblichen Wärter und Ärzte. Die Wärterinnen erlauben sich, eine Weile neben einer Türluke zu stehen und unterhalten sich ganz normal mit diesen armen Kerlen unterschiedlicher Hautfarbe, die alle nach menschlichem Kontakt hungern. Und die Ärztinnen geben diesen unglücklichen Deportierten Tabletten: Aspirin, Dimedrol und andere Dinge, damit sie in der stickigen Atmosphäre ihrer Zellen etwas Schlaf finden.

Hunderte von Kilometern von hier bis zu den Grenzen der Europäischen Union gibt es Migranten, die auf dem Seeweg aus Libyen kommen und durch die Wälder an der litauischen Grenze irren. Sie sind eine Quelle des Schmerzes und des Schreckens für Europa, sie sind auf die Versprechen böser Menschen hereingefallen, dass sie aus all ihrem Unglück gerettet werden können. Wie viel glücklicher sind diese Unglücklichen auf dem Meer oder in den Wäldern als wir im Gefängnis von Akreścina.
Sogar die Deportierten hier sind Nicht-Menschen einer hohen Kategorie, während wir, die Politischen, Nicht-Menschen der niedrigsten Ordnung sind – wir sind „Huftiere mit spitzen Zähnen“.

Mit dem Ziel der Destabilisierung

An einem Tag, an dem mein Mithäftling besonders ängstlich ist – wir Politischen sind wieder allein, die Schwerverbrecher wurden in eine Haftanstalt gebracht, bevor sie in ein Arbeitslager verlegt werden –, hole ich die letzten zehn Gramm Schokolade heraus und breche sie in unseren Haferbrei, so dass jeder fünf Gramm bekommt. Der Haferbrei strotzt nur so vor Geschmack. In jedem Löffel steckt der Geschmack der Heimat, der Vergangenheit und des Glücks. Dieses festliche Frühstück hebt unsere Laune.

Ihr Mitgefangener an diesem Tag ist ein anderer „Terrorismusverdächtiger“. Artikel 289, Absatz 2 des Strafgesetzbuches. Diese Terroristen werden einzeln in eine Zelle gesteckt, sie werden nie zusammen untergebracht. Sie sind alle intelligent und gut ausgebildet. Dieser hier ist ein Dozent an der Belarussischen Nationalen Technischen Universität. Der Terrorismus dieser Terroristen besteht darin, dass sie einen Protest-Chat-Kanal abonniert haben, der offenbar von den Geheimdiensten selbst eingerichtet wurde.

In den Protokollen über ihre Verhaftung finden sich identische Vermerke. „Am 26. Juni beschädigte der Bürger Hlotaŭ in Absprache mit noch nicht identifizierten Personen mittels eines Sprengsatzes (es folgt eine lange Beschreibung seiner zahlreichen Teile) die elfte Antenne des Radarkomplexes ‚Antheus‘ der Marinestreitkräfte der Russischen Föderation in der Provinz Minsk der Republik Belarus.“ Ach ja, ich vergaß, ganz am Anfang, vor „Bürger Hlotaŭ“ heißt es in dem Dokument: „Mit dem Ziel der Destabilisierung der sozialen und politischen Lage.“ „Ich bin seit sechseinhalb Jahren im Gefängnis, und das ist das erste Mal, dass ich einem Terroristen begegne,“ sagte gestern ein 25-jähriger, dicklicher, rothaariger Krimineller aus Sierabranka mit Respekt in der Stimme.

„Haben sie eigentlich die beschädigte Antenne gezeigt?,“ fragt er. „So ein Blödsinn. Wenn sie wirklich gesprengt worden wäre, hätten sie es in jedem Fernseh- und Radiosender gemeldet.“
Die kriminellen Brüder haben sich daran gewöhnt, alles anzuzweifeln und niemandem zu glauben. „Glaubt ihnen nicht, habt keine Angst vor ihnen, bittet sie um nichts“ – das ist der alte Grundsatz des Überlebens in den sowjetischen Gefängnissen.

Bleiben Sie stark!

Wenn man den „Terroristen“ glaubt – und es gibt keinen Grund, ihnen nicht zu glauben, sie scheinen alle so naiv zu sein –, dass sie den Chat nur gelesen und nicht wirklich etwas reingeschrieben haben, dann wartet in zehn Tagen die Freiheit auf sie, auch wenn ihre Telefone und ihr Geld beschlagnahmt werden. Sie können einem Redakteur alles vorwerfen, was sie wollen. Ich habe durch die Luke gesehen, wie Kollegen von mir durch den Korridor geführt wurden. Ich habe gehört, wie sie Ströme von neuen Häftlingen hereinbrachten, darunter die international bekannte Menschenrechtsverteidigerin Alieś Bialacki aus dem Zentrum „Viasna“.

Der Kriminelle aus Sierabranka liegt schnarchend in der obersten rechten Koje. Unter ihm liegt ein Junge, der versucht, sich mit einem nassen T-Shirt, das er aufgehängt hat, vor dem brennenden Licht zu schützen. Ihm wurde vorgeworfen, „einem Vertreter eines Organs der Staatsgewalt gegenüber respektlos zu sein“ (er erzählte uns gestern im Flüsterton, dass einer der festnehmenden Beamten ihm beim Abführen zugeflüstert habe: „Bleib stark!“).

Über mir windet sich ein Drogenabhängiger, als würde er auf einem unsichtbaren Fahrrad fahren. Er nahm an einem Methadonprogramm teil, wurde aber durch eine fremde Handtasche in Versuchung geführt. Jetzt ist er auf Entzug, isst nichts mehr und erbricht Galle. Er ist zum fünften Mal im Gefängnis, er ist dünn und gelb wie Wachs, er humpelt, mit 37 Jahren braucht er ein neues Hüftgelenk. Er wälzt sich hin und her und stöhnt, und ich liege zusammengerollt auf den nackten Brettern, eine Flasche unter meinem Kopf statt eines Kissens. Ich schütze meine Augen vor dem alles durchdringenden Licht und denke einen schweren, unerträglichen Gedanken: Was wird mit mir und meinen Kindern geschehen?

100 % und 99,7 %

Wenn sie mich von hier in das Gefängnis von Valadarka verlegen, ist das mein Ende. Diejenigen, die formell eines Verbrechens angeklagt sind, werden nicht freigelassen. In Weißrussland enden 100 % der Prozesse in politischen Fällen mit einem Schuldspruch (aber in Weißrussland enden auch 99,7 % der Strafprozesse mit einem Schuldspruch – es ist unmöglich, freigesprochen zu werden). Ich hatte gestern Angst, als ich mich dabei ertappte, wie ich – wie die Angeklagten in den Prozessen von 1937, die sich selbst verleumdeten, damit die Folter aufhörte – Gott anflehte, mich so schnell wie möglich nach Valadarka zu verlegen – lieber die Gewissheit, für x Jahre im Gefängnis zu sein, als dieses endlose Warten, mit meinem Kopf auf einer Plastikflasche unter diesem grellen, weißen Licht.

Auf dem Boden meines Plastikbeutels liegt noch eine 40-Gramm-Praline meiner Frau, ein „Minsker Toffee“, jetzt leicht zerknittert, als ob sie von dieser „anderen Welt“ erstickt würde. Es ist in einer roten Verpackung, auf der ein fröhlicher Igel abgebildet ist, der stolz einen riesigen gelben Apfel trägt.

1 Zitat aus einem Gedicht des belarussischen Klassikers Janka Kupala: „Was wollen diese Belarussen? Sie wollen nur, dass man sie Menschen nennt.“