M100 Erklärung

Potsdam, 17. September 2019. Das M100 Sanssouci Colloquium versteht sich seit seiner Gründung 2005 als Forum für Demokratie und Medienfreiheit. Anlässlich der 15. Ausgabe der internationalen Medienkonferenz hat der M100 Beirat eine M100 Erklärung mit den wichtigsten Thesen der Konferenz verfasst.

Mit ihrem diesjährigen Thema „From Pipedream to Reality – Democracy and the European Public Sphere“ greift die internationale Medienkonferenz eine Frage auf, die schon vor 14 Jahren im Mittelpunkt stand, jene nach Zustand und Zukunft Europas. Heute, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, hat sich die Lage deutlich geändert. Was zwischenzeitlich als Normalzustand betrachtet wurde, ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr: Öffentlichkeit und Demokratie müssen für jede Generation neu in Geltung gesetzt – und verteidigt – werden. Dies zeigt sich auch an der zunehmenden Bedrohung der Medienfreiheit. M100 hat dem Rechnung getragen, nicht zuletzt in der Vergabe seiner M100 Media Awards. Wurden zu Beginn noch in erster Linie Persönlichkeiten ausgezeichnet, die schlicht „Fußspuren“ hinterlassen und sich für demokratische Prozesse oder Menschenrechtsthemen eingesetzt haben, ging der M100 Media Award seit 2009 zunehmend an bedrohte Journalisten, Schriftsteller, Karikaturisten, die zum Teil unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen den Preis entgegen nehmen mussten. Solche Preise sind, wie Roberto Saviano sagte, auch ein Schutz. Aufmerksamkeit schützt vor Anschlägen. Und Aufmerksamkeit hilft, das zu schützen, was schwer zurückzugewinnen ist, wenn es einmal verloren geht: Die liberale Demokratie.

Astrid Frohloff, Christoph Lanz, Dr. Leonard Novy, Dr. Christian Rainer, Sabine Sasse, Sabine Schicketanz und Sophia Wellek halten im Namen des M100-Beirats daher in der ersten M100 Erklärung anlässlich der 15. Ausgabe der internationalen Medienkonferenz fest:

(1) Im Jubiläumsjahr des M100 Sanssouci Colloquium halten wir mit Sorge fest: Die Medienfreiheit in Europa ist in Gefahr – so wie nie zuvor seit Ende des Kalten Krieges. Zu den Regionen, in denen sich die Lage am stärksten verschlechtert hat, gehören die USA und Europa. Auch in EU-Staaten werden Medienschaffende in ihrer Arbeit behindert oder geraten ins Visier von Behörden. Die Regierungen der EU-Staaten Polen und Ungarn treiben seit Jahren den Umbau der Medienlandschaften zu ihren Gunsten voran. Diese Entwicklungen sprechen den demokratischen Werten der EU Hohn.

(2) Derweil gehört die gezielte Delegitimierung kritischer Medien nicht nur in den USA, der ältesten Demokratie der Welt, inzwischen zum Standardrepertoire eines autoritären Populismus. Doch Öffentlichkeit und Demokratie, sowohl national wie auch europaweit, sind ohne freie, unabhängige Medien nicht zu haben. Wer einen kritischen Journalismus zu demontieren sucht, demontiert die Demokratie.

(3) Europa ist kein Staat. Doch dies heißt weder, dass die EU nicht der Legitimation durch öffentliche Debatten bedarf, noch dass diese über Sprach- und Ländergrenzen hinweg unmöglich seien. „Einheit in der Vielfalt“ bedeutet: Eine EU-weite Öffentlichkeit lässt sich nicht „top-down“ durch die Politik herstellen, sie entsteht durch den Austausch nationaler Öffentlichkeiten und ihrer Medien. Diesen gilt es zu fördern. Unser Job als Journalisten ist es nicht, Werbung für die EU zu machen. Doch indem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ländern und Generationen aufzeigt und den Sichtweisen anderer Länder Raum gibt, kann Journalismus Beiträge zur grenzübergreifenden Verständigung leisten.

(4) Zu einer Zeit, in der alte Gewissheiten wie die der transatlantischen Gemeinschaft wegzubrechen drohen, zeigt sich die EU – nicht zuletzt in Folge innenpolitischer Turbulenzen in den Mitgliedsstaaten – wenig handlungsfähig. Das Spektakel um den BREXIT kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU selbst dringender Reformen bedarf. Gelingt es nicht, zu Zukunftsfragen wie dem Klimawandel, der Währungsunion und der Sicherheitspolitik überzeugende Antworten zu finden und gemeinsamen Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Solidarität tatsächlich Geltung zu verschaffen, verspielt die EU jenes Vertrauen, das ihnen die Bürger aktuell entgegenbringen. Europa braucht eine strategische Agenda. Aber auch eine neue Politik der gegenseitigen Anerkennung, des Zuhörens und des Dialogs.

(5) Diese Zeit ist Bewährungsprobe und Chance für den Journalismus zugleich. Ein starker, unabhängiger Journalismus ist heute vermutlich notwendiger, der Bedarf an Aufklärung angesichts eines wachsenden Feldes digitaler Manipulation und Propaganda größer als jemals in seiner Geschichte. Von seiner Bedeutung zeugen die Enthüllungen internationaler Medienkooperationen genauso wie die weniger beachtete tägliche Recherchearbeit in Lokalredaktionen weltweit. Um dies zu gewährleisten bedarf es einer starken Lobby für die Presse- und Medienfreiheit, aber auch entsprechender Ressourcen. An hochwertigem Journalismus zu sparen kostet langfristig mehr, als entsprechende Einsparungen kurzfristig in den Bilanzen bringen.

(6) Qualitätsjournalimus lässt sich nur mit den erforderlichen Ressourcen realisieren. Für die Finanzierung, Verbreitung und den Konsum journalistischer Inhalte geben die großen US-Digitalkonzerne Google, Amazon, Facebook und Apple heute einen nicht mehr wegzudenkenden Rahmen vor. Dies ist kein Lamento, sondern eine Beschreibung eines Zustands, der Chancen, aber, wie wir heute wissen, auch die Aussicht auf Verwerfungen bereithält. Heute stellt sich die Frage nach Grundwerten wie Transparenz, Meinungsfreiheit und Vielfalt unter neuen Vorzeichen und mit neuer Dringlichkeit. Es ist an der Zeit, die kommunikative Infrastruktur unserer Demokratien zukunftssicher zu machen. Dafür braucht es national wie europäisch zeitgemäße Ordnungsrahmen für digitale Plattformen, Medienunternehmen, die Innovation zur Daueraufgabe machen, aber auch eine gesellschaftliche Debatte darüber, in welcher Öffentlichkeit wir zukünftig eigentlich leben wollen – und was dies uns wert ist.