Zusammenfassung unseres Seminars mit Dr. Tobias Endler, Politikwissenschaftler und Amerikawissenschaftler, am 17. März 2022:
Der Angriff Russlands auf die Ukraine und der seither andauernde blutige Krieg hatten deutliche Auswirkungen auf den Charakter dieses Seminars. Der Krieg wird nicht nur militärisch, sondern auch über die Medien geführt: Die Information und Beeinflussung der Bevölkerung ist ein wichtiges Instrument im Krieg gegen die Ukraine. Die beiden Seiten, sowohl der Aggressor Russland als auch die angegriffene Ukraine, führen auch einen Krieg der Worte und Bilder, und während die eine Seite, Wolodymyr Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, die Bevölkerung Tag für Tag mit Worten und Bildern zum Kampf gegen den Aggressor motiviert, wendet sich die andere Seite mit Desinformation, Verboten, Vertuschung und Unterdrückung von ihrer Bevölkerung ab.
Umso aktueller war das Thema des Seminars: Mit welchen Argumenten kann man Populisten erfolgreich entgegentreten? Dazu mussten wir die unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Perspektiven, die mit Bezeichnungen wie Demokratie, Gesellschaft und Politik verbunden sind, reflektieren und hinterfragen, so Seminarleiter Dr. Tobias Endler.
Passen „Streiten“ und „Demokratie“ überhaupt zusammen? fragte Endler.
Und was ist „der Westen“? Lässt sich der Westen geografisch definieren oder handelt es sich eher um eine ideologische Metapher, bei der es um gemeinsame Werte und Ansichten geht? Als geografische Definition stoße sie an ihre Grenzen, argumentierte Endler und zeigte eine von Europa erstellte Weltkarte – mit Europa im Zentrum ¬– und eine Weltkarte aus den USA, auf der die USA natürlich im Zentrum liegen – und Europa östlich der USA.
Gehören zum „Westen“ auch die Länder Osteuropas und wenn ja, welche und warum? Aus amerikanischer Sicht gehören zum „Westen“ auch die asiatischen Länder und Australien, die in den Köpfen der meisten Europäer gar nicht mit dem Begriff verbunden sind. Aus amerikanischer Sicht ist der Abstand zu Asien derselbe wie zu Europa: Es gibt keine nationale Tendenz, vor allem nicht bei der jüngeren US-Generation, in Richtung Europa zu schauen, wenn es um internationale Allianzen geht. Und wenn Joe Biden über den Westen spricht, schließt er auch Australien ein und macht daraus ein Bündnis von Nationen, die gemeinsame Werte und Interessen teilen.
Daraus folgt, dass „der Westen“ eher eine ideologische Metapher ist, unter der sich Länder, Nationen, Menschen vereinen, die dieselben Werte teilen. Nur weil man in einem bestimmten Land lebt, heißt das noch lange nicht, dass alle die gleichen Ansichten vertreten. Um in einer Diskussion mit Populisten die richtigen Argumente zu finden, ist es vor allem für Journalisten wichtig, über Begriffe wie Demokratie, Gesellschaft und Politik nachzudenken und sich darüber klar zu werden, was damit eigentlich gemeint ist – auch im Hinblick auf unterschiedliche geografische und kulturelle Hintergründe; d.h. welche Definition, welche Vorstellung von Demokratie, Gesellschaft und Politik wir vertreten.
Am Beispiel einiger empfohlener Bücher erläuterte Dr. Endler verschiedene Perspektiven und Definitionen von Demokratie, Gesellschaft, Nation und sozialen Werten.
Die Seminarteilnehmer hatten die Möglichkeit, sich mit einem Buch bzw. einem Auszug daraus intensiver auseinanderzusetzen: Jason Brennans „Against Democracy“ (2016), in dem er dafür plädiert, dass nur gebildete und politisch mündige Menschen an politischen Prozessen teilnehmen dürfen.
Brennan (der 2017 am M100 Sanssouci Colloquium teilgenommen hat) unterteilt die wählende Bevölkerung in Hobbits, Hooligans und Vulkanier. Hobbits sind unwissende, politisch indifferente, naive Menschen; Hooligans können in Teilen durchaus detailliert informiert sein, eben wie fanatische Vereinsfans, die alle Spielerbiographien aufzählen können. Aber sie seien sehr einseitig informiert und interessiert, und weil sie dogmatisch denken, seien sie am Ende „schlecht“, weil nicht umfassend informiert. Diese beiden Gruppen machen laut Brennan 90 % der Wählerschaft aus. Die restlichen 10 % bezeichnet er als Vulkanier, die allein wahlberechtigt seien, um Populisten und Populisten wirksam zu bekämpfen (die Seminarteilnehmer lehnten diesen Ansatz entschieden ab).
Einem der Teilnehmer zufolge ist das Leben gerade in diesen krisengeschüttelten Zeiten zu komplex, um nicht in irgendeiner Form politisch zu sein. Andere Meinungen lauteten:
Wenn Menschen sich selbst als unpolitisch wahrnehmen und sich nicht an politischen Diskussionen beteiligen, könnte dies auch ein gutes Zeichen sein, da für diese Menschen alles in Ordnung zu sein scheint und es keinen Grund gibt, sich politisch zu engagieren; Demokratie bedeutet, dass die Bürger die Wahl haben, politisch oder unpolitisch zu sein, selbst zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie sich engagieren wollen. Den Bürgern diese Wahl zu verweigern, sei undemokratisch. Ein anderer Teilnehmer gab zu bedenken, dass eine strikte Einteilung in Hobbits, Hooligans und Vulkanier nicht realistisch sei, da die Menschen je nach ihrer persönlichen/politischen Situation zwischen ihnen wechseln könnten.
Fazit:
Um den Populisten unserer Zeit effektiv etwas entgegenzusetzen, müssen die Verteidiger der Demokratie, und allen voran junge Journalisten, ihr Handwerk beherrschen: Das heißt nicht zuletzt, einen sicheren Zugriff auf die zentralen Begriffe und Kategorien jeder demokratischen Gesellschaft zu haben – um zu verhindern, dass sich die Feinde der Demokratie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit ebenjene Begriffe zu eigen machen und sie dadurch pervertieren. Und um zweitens all denjenigen in einer Gesellschaft, die politischen und gesellschaftlichen Fragen unentschlossen, ernüchtert oder lethargisch gegenüberstehen, ein konkretes Bild zu vermitteln, was auf dem Spiel steht. Auf beiden Seiten des Atlantiks, das wurde in der Diskussion eindrucksvoll deutlich, steht offener demokratischer Diskurs mehr denn je für eine offene Gesellschaft, muss Demokratie guten argumentativen Streit nicht nur aushalten, sondern sich zu eigen machen. Gerade dadurch wird die Demokratie wehrhaft angesichts ihrer Feinde. Angesichts der russischen Aggression in der Ukraine und der katastrophalen Zustände, denen die dortige Bevölkerung ausgesetzt ist, wurde im Seminar mehr als deutlich, welchen elementaren Stellenwert Demokratie und demokratische Debatte gerade auch bei unseren osteuropäischen Nachbarn einnehmen – dieser Tage mehr denn je, wo autoritäre Herrscher den Zauber der Demokratie mit Gewalt austreiben wollen. In einer engagierten Diskussion über Ländergrenzen hinweg bewiesen die TeilnehmerInnen des Seminars eindrücklich, welche Kraft gelebte Demokratie autoritären Wunschfantasien entgegenzusetzen hat.
Literaturempfehlung:
• Benedict Anderson: Imagined Communities (1983; Die Erfindung der Nation)
• Michael Walzer: What does it mean to be an American? (Essay, 1989)
• Anne-Marie Slaughter: The Idea that is America (2007)
• Samuel P. Huntington: Who are We? America‘s Great Debate (2004)
• Cornel West: Democracy Matters (2004)
• George Packer: Last Best Hope: America in Crisis and Renewal (2021)
• Masha Gessen: Surviving Autocracy (Deutsch: Autokratie überwinden; 2020
Dr. Tobias Endler hat zahlreiche Publikationen über Demokratie und öffentliche Debatten veröffentlicht, zuletzt über die Zukunft des Westens“ (Game Over: Warum es den Westen nicht mehr gibt). Er lehrt und forscht an der Universität Heidelberg und hatte ein Teaching and Research Fellowship in Yale inne. Derzeit arbeitet er an einem Buch über den progressiven Diskurs in Deutschland und den USA. Tobias nimmt regelmäßig am M100 Sanssouci Colloquium teil.