Sergej Sumlenny: Power-Stationen für die Ukraine

Sergej Sumlenny ist promovierter Politikwissenschafter und Gründer des European Resilience Initiative Center. ER ist Experte für Mittel- und Osteuropa und war von  2015-2021 Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kyiv.

Im Januar 2023 habe ich acht Power-Stationen und andere Hilfsgüter in die Ukraine gebracht. Das war nur dank massiver Spenden möglich und machte das Leben dutzender Ukrainerinnen und Ukrainer leichter. Die Spendenaktion zu starten war eine spontane, aber ganz klare Entscheidung. Kurz vor Weihnachten hat meine ehemalige ukrainische Kollegin Viktoriia Solohub mir ein Foto geschickt. Darauf eine kleine Power-Station, also ein ziemlich großer moderner Akku mit Computersteuerung, der im Flur eines Wohnsilos steht. An der Station ist ein Weihnachtsstern angesteckt. „Wir hatten wieder einen russischen Raketenangriff“, schrieb sie mir. „Wie immer, versteckten wie uns vor Granatsplittern im Treppenhaus, in dem es keine Fenster gibt. Die Kinder der Nachbarn hatten Angst vor der Dunkelheit, deshalb haben ihre Eltern einen Weihnachtsstern für sie erleuchtet“.

Dieses Bild einer Winternacht, in der sich verängstigte Kinder im kalten und dunklen Treppenhaus eines 20-stöckigen Wohnsilos verstecken müssen und sie nur ein moderner Akku etwas beruhigen kann, hat mich zutiefst bewegt. Zwischen 2015 und 2021 habe ich in Kyiv gearbeitet – und habe im ganzen Land viele Freunde und ehemalige Kollegen. Binnen weniger Stunden habe ich auf Twitter einen Aufruf gepostet und meine Follower um Spenden für Power-Stationen gebeten, um sie in die Ukraine zu bringen. Züge nach Kyiv fahren täglich, die Reise dauert 30 Stunden. Bis zum orthodoxen Weihnachtsfest am 07. Januar wollte ich mit den Geräten in der Ukraine sein, um das Fest für einige trotz russische Bomben etwas fröhlicher zu machen.

Binnen einer Woche wurden über 13.000 Euro gespendet, plus Sachspenden. Sie kamen aus den USA und Spanien, Finnland und Armenien, sehr viele aus Deutschland und sogar aus der Ukraine – was mich total verwirrt hat. Viele AbsenderInnen entschuldigten sich dafür, nicht mehr spenden zu können oder dass die Bundesregierung zu wenig tut. Als eingebürgerter Deutscher war ich über diese Welle der Solidarität überglücklich. Dank der Hilfe vieler Freundinnen und Freunde wurden die ersten Geräte mit einem Transporter nach Kyiv gebracht, und am 31.12. saß ich mit den restlichen Power-Stationen im Zug und überquerte die polnisch-ukrainische Grenze.

Wenn es um Energie geht, verstehen wir im verwöhnten Westen oft nicht, wie fragil unser Lebensstil ist. Vor dem Krieg unterschied sich Kyiv in seiner Energie-Abhängigkeit kaum von Berlin. Ohne Strom kann man keinen Kaffee machen, kann nichts kochen. Der Rechner funktioniert nicht, der Modem verteilt keinen W-LAN. Fahrstühle fahren nicht mehr, an der Tankstelle funktionieren die Pumpen nicht. Im Geschäft kann man nichts kaufen, weil das Kassengerät tot ist. Die Handys klingeln nicht mehr, und wenn man in einer höheren Etage wohnt, kommt kein Wasser mehr aus dem Hahn, weil der Druck ist zu gering ist. Die Power-Stationen kamen gerade rechtzeitig. Die kleinen wurden bei Familien und Aktivisten verteilt, auch zwei Schulklassen bekamen welche. Die größeren gingen an

NGOs und an ein Kinderheim. Das größte Gerät mit 3.600 Watt brachte ich zu einer NGO in der Frontstadt Isjum in der Region Charkiw. Die Stadt liegt nur 40 Kilometer von der Frontlinie entfernt, sie war mehrere Monate in russischer Gewalt. Um dorthin zu gelangen, muss man lange fahren und mehrere Checkpoints passieren. An vielen Straßen sind die Städtenamen auf den Straßenschildern geschwärzt –für den Fall, dass wieder russische Panzerkolonnen kommen.

Isjum ist fast komplett zerstört. Kein Gebäude – außer einigen kleinen privaten Häusern – blieb unbeschädigt. Viele wurden durch Artilleriefeuer einfach weggefegt. Viele Gebiete sind bis heute vermint. In Höfen findet man improvisierte Gräber, in denen Überlebende ihre Nachbarn begraben mussten.

Die Geschichten, die die Einwohner erzählen, sind grausam. Monatelang mussten sie ohne Strom, ohne Wasser in ständiger Angst leben. Die Frauen und Mädchen beschmierten ihre Gesichter mit Dreck, um für die Russen weniger attraktiv zu sein und einer Vergewaltigung zu entkommen. Eine Frau erzählte mir, dass ein russischer Heckenschütze im Sommer mehrfach knapp an ihren Füßen vorbeischoss, während sie im Garten arbeitete. „Zuerst hatte ich Angst, dann sagte ich: Wenn du mich töten willst, dann mach es. Ich mache meinen Obstgarten weiter.“

Die Russen haben auch mutwillig sämtliche Musikinstrumente einer Teenager-Band zerstört. Ich kaufte ihnen einige neue, unter anderem eine Gitarre. Als ich wieder in Berlin war, erreichte mich folgende Nachricht: „Es sieht so aus, als sei die Gitarre, die Sie gebracht haben, die einzige intakte Gitarre in der ganzen Stadt. Jetzt können alle, die möchten, vorbeikommen und Gitarre spielen.“
Ich weiß nicht, ob der größte Erfolg meiner Reise nach Isjum die Lieferung der Power-Stationen oder der Kauf dieser Gitarre war.