Dr. Dan Diner

Prof. Dr. Dan Diner

Historiker
Hebräische Universität Jerusalem
Israel

Eröffnungsrede Prof. Dr. Dan Diner

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Geopolitik. Unmerklich, gleichsam schleichend, ergreift es Besitz von Sprache und Begriff. Solch semantische Infiltration ist nicht folgenlos. Sie geht mit der Absicht einher, Wirklichkeit politisch zu gestalten. Zwei Tendenzen greifen ineinander: Die mit dem Ende des Kalten Krieges gleichsam naturwüchsige Wiederkehr der Bedeutung des Raums bei gleichzeitigem Abklingen der zuvor maßgeblich gewesenen Kategorien der Zeit; und die einer solchen Verwandlung erwachsende Entschlossenheit Russlands, sich jener Tendenz zum Zwecke der eigenen Machtentfaltung zu bedienen.

Der Kalte Krieg war ein nuklear bewehrter Weltbürgerkrieg der Werte zwischen den Mächten der politischen Freiheit – dem Westen – und den Mächten eines wortwörtlichen Verständnisses von sozialer Gleichheit – dem Osten. Die nukleare Armierung dieses Gegensatzes und die sich daraus ergebenden strategischen Konsequenzen zogen ein extrem beschleunigtes Handeln notwendig nach sich. In seinem Zeichen fanden sich die eingetretenen Krisen reguliert. Fast alle während des Kalten Krieges eingetretenen Krisen waren von auffällig kurzer Dauer. Dies galt für die Berlin-Krisen 1958 und 1961; und dies galt für die Kubakrise 1962. Der auffällig kurze Modus des Krisenverlaufs: plötzliches Eintreten wie abruptes Ende, erwuchsen der Logik angedrohter gegenseitiger Vernichtung – die Wahrscheinlichkeit von Apokalypse. Das unmittelbare physische Gegenüber der Supermächte an der Nahtstelle des Weltkonfliktes, in Europa, bewahrte den Alten Kontinent paradoxerweise vor „heißen“ Kriegen, vor bewaffneten Konflikten konventioneller Art. Diese wurden nach „außen“ hin verlegt – dorthin, wo sie unterhalb der Schwelle eines Nuklearkrieges geführt werden konnten, vornehmlich an die asiatische Peripherie. Hierfür waren der Korea-Krieg 1950/53 und weit mehr noch der Vietnam-Krieg der 1960er/70er Jahre signifikant.

In Folge des Zusammenbruchs des Kommunismus, dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges war eine bemerkenswerte Veränderung im Verhältnis von Zeit zu Raum zu beobachten. Es schien, als entziehe sich Raum der Umklammerung der vormals beherrschend gewesenen Zeit. Und während die Zeit hernach ihrer schwächer werdenden Prärogative wegen den Raum aus dem Zustand von Ergebenheit entließ, schickte letzterer sich seinerseits an, über jene zu verfügen. Die Konfliktzeiten fanden sich gezügelt. Sie bewegten sich auffällig verlangsamt. Sie waren gestreckt.
In der Epoche des Kalten Krieges war Raum konturlos gewesen – eine binär kolorierte Fläche, aufgeteilt in Gebietsbereiche der Blockzugehörigkeit, von Ost und von West. Mit der Epochenwende löste sich die Fläche vielfarbig auf, um ein an historische Vergangenheiten gemahnendes komplexes Relief auszubilden. Die Wiederkehr historischer Räume schien eine Wiederkehr vormals mit jenen Räumen verbunden gewesener historischer Zeiten anzukündigen. Gedächtnis und Geographie, im Modus der Dauer vereint, sind von repetitiver Wirkung. Die dabei frei gesetzten Konflikte waren von auffälliger Langsamkeit.
Die anschwellende Verwendung von auf Ethnos und Geographie gründender politischer Nomenklaturen waren in Europa während des jugoslawischen Zerfallskrieges der 1990er Jahre auffällig geworden. Schon das Wort vom „Balkan“ rief im historischen Gedächtnis Ereignisfolgen auf, die offenbar mit Konfliktlagen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Verbindung standen. In Russland stieß diese Entwicklung ein geopolitisches Denken an, das sich der großen Irritation des Landes nach dem Verschwinden der Sowjetunion annahm, um dem Gemeinwesen eine Perspektive wiederherzustellender imperialer Macht und Größe anzuempfehlen. Derart geopolitisch unterlegte Vorstellungen scheinen die gegenwärtig von Russland aus betriebene Politik porös gehaltener Grenzen zu begleiten. Offenbar soll seine unmittelbare Nachbarschaft – vornehmlich nach Westen hin – in einen Zustand beständiger Unruhe und Anspannung gehalten werden; eine Zone neuer Gefährdung im östlichen Europa. Sie scheint just mit jener Schütterzone europäischer Geschichte zur Deckung zu kommen, die sich von der Ostsee hinab zum Schwarzen Meer erstreckt, den Balkan streift, die Meerengen durchzieht und die Levante erreicht. Bei Bedarf langt sie auch in der Region des Fruchtbaren Halbmonds an. Den verblichenen Einkerbungen des historischen osmanisch-russischen Gegensatzes analog, vermag sie die Türkei in Mitleidenschaft ziehen oder diese sich mittels einer Strategie der Umarmung gefügig machen. Vor allem die russische Intervention in den ethnisch-religiös grundierten syrischen Bürgerkrieg stattet Moskau mit einem geopolitischen Hebel aus, dessen es sich bei seinem Wiedereintritt in die große Politik vielfältig bedient.

Die Muster politisch-militärischen Handelns in der Gegenwart verweisen auf Lagen, die verstörend an das 19. Jahrhundert gemahnen. In erster Linie auf die Konstellation des Krim-Krieges 1853/56 – dem Weltkrieg des langen Jahrhunderts. Damals wurde wesentlich um den Status der Meerengen gerungen. Bislang ist von einer Forderung nach Revision des Abkommens von Montreux aus dem Jahre 1936, das vor allen Dingen das Ein- und Auslaufen von Kriegsschiffen ins Schwarze Meer reguliert, nichts zu hören. Sollte ein solches Anliegen gleichwohl vernommen werden, fände sich die geopolitische Wiederkehr von auf Konstellationen des 19. Jahrhunderts verweisenden Konfliktlagen vollends ratifiziert.
Nachdem das Gehäuse der Sowjetunion zersprungen und das erwartete liberale Modernisierungsprojekt gescheitert war, befindet sich Russland gesteigert auf der Suche nach sich selbst. So sind das Land herausfordernde, von ihm forsch angenommene oder von ihm gar initiierte Konflikte eher als Konflikte zur neuerlichen Definition seines kollektiven Selbst zu verstehen und weniger als Konflikte, die um ihrer selbst willen geführt werden. Als Definitionskonflikte scheinen sie auf Dauer ausgelegt.

Welches Russland soll es sein? Ein von Liniengrenzen umschlossenes, klar abgezirkeltes Gemeinwesen? Ein Imperium mit aufgerauten Grenzen? Eine weit über das Gemeinwesen hinaus ausstrahlende kontinentale Zivilisation? Letztere Vorstellung ist von einem geopolitischen Telos beständigen Ringens mit einer maritimen, vorgeblich notwendig aggressiven, von Amerika angeführten trans-atlantischen Zeitkultur der Beschleunigung angeleitet. Ihr soll eine im Prinzip kontinental-defensive, von Russland angeführte eurasische Raumkultur zivilisatorischer Verlangsamung entgegenstehen.

Sollte eine derart geopolitisch semantisierte Konfliktkonstellation sich tatsächlich verfestigen, würde dies verschärft Fragen nach der Zukunft des europäischen Einigungsprojekts im Allgemeinen und der Rolle Deutschlands im Besonderen nach sich ziehen. Vor allem angesichts des Umstands, dass das institutionelle Gewebe Europas angesichts eines harten, sich notwendig militarisierten geopolitischen Denkens sich als ausgesprochen weich, jedenfalls sich mit jenem als wenig kompatibel erweisen dürfte. Das Militärbündnis der NATO, das über Jahrzehnte den europäischen Einigungsprozess vor existenziellen Verwerfungen behütet hatte – es war sein eigentliches machtpolitisches Gehäuse – scheint an Kohäsionskraft zu verlieren. Deutschland, dessen historischer Neutralisierung wegen der europäische Einigungsprozess nicht zuletzt in Gang gesetzt worden war, erfreut sich heute einer hegemonialen Rolle, deren Bewährung noch aussteht. Diese Rolle ist dem Land materiell wie moralisch zugewachsen. Materiell insofern, als das 1990 von außen an Deutschland herangetragene Anliegen, gleichsam als Ausgleich für seine unverhofft eingetretene Vereinigung einer vorgezogenen Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zuzustimmen, dazu führte, dass, anstatt wie beabsichtigt, Deutschland europäisch zu binden, mittels des Euro sich deutscher Habitus und deutsche Sekundärtugenden des Wirtschaftens und Haushaltens anderen aufdrängten. Und moralisch, als die aus der deutschen Vergangenheit gezogenen Lehren für andere Europäer mit anderen historischen Erfahrungen und anderen Gedächtniskulturen, so auch in der Flüchtlingsfrage, verpflichtend wurden. All dies trägt zu einer paradoxen Konstellation insofern bei, als Deutschland – und dies ganz ohne Absicht und mit dem besten aller nur denkbaren guten Willen ausgestattet – nolens volens zu einer Zerrüttung des europäischen Gefüges beiträgt. Die dabei sich einstellenden Entfremdungen könnten dazu führen, dass Deutschland sich aus der europäischen Verankerung löst, um bei Eintritt veritabler Konflikte andere, womöglich eigene Wege zu gehen.

Eine solche Tendenz käme dem von Russland eingeleiteten geopolitischen Paradigmenwechsel sehr entgegen. Diese würde sich in eine traditionelle, längst überwunden geglaubte Grundstruktur europäischer Geschichte einfügen. Unterbrochen war sie durch die nach 1945 beherrschend gewordenen Rolle Amerikas, eine den Kontinent von Westen her erfassenden „Atlantischen Revolution“ – eine Entwicklung, die in Deutschland als Verwestlichung bekannt ist. Das Aufkommen von als populistisch bezeichneten, gleichwohl nationalistischen, vor allen Dingen antiwestlichen, so etwa dem transatlantischen Freihandel als einer Ökonomisierung der NATO wenig gewogenen Bewegungen mit einer offensichtlichen Affinität zu den heute von Russland hoch gehaltenen konservativen Werten, könnten sich als eine erste Front in einem heraufziehenden ethno- und geopolitisch imprägnierten Kulturkampf in und um Europa erweisen. Die Gewissheit indes, andere politische Formationen seien von solchen Versuchungen frei, ist allerdings zukunftsfroh.