Eröffnungsrede Schlosstheater: Andreas Reckwitz

Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie
Humboldt-Universität zu Berlin
Deutschland

Resilience in late Modernity

Wenn man versucht, aus der Corona-Krise Schlussfolgerungen für mögliche Veränderungen in der Zukunft zu ziehen, begegnet einem in letzter Zeit zunehmend ein Begriff: Resilienz. Er könnte zu einem Schlüsselwort der Post-Corona-Ära, ja für die Politik des 21. Jahrhunderts insgesamt werden. Will man eine nachvollziehbare Lehre aus dem Umgang mit der Pandemie ableiten, dann drängt es sich förmlich auf: Die Gesellschaften müssen resilienter werden. Die Individuen sollten an ihrer Psyche arbeiten, damit sie an Resilienz gewinnen, und der Staat sollte der Gesellschaft einen Rahmen dafür bieten. Resilienz – dabei geht es um Widerstandsfähigkeit, um die Fähigkeit, gewappnet zu sein für unerwünschte, mitunter schockartige Ereignisse.

Tatsächlich ist es nicht nur die Corona-Krise, die Widerstandsfähigkeit mehr und mehr zu einem politischen Ziel werden lässt. In den letzten zehn Jahren sind die Gesellschaften wiederholt mit Krisen konfrontiert worden, die ihre Robustheit auf den Prüfstand gestellt haben: die Finanzkrise, die Migrationskrise, wiederholte Terroranschläge und als permanentes Stressmoment die Klimakrise. In Sachen Resilienz ist dabei die Psychologie vorangegangen: Schon seit den 2000er Jahren haben Therapie und Beratung angesichts von Burn out-Krankheiten Resilienz als Schlüsselkonzept einer langfristigen Krisenprävention entdeckt.

Resilienz hat also Konjunktur. Daher lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Der Begriff weist nämlich auf einen elementaren Perspektivwechsel hin. In mancher Hinsicht erschüttert er das Fortschrittsverständnis der Moderne: Mit ihm wird eine Politik des Positiven von einer Politik des Negativen abgelöst. Eine offensive Strategie der Möglichkeitssteigerung wird durch eine skeptische Strategie der Risikoabsorption ersetzt. Zweifellos: In mancher Hinsicht scheint dies zukunftsträchtig. Zugleich enthält das Ziel der Resilienz jedoch einige problematische Vorannahmen, für die man ein Bewusstsein entwickeln sollte.

Der Begriff der Resilienz stammt ursprünglich aus der Physik, genauer: aus der Werkstoffkunde. Gemeint ist die Eigenschaft eines Körpers, nach einer Verformung unbeschadet in den Anfangszustand zurückzufinden. Die äußere Störung prallt an dem Körper also gewissermaßen ab: Man boxt in den Ball, er gibt nach – aber am Ende hat er von seiner Kugelform nichts verloren.
Die Psychologie hat sich diese Vorstellung zunutze gemacht. Am Anfang ging es darum zu erklären, warum manche Kinder mit psychischen Traumata in ihrer frühen Entwicklung besser fertig werden als andere. Von einem Begriff der Diagnose hat er sich jedoch in einen der Therapie verwandelt. Um etwa Erschöpfungserkrankungen vorzubeugen, erscheint es nun als ein wichtiges Ziel, sich systematisch in Resilienz zu trainieren, zum Beispiel die Emotionen kontrollieren oder die eigene Machtlosigkeit überwinden zu können. Die Regulation der eigenen Emotionen spielt hier ebenso eine Rolle wie die Steigerung der Selbstwirksamkeit, das heißt ein Alltagstraining darin, die eigene Machtlosigkeit zu überwinden.

Nun ist die Psychologie selbst ein gesellschaftliches Phänomen: Wie sie über die Individuen denkt, sagt Entscheidendes über die Werte und Probleme der Gesellschaft als Ganze aus. Vor diesem Hintergrund ist die Karriere der Resilienz im letzten Jahrzehnt bemerkenswert. Denn seit den 1960er Jahren war zunächst die sogenannte „Positive Psychologie“ leitend, also eine Denkschule, in deren Zentrum die Visionen der Selbstentfaltung und des Selbstwachstums stehen: eine Psychologie, deren Ideal ein Individuum ist, das Zwänge hinter sich lässt, sich lustvoll ausprobiert und seine Wünsche verwirklicht. Im Verhältnis dazu ist der Ausgangspunkt der Resilienzpsychologie deutlich skeptischer. Jetzt heißt es: Man muss unweigerlich mit negativen Ereignissen im eigenen Leben rechnen, mit Schocks und Katastrophen, welche drohen, das Individuum aus dem Gleichgewicht zu bringen. Beim Resilienztraining geht es dann letztlich um ein Überlebenstraining des Individuums.

Die Politik hat sich bisher noch nicht derart intensiv mit Resilienzfragen beschäftigt, ist aber dabei, rasch aufzuholen. Wie sähe eine Politik der Resilienz aus? Das Entscheidende ist, dass sie eine grundsätzlich andere Perspektive auf die Gesellschaft bedeutet, als es für klassische Formen des Regierens gilt. Auch hier verkehrt sich die Zielmarke: vom Streben nach dem Neuartigen und Positiven in das Vermeiden oder Aushalten des Negativen. Die Gesellschaft erscheint weniger als ein Raum für den Aufbruch in eine progressive Zukunft, sondern im Zustand der allseitigen Verletzbarkeit. Es gilt nun, das Schlimmste zu verhüten.

Eine Staatlichkeit, die in erster Linie auf Resilienz ausgerichtet ist, würde sich grundsätzlich von jenen Modellen des Regierens unterscheiden, wie sie nach 1945 die westlichen Länder dominiert haben. Historisch gab es hier im Wesentlichen zwei Typen von Staatlichkeit: den Wohlfahrtsstaat der 50er bis 70er Jahre und den Wettbewerbsstaat seit den 80er Jahren.

Das Modell des Wohlfahrtsstaates setzte sich zum Ziel, soziale Sicherungen aufzubauen, wirtschaftliche Ungleichgewichte zu vermeiden und gleiche Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. Das Modell des Wettbewerbsstaates – vom Neoliberalismus bis zu New Labour –visierte die Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Eigenverantwortung an. Teilweise hat es sich mit einem progressiven Liberalismus verbunden, der sich für Persönlichkeitsrechte und einen Abbau von Diskriminierungen einsetzt. Beide Modelle von Staatlichkeit teilen die Perspektive der klassischen Moderne, und deren Leitprinzip lautet Fortschritt. Die Zukunft erscheint hier als Raum der Entwicklung positiver Chancen. Sie ist offen, und es gilt sie zu erobern für gesellschaftliche Verbesserungen in Richtung Freiheit und Gleichheit. Dies war das Credo der Aufklärung, und dieses ist bisher tief im Selbstverständnis der modernen Politik verankert gewesen.

Wenn sich nun jedoch Resilienz als ein neues Leitbild der Politik herauskristallisiert, dann bedeutet dies eine Umkehr der Perspektive: Die Zukunft erscheint nun als ein Raum von Risiken, denen die Gesellschaft ausgesetzt ist. An die Stelle der positiven Erwartungen und des Glaubens an die Machbarkeit tritt eine Normalisierung negativer Zukunftserwartungen. Die Gesellschaft erscheint nun wie ein System, das immer wieder heftigen Störungen ausgesetzt ist. Diese bedrohen das gesellschaftliche Gleichgewicht. Die Grundannahme der Politik der Resilienz ist jene, die Ulrich Beck bereits 1986 in seinem Buch „Risikogesellschaft“ entfaltet hat: Die Gesellschaft gefährdet sich auf unberechenbare Weise selbst – sei es durch ökologische Katastrophen wie den Klimawandel, durch Krankheiten, die sich mit der Globalisierung rasend schnell epidemisch verbreiten, sei es durch Finanzkrisen oder terroristische Anschläge.

Eine Politik der Resilienz ist somit eine langfristige Politik des Negativen. Sie lernt aus den immer neuen Krisen und Katastrophen, indem sie versucht, die Gesellschaft zu ‚rüsten‘. Resilienz bildet damit das Zentrum eines ganzen Begriffsfeldes skeptischer Politik. Auch Prävention und Sicherheit spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Zukunft erscheint nun prinzipiell unsicher, aber Resilienzmaßnahmen sollen das Maß an Sicherheit erhöhen. Dabei gehen Resilienz und Prävention häufig Hand in Hand: Während Resilienz Vorkehrungen schafft, auf dass eintretende negative Ereignisse ‚abgefangen‘ werden, versucht Prävention Vorsorge zu schaffen, dass diese Ereignisse möglichst selten auftreten.
Was sind mögliche Maßnahmen einer Politik der Resilienz? Man kann die Frage kaum allgemein beantworten, da es je nach Problemfeld um verschiedene konkrete Aktionen geht. Ein gut organisiertes öffentliches Gesundheitswesen ist sicher eine zentrale Resilienzmaßnahme ist, um nicht nur künftige Pandemien einzudämmen. Eine verlässliche digitale Vernetzung der Bevölkerung erleichtert die gesellschaftliche Koordination unter Zeitdruck im Katastrophenfall. Angesichts des Klimawandels kann ein Land wie die Niederlande durch Umsiedlung der Bevölkerung aus Gebieten, die sich unterhalb des Meeresspiegels befinden, an Resilienz gewinnen. Funktionstüchtige und kompetente Sicherheitsorgane sind im Falle eines möglichen terroristischen Anschlags sicher essenziell.

Das Problem mit den gesellschaftlichen Risiken ist allerdings, dass sich gar nicht absehen lässt, an welcher Stelle sie sich als nächstes in eine konkrete Bedrohung verwandeln. Für Klimawandel und Pandemien sind wir jetzt leidlich sensibilisiert, aber könnte nicht als nächstes ein digitaler Super-Crash stattfinden, wie wir ihn bisher nur aus Science-Fiction-Filmen kennen? Und sind wir dafür gerüstet? Das Reich der Risiken hält eine Menge von unknown unknowns bereit. Für die Resilienzpolitik wünschenswert wäre insofern etwas Ähnliches wie ein Breitbandantibiotikum in der Medizin: Maßnahmen, die potenziell gegen verschiedenste Gefährdungen wirken.

Dies ist auch das Geheimnis des psychologischen Resilienztrainings: Das Individuum weiß nicht, von wo der nächste Einschlag kommen wird – Beruf, Partnerschaft, Familie, Krankheit -, aber die Einübung bestimmter psychischer Querschnittseigenschaften wappnet einen idealerweise für verschiedenste Eventualitäten. Was wäre dazu das Pendant auf gesellschaftlicher Ebene? Vor allem zwei Querschnittseigenschaften scheinen hier zentral: soziales Vertrauen und politische Kooperationsfähigkeit. Gesellschaften kommen besser aus den Krisen heraus, wenn in der Bevölkerung breites Vertrauen in die Verlässlichkeit und Fairness der Institutionen herrscht, und wenn man politisch über Lagergrenzen hinweg in der Lage ist zusammenzuarbeiten. Vertrauen und Kooperationsfähigkeit wären basale Eigenschaften einer resilienten Gesellschaft, aber sie können nur langfristig wachsen und entziehen sich kurzfristiger politischer Intervention. Die Politik der Resilienz ruht daher entscheidend auf vorpolitischen Säulen.

Zweifellos: Ein Paradigmenwechsel in Richtung einer Politik der Resilienz im 21. Jahrhundert wäre ein Akt der Klugheit. Statt immer wieder kurzfristig den neuesten Katastrophen hinterherzueilen, erkennt man realistisch die Risiken an und versucht daraus, entsprechende langfristige Strategien zu entwickeln. Das ist durchaus ein schmerzhafter Lernprozess, aber vielleicht auch ein Zeichen gesellschaftlichen Erwachsenwerdens /Reifung. Statt leeren Zukunftsvisionen zu folgen, gilt es mit den Verlusten zu rechnen. Trotzdem sollten die Probleme einer solchen skeptischen Politik nicht übersehen werden. Vor allem vier drängen sich auf:

Resilienzaufbau fügt sich in das scheinbar Unvermeidbare. Die Krisen und Katastrophen werden ohnehin eintreten, wir müssen uns darauf vorbereiten. Resilienz rechnet also mit Unverfügbarkeiten. Das ist einerseits eine vernünftige Revision des klassisch-modernen Machbarkeitsdenkens. Andererseits kann eine solche defensive Strategie in Defaitismus umschlagen. Muss man sich wirklich an die Störung von außen anpassen oder kann man die Verhältnisse nicht so umgestalten, dass die Störung gar nicht erst eintritt? Natürlich sollte die Gesellschaft Resilienz gegenüber Terroranschlägen aufbauen, aber den Versuch, die terroristischen Milieus selbst auszutrocknen, sollte dies nicht hemmen. Natürlich ist es klug, gegen die Auswirkungen des Klimawandels etwa in Form von Hitzewellen oder Extremwetter vorzusorgen, aber eine Politik, die den Klimawandel an den Wurzeln packt, ist damit sicherlich nicht überflüssig.

Ein zweites Problem einer Politik der Resilienz liegt darin, dass sich durch die Orientierung an möglichen Katastrophen im Staat und in den Köpfen der Bevölkerung Sicherheitsfantasien etablieren können, welche von einer allseitigen Immunisierung gegen negative Ereignisse träumen. Ein solches Extrem droht insbesondere, wenn Resilienz und Prävention eng aneinandergekoppelt sind und die Wahrnehmung von allgegenwärtigen Risiken dazu führt, dass die Risikotoleranz immer weiter sinkt. Auf der Ebene von Staatlichkeit ist der Grad schmal zwischen den Präventionsregimen und einer Hochsicherheitspolitik, die Bürgerrechte auf Dauer zugunsten der Risikominimierung einschränkt. Das gilt für den Umgang mit Pandemien, dem Klimawandel oder dem Terrorismus gleichermaßen. Um eine solche Fixierung zu vermeiden, müsste die Einsicht in das Risiko negativer Ereignisse zu einem balancierteren Risikobewusstsein führen: Man muss es aushalten, dass sich gesellschaftliche Risiken nicht auf Null reduzieren lassen.

Resilienz bedeutet, dass Individuen und Gesellschaften an Robustheit gewinnen. Das Ideal ist der Ball, der selbst nach mehrmaligen Boxattacken so unversehrt ist wie vorher. Natürlich klingt dies auf den ersten Blick wie ein unstrittiges Ziel: beneidenswert jene Gesellschaften, die aus der Corona-Pandemie unbeschädigt hervorgehen. Bei näherer Betrachtung wird man allerdings zu dem Schluss kommen, dass Robustheit nicht alles ist. Dies ist das dritte Problem. Man kennt Bert Brechts Geschichte von Herrn Keuner: »Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.« Robustheit und Unverwüstlichkeit bedeuten eben auch, gar nicht die Chance zu bekommen, sich zu transformieren. Die Krise zwingt einem Transformationsmöglichkeiten auf. Sie verändert, und wenn man ihr dies nicht erlaubt, folgen die Schäden möglicherweise ‚post-traumatisch‘ mit zeitlicher Verzögerung, aber umso heftiger.

Generell sind negative Ereignisse häufig mit Verlusten und Verlusterfahrungen verbunden. Der drastischste Fall ist der Tod. Eine resiliente Person oder Gesellschaft kann versuchen, nach den erlittenen Verlusten rasch wieder zur Tagesordnung überzugehen. Es könnte aber klüger sein, die Erfahrung des Verlustes in die Gegenwart zu integrieren und das eigene Verhalten in der Zukunft entsprechend zu modifizieren. Die Corona-Krise beispielsweise konfrontiert die westlichen, verhältnismäßig alten Gesellschaften brutal mit der Fragilität gerade ihres älteren Bevölkerungsteils oder auch mit der Frage, welche Elemente des eigenen Lebensstils essenziell und welche entbehrlich sind. Wir wissen noch nicht, welche Konsequenzen die westliche Kultur daraus ziehen wird, aber idealerweise würde Resilienz gegen eine Sensibilität austariert, die den Individuen wie der Gesellschaft die Selbsttransformation erlaubt. Nietzsches Resilienz-Ideal »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker« erweist sich auch als ein Ideal der Starrheit und Verpanzerung, der die eigentliche Stärke abhandenkommt, sensibel mit den Verlusten umzugehen.
Das vierte Problem, dass man sich mit der Resilienz einhandelt, betrifft den blinden Fleck einer Politik des Negativen: Kann sich eine moderne Gesellschaft erlauben, auf positive Gestaltungsziele zu verzichten, und sich nur noch auf den Umgang mit den unweigerlichen Katastrophen konzentrieren? Kommt sie ohne die Maßstäbe und Visionen des Fortschritts aus?

Dies ist keine bloß theoretische Frage. Die Sequenz diverser Krisen der letzten zehn Jahre hat die Politik immer wieder in einen Krisenmodus versetzt, der zunehmend nicht mehr den Ausnahme-, sondern den Normalfall darstellt: Krisen wie die Finanz- oder die Corona-Krise binden in erheblichem Umfang politische Energie über Jahre hinweg, so dass andere, langfristige Anliegen aus dem Blickwinkel geraten. Dazu passt ein gesellschaftlicher Alarmismus, dessen mediale Öffentlichkeit sich beständig auf vermeintliche, immer neue oder alte Krisenmomente stürzt. Resilienz als Ziel würde zu diesem Krisenmodus passen.

Das Problem ist jedoch, dass sich auf diese Weise negative Erwartungen normalisieren, sich die Aufmerksamkeit auf den Umgang mit kurzfristigen realen oder potenziellen Übeln konzentriert. Sicherlich: Die klassisch-moderne Maxime des Fortschritts und den Glauben an die Gestaltbarkeit von Gesellschaft kann man mittlerweile nur noch mit Skepsis vertreten. Aber komplett von der Politik des Positiven in eine Politik des Negativen umzusteuern, erscheint wie eine unnötige Reduktion der Möglichkeiten.

Auch hier kann die Parallele zur Psychologie helfen: Dass man die Individuen mithilfe des Resilienztrainings krisenfest machen will, ist nur realistisch. Aber die Hoffnungen der Positiven Psychologie auf Selbstentfaltung und Selbstwachstum unter der Allgegenwart eines Überlebenstrainings zu begraben, würde bedeuten, jeden weitergehenden Ehrgeiz auf dem Altar der Sicherheit zu opfern.

Man kann dies auf Gesellschaften übertragen und sich mit der Metapher von Standbein und Spielbein behelfen: Die Politik der Resilienz und der Prävention kann eine notwendige Infrastruktur der Sicherheit anvisieren und insofern ein Standbein liefern, ohne das die Gesellschaften aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen. Aber das ist kein Selbstzweck, sondern könnte und müsste Raum für das Spielbein liefern: Für eine Politik jenseits der Risikominimierung, eine Politik jener positiven Ziele gesellschaftlicher Verbesserung, ob sie nun in Richtung von Autonomie, Wohlstand, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit gehen. Diese zu debattieren, ist die eigentliche Aufgabe des Politischen in der Moderne, und das gesellschaftliche Interesse an Schutz und Vorsorge sollte dieses Anliegen nicht unsichtbar machen.

Prof. Dr. Andreas Reckwitz ist Professor für Gesellschaftstheorie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Zuvor war er Professor an der Universität Konstanz und der Europa-Universität Viadrina und hatte Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte u.a. in Berkeley, London, St. Gallen, Wien, Heidelberg, Freiburg und Bielefeld. Er wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis und 2019 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Kulturtheorie und Theorie der Moderne, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, darunter „Das hybride Subjekt“ (2006), „Die Erfindung der Kreativität“ (2012), „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) und „Das Ende der Illusionen“ (2019; beide erschienen im Suhrkamp Verlag).
Andreas Reckwitz war Mitglied des Beirats „Bildung und Diskurs“ des Goethe-Instituts und ist regelmäßiger Gastautor der Wochenzeitung „Die Zeit“.