Olesya Bida: Als könnte jeder Tag der letzte sein

Olesya Bida war Redakteurin beim unabhängigen ukrainischen Medium hromadske.ua, das 2014 während der Maidan Revolution gegründet wurde. Sie war 2016 Teilnehmerin des M100YEJ.
Twitter: @OlesyaBida

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war fast 5 Uhr morgens, als ich seltsame und sehr laute Geräusche hörte. Jetzt, wo der Krieg schon fast ein Jahr andauert, ist es normal, dass man nicht vom Wecker, sondern von den Geräuschen des Raketenangriffs aufwacht.

In dieser Nacht war es anders, und ich konnte wirklich nicht begreifen, was geschehen war. In einer Minute schaltete mein Mann Dmytro ein Video mit Putins Rede ein. Wir haben verstanden, dass der Krieg in vollem Umfang begonnen hat.

Mein Mann rannte sofort los, um nachzusehen, ob unser Keller offen war. Er versuchte auch, etwas Bargeld aus dem Geldautomaten zu holen, aber es war sinnlos. Die Straßen waren voller Menschen, die ihre Taschen in die Autos packten und versuchten, die Stadt zu verlassen.

Von den ersten Minuten dieses Morgens an begann ich zu arbeiten. Es war keine Zeit für Panik oder irgendwelche Gedanken. Es war wichtig, unserem Publikum aus dem ganzen Land verifizierte Informationen zu geben und mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Jede Minute verifizierte unser Team von Hromadske.ua die Nachrichten auf der Website. Obwohl ich eigentlich Autorin von Reportagen und Features bin, habe ich auch Nachrichten geschrieben, weil das in diesem Moment das Wichtigste war.

Nach einigen Stunden kam mein Vater, um mich und unseren Hund in unsere Heimatstadt im Zentrum der Ukraine zu bringen. Dort blieb ich für zwei Monate. Mein Team und ich arbeiteten Tag und Nacht, aber wir hatten keine Anzeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung. Einige der Personen, über die ich berichtete, befanden sich bereits in der Besatzung, im blockierten Mariupol, an der Frontlinie, aber sie waren bereit, auch nachts mit mir zu sprechen und mir über die Lage in ihren Städten zu berichten. Es war wichtig, der ganzen Welt zu zeigen, dass in unserem Land Zivilisten durch den Krieg sterben, den Russland auf unserem Territorium begonnen hat. Es handelt sich nicht um einen Konflikt oder eine Invasion, wie man früher dachte. Es ist ein echter Krieg.

Mitte April, als die ukrainischen Streitkräfte die Region Kyiv befreit hatten, beschloss ich, nach Hause zurückzukehren. Es war sehr seltsam, in einer leeren Stadt zu leben, die sonst immer überfüllt war. Es war auch seltsam, in einem Korridor schlafen zu gehen, wenn nachts der Luftalarm losging.

Von diesem Zeitpunkt an begann ich, mich auf die Dokumentation von Kriegsverbrechen zu konzentrieren, die vom russischen Militär begangen wurden. Ich führte Interviews mit Menschen, die von den Russen gefoltert wurden, mit Menschen, die von den Russen deportiert wurden, mit Menschen, die in russischer Gefangenschaft waren, und mit Menschen, die unter der Besatzung lebten, aber dennoch versuchten, der ukrainischen Armee zu helfen. Irgendwann baten mich Menschenrechtsaktivisten, Vertreter internationaler Organisationen und unsere ukrainischen Beamten um Kontakte zu meinen Gesprächspartnern. Sie wollten ihre Zeugenaussagen den Klagen beifügen, die für den Internationalen Strafgerichtshof vorbereitet wurden.
Mitte des Sommers konnte ich einen kurzen Urlaub im Ausland machen. Es war das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass ich das Land verließ. Und es war das erste Mal, dass ich mich so sehr nach Hause zurücksehnte. In Deutschland, wo ich eine Woche blieb, wurde mir klar, wie weit die ganze Welt von der Realität entfernt ist, in der alle Ukrainer und ich früher lebten.

Wir zweifeln nicht daran, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind und dass es keine „guten Russen“ gibt, die gegen den Krieg protestieren. Dennoch haben meine ukrainischen Kollegen und ich an einer Diskussion mit deutschen Journalisten teillgenommen, die versuchten, uns davon zu überzeugen, dass wir einen Dialog mit den Russen führen müssen. Ihrer Meinung nach kann der Krieg nur auf diese Weise beendet werden. Es fällt mir immer noch schwer, meine Gefühle nach dieser Diskussion zu beschreiben. Ich war frustriert und verwirrt. Zudem erfuhren wir einige Stunden vor dem Gespräch, dass die Russen einen Ort gesprengt hatten, an dem sich ukrainische Kriegsgefangene befanden. Einige von ihnen starben, und die Russen ließen nicht einmal internationale Organisationen diesen Ort besuchen.

Ich kehrte nach Hause zurück und erzähle der Welt weiterhin Geschichten über Menschen, die in einem Krieg leben. Im Oktober begannen die Russen, unsere Strominfrastruktur anzugreifen, und es wurde immer schwieriger, ohne Strom und Internetanschluss zu arbeiten. Aber wir haben trotzdem Wege gefunden, die Wahrheit über diesen Krieg zu berichten. Fast jedes Medienteam in der Ukraine hat jetzt einen Dieselgenerator und kann auch bei Stromausfällen weiterarbeiten.

Ende vergangenen Jahres habe ich beschlossen, meinen Job zu kündigen. Der Krieg hat mich gelehrt, so zu leben, als könnte jeder Tag der letzte meines Lebens sein, keine Angst zu haben, alles zu verändern, und dass die wirksamste Waffe die Wahrheit ist. In ein paar Wochen werde ich mich einem anderen Team anschließen, um noch mehr für den ukrainischen Sieg tun zu können.