M100 @ St. Gallen Symposium: Power durch Zusammenarbeit

16. Mai 2022. Am 6. Mai 2022 nahm das M100 Sanssouci Colloquium am zweitägigen St. Gallen Symposium an der Universität St. Gallen in der Schweiz teil. Unter dem Titel „Media’s new Power: More Impact through collaborative Journalism“ („Die neue Macht der Medien: Mehr Wirkung durch kollaborativen Journalismus“) diskutierten drei Podiumsteilnehmer, die an der Spitze dieser innovativen Form des Journalismus stehen, folgende Fragen: Welche technischen, aber auch inhaltlichen Reformen sind notwendig, um unabhängigen, qualitativ hochwertigen Journalismus langfristig zu stärken? Wie kann die Finanzierung von unabhängigen Medien und Journalistennetzwerken sichergestellt werden? Wie funktionieren grenzüberschreitende, sprach- und kulturübergreifende Kooperationen? Welche Vorteile ergeben sich daraus? Wie sieht die Zukunft des kollaborativen Journalismus aus und welche Probleme können auftreten? Welche Erwartungen haben die Akteure an die Politik, um Medienvielfalt, Unabhängigkeit und Demokratie in Zukunft zu gewährleisten?

Auf dem Podium begrüßten wir:
Joanna Krawczyk, Vorsitzende der Partnerschaften der „Gazeta Wyborcza“. Sie leitet die Aktivitäten der Leading European Newspaper Alliance (LENA) – des größten Mediennetzwerks in Europa, in dem sich „Die Welt“ aus Deutschland, „El País“ aus Spanien, „La Repubblica“ aus Italien, „Le Figaro“ aus Frankreich, „Le Soir“ aus Belgien, der „Tages-Anzeiger“ und die „Tribune de Genève“ aus der Schweiz sowie die „Gazeta Wyborcza“ aus Polen zusammengeschlossen haben. Hauptziele von LENA sind, Geschäftsmodelle für Medien in Krisenzeiten zu entwickeln und die redaktionelle Arbeit an wichtigen Publikationen aus ganz Europa mit der Förderung des Qualitätsjournalismus zu verbinden. Die Inhalte von den sieben LENA angeschlossenen Zeitungen, die in sechs Sprachen erscheinen, erreichen 100 Millionen Leser in Europa und der Welt.

Mathias Müller von Blumencron, einer der führenden Journalisten und Verantwortlichen für digitale Medien in Deutschland. Bis Juli 2021 war er als Co-Chefredakteur bei der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ für die digitale Transformation des Unternehmens verantwortlich. Von 2013 bis 2017 arbeitete er als Chefredakteur Digitale Medien bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und setzte die erfolgreiche Digitalstrategie um. Bis 2013 war er 20 Jahre lang beim deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ tätig, wo er als Co-Chefredakteur für die Veröffentlichung der Wikileaks-Dokumente in Kooperation mit „The New York Time“ und „The Guardian“ verantwortlich war. Derzeit ist er im Verwaltungsrat der Schweizer Medienorganisation Tamedia und Mitglied des M100 Advisory Board.

Paul Radu (@IDashboard) ist Mitbegründer und Mitgeschäftsführer des Organized Crime and Corruption Reporting Project, Mitbegründer des Investigative Dashboard-Konzepts und Mitbegründer des RISE Project, einer Plattform für investigative Reporter und Hacker in Rumänien. Er hat eine Reihe von Stipendien erhalten, darunter das Alfred Friendly Press Fellowship, das Milena Jesenska Press Fellowship, das Rosalyn Carter Fellowship, das Knight International Journalism Fellowship sowie ein Stanford Knight Journalism Fellowship. Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Knight International Journalism Award und den Investigative Reporters and Editors Award, den Global Shining Light Award, den Tom Renner Investigative Reporters and Editors Award, den Daniel Pearl Award for Outstanding International Investigative Reporting, den Sigma Award for Data Journalism, einen IJ4EU Award, einen European Press Prize und andere. Paul ist ein Ashoka Global Fellow und Vorstandsmitglied des Global Investigative Journalism Network gijn.org und anderer Organisationen. Er ist auch Jurymitglied bei einigen Journalistenpreisen.
Paul arbeitete an den Panama- und Pandora-Papieren, dem Pegasus-Projekt und dem russischen, aserbaidschanischen und dem Troika-Waschsalon (Geldwäschemaschine der jeweiligen Eliten) und prägte den Begriff „Waschsalon“, um TOR-ähnliche groß angelegte Geldwäscheoperationen zu definieren.

Das Panel wurde kenntnisreich moderiert von Astrid Frohloff, bekannte deutsche Fernsehmoderatorin, Journalistin, Kommunikationsberaterin und Business-Coach und ebenfalls Mitglied des M100-Beirats. Ihr Schwerpunkt liegt auf lösungsorientierten Fernsehformaten. Bis vor kurzem moderierte sie das investigative Politikmagazin „Kontraste“ (ARD). Als Korrespondentin berichtete sie aus verschiedenen Teilen der Welt – viele Jahre aus dem Nahen Osten.

Joanna Krawczyk erläuterte, wie die Arbeit mit sieben Zeitungen aus verschiedenen Ländern funktioniert und welchen Nutzen sie von der Kooperation haben. Der Kern der Arbeit des LENA-Netzwerks ist die Veröffentlichung von Nachrichten sowie die Erstellung von Nachrichten auf redaktioneller Ebene. Die Mitglieder von LENA tauschen Texte, die sie in ihren Zeitungen veröffentlicht haben, mit den anderen Mitgliedern aus. Die Texte werden in einem täglichen Newsletter angeboten, und die Mitglieder können die Texte, die sie für interessant halten, für ihre eigenen Medienprodukte auswählen und abdrucken. „Wir schaffen einen Mehrwert für unsere Zeitungen, weil wir unterschiedliche Standpunkte aus verschiedenen Zeitungen und Ländern aufzeigen“, so Joanna. „Dieser Austausch ist ein großer Mehrwert für unsere Zeitungen, denn wir unterscheiden uns in unseren Ansätzen und Haltungen, wir haben unterschiedliche Meinungen, und es ist sehr wichtig, diese unterschiedlichen Meinungen aus verschiedenen Teilen Europas in unseren Zeitungen zu zeigen.“ Die Arbeit bestehe jedoch nicht nur aus dem Austausch, der Übersetzung und dem Abdruck der Texte, fuhr Joanna fort. „Wir müssen sie für unsere Leser kontextualisieren, sie in den richtigen Zusammenhang stellen, damit die Leser mit den Umständen des geschriebenen Themas vertraut werden.“ Das Netzwerk organisiert auch gemeinsame Interviews mit hochkarätigen Persönlichkeiten, um die Kräfte zu bündeln und die Reichweite zu erhöhen.
Das LENA-Netzwerk wurde vor einigen Jahren gegründet, als die Zeitungen aufgrund der sinkenden Werbe- und Abonnementeinnahmen beschlossen, die Zahl ihrer Auslandskorrespondenten zu verringern. Als der Krieg in der Ukraine begann, hatte die „Gazeta Wyborcza“ nur einen Korrespondenten in der Ukraine. Das Zeitungsbündnis begann sehr schnell, mit ukrainischen Medien und Journalisten vor Ort zusammenzuarbeiten. Die Mitglieder des Netzwerks mieten auch häufig gemeinsam Büros an, einerseits aus wirtschaftlichen Gründen, andererseits um die Qualität der Arbeit durch die Zusammenarbeit von Journalisten verschiedener Zeitungen zu erhöhen. Dies geschieht sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Das LENA-Netzwerk war auch eine der ersten Organisationen, die einen Fonds zur Unterstützung ukrainischer Journalisten eingerichtet hat. Aus diesem Fonds werden derzeit die Gehälter von 57 Lokalzeitungen und über 160 Journalisten in der Ukraine bezahlt, was ebenfalls eine journalistische Zusammenarbeit darstellt. Bei der Zusammenarbeit geht es nicht darum, gemeinsam zu schreiben oder Artikel auszutauschen, sondern um die gemeinsame Nutzung von Quellen. Die Hilfe umfasst auch das notwendige Arbeitsmaterial, geschützte Computer und sogar Schutzwesten.

Zusammenarbeit ist auch das Herzstück des investigativen Netzwerks OCCRP, aber es funktioniert anders. Das OCCRP ist eine gemeinnützige Plattform für investigative Berichterstattung, die sich auf organisiertes Verbrechen und Korruption weltweit konzentriert. „Wir haben in Ost- und Mitteleuropa ganz klein angefangen und sind mit jeder Untersuchung, die wir durchgeführt haben, organisch gewachsen“, erklärt Paul Radu. „Um gegen das organisierte Verbrechen zu ermitteln, braucht man ein Netzwerk, um ein Netzwerk zu bekämpfen. Denn wenn man einen Korruptionsskandal in meinem Heimatland Rumänien untersucht und herausfindet, dass die Spur auf die Seychellen führt, braucht man jemanden auf den Seychellen, der die Dokumente dort untersuchen kann. Und so weiter und so fort. Mit jeder Geschichte, die wir machten, wuchsen wir.“ Paul und sein Mitbegründer Drew Sullivan starteten das Netzwerk im Jahr 2007 als grenzüberschreitendes Projekt, das sich auf Stromhändler auf dem Balkan konzentrierte. Das kleine Team fand heraus, dass dieses Geschäft von Personen des organisierten Verbrechens und korrupten Politikern geführt wurde. Heute ist OCCRP das weltweit größte investigative Netzwerk mit über 160 festangestellten und Hunderten von freiberuflichen Journalisten, die zusammenarbeiten. OCCRP organisiert auch Sicherheitsschulungen und sorgt dafür, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen rechtliche Bedrohungen versichert sind. Ein besonderes Augenmerk legen sie auch auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. „Das ist uns sehr wichtig“, erklärt Paul, „denn ohne gesunde Journalisten kann man kein Netzwerk haben, das in der Lage ist, investigative Berichterstattung als Dienstleistung für die Öffentlichkeit zu leisten.“ Als sie ihr Projekt starteten, so Paul weiter, galten sie als „eine Art seltsame Organisation, die seltsame Dinge tut“. Heute arbeiten sie mit großen Medienhäusern auf der ganzen Welt zusammen, die von dem Fachwissen und dem immensen Netzwerk der Organisation profitieren.
OCCRP arbeitet seit Jahren mit ukrainischen Journalisten zusammen. Als die russische Invasion begann, mussten einige von ihnen das Land verlassen, aber einige sind immer noch dort. Durch die OCCRP-Initiative „Russian Asset Tracker“ und die Zusammenarbeit mit vielen internationalen Medienorganisationen wurde eine umfangreiche Datenbank erstellt, die alle Immobilien, Yachten, Privatflugzeuge usw. im Besitz russischer Oligarchen aufzeigt und von Bürgern, Aktivisten und Strafverfolgungsbehörden rege genutzt wird.

Mathias Müller von Blumencron betonte, dass „kollaborativer Journalismus eine der wichtigsten und stärksten Entwicklungen ist, die wir in den letzten 20 Jahren im Journalismus erlebt haben. In früheren Jahren begannen investigative Geschichten mit einem geheimen Gespräch in einem Park oder einem geheimen Dokument. Die Arbeit war physisch. Heutzutage müssen investigative Journalisten mit einer riesigen Menge an Daten umgehen, die analysiert werden müssen. Die meisten dieser Daten sind nur in verschiedenen Formaten verfügbar und haben internationale Auswirkungen. Deshalb braucht man internationale Partner und Kollegen, um das Material zu entschlüsseln und zu bearbeiten.“ Normalerweise, so Müller von Blumencron, gebe es einen enormen Wettbewerb zwischen Zeitungen und Zeitschriften, aber wenn es um die Chance geht, große kriminelle und/oder Korruptionsgeschichten aufzudecken, haben die Medienhäuser erkannt, dass Kooperation besser ist als Konkurrenz.
Journalistische Zusammenarbeit sei das Gegenteil von all den Gerüchten und Fake News auf Social-Media-Plattformen. „Es ist unsere Aufgabe, die Köpfe zu befeuern; die Fakten zu finden und die Fakten zu beschreiben, auch komplizierte Fakten“, sagte Müller von Blumencron. Verglichen mit der Vergangenheit „gleiten wir in eine andere Welt, in der wir deutlicher sehen, wie befriedigend es ist, zusammenzuarbeiten“, fuhr er fort. „Wenn fünf Organisationen in ganz Europa eine Geschichte wie die Panama Papers oder etwas Ähnliches aufdecken, ist das eine große Leistung für den Journalismus. Und nicht nur die Demokratie ist bedroht, auch der Journalismus ist es in vielen Ländern. Es gibt also einen gewissen Stolz und ein gewisses Ethos, das durch diese Geschichten gefördert wird. Vielleicht hat das auch mit der Digitalisierung zu tun. Ich arbeite seit vielen Jahren in der digitalen Welt, und wir haben immer mit unseren Kollegen in anderen Organisationen zusammengearbeitet, weil wir anfangs nicht wussten, welche Software wir verwenden sollten, welche Geschichte funktioniert, wie man Geld verdient und wie man ein System zur Gewinnung von Abonnenten aufbaut. Wir sitzen alle im selben Boot, wir kämpfen alle mit diesem immensen Wandel in unserer Gesellschaft und unserer technologischen Welt. Und wir sehen, dass wir nur voneinander lernen können, ohne unseren eigenen Erfolg, auch den finanziellen Erfolg, zu gefährden. Die gemeinsamen Ansätze und die großen Geschichten haben dazu beigetragen, mehr Respekt und mehr Akzeptanz zu gewinnen.“

Fazit: Die Diskussion hat gezeigt, wie unterschiedlich journalistische Kooperationen sind, welche Bedeutung sie haben und welche Vorteile sich daraus ergeben, ohne die journalistische Autonomie aufzugeben. Kooperationen, ob zwischen Redaktionen oder als grenzüberschreitendes Netzwerk von (freien) Journalisten, sind ein wesentlicher Bestandteil von Medienfreiheit und Demokratie. Sie sind unverzichtbar, um Missstände, Verbrechen und Korruption aufzudecken und der Bevölkerung umfassend zu vermitteln. Die drei Podiumsteilnehmer zeigten eindrucksvoll die unterschiedlichen Wege sowie Vorteile und den Nutzen von Zusammenarbeit für eine funktionierende Demokratie auf.