M100 SPECIAL TALK: „LEFT ALONE?“

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VJOSA OSMANI-SADRIU, Präsidentin der Republik Kosovo, im Gespräch mit WOLFGANG ISCHINGER, ehemaliger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland, über die europäische Sicherheitsstrategie und die Rolle der osteuropäischen Länder.

Der Balkan, wie auch die baltischen Staaten, gelten als wichtiger Stabilitätsfaktor für Europa. Die Länder des Balkans bergen jedoch ein großes Konfliktpotential, das auch langfristig die Stabilität in Europa gefährden kann.
Während die ehemaligen Sowjetstaaten Estland, Lettland und Litauen Russland seit vielen Jahren deutlich kritisch gegenüberstehen und seit 2004 Mitglied der EU sind, ist die Haltung gegenüber Russland auf dem westlichen Balkan eher indifferent.
Hinzu kommt, dass einige der Balkanländer, denen bereits 2003 eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, seit Jahren auf einen Beitritt warten, weil sie die Kopenhagener Kriterien für eine Aufnahme – Stichworte Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Korruption – einfach nicht erfüllen.

In unserem Special Talk „Left alone? Die europäische Sicherheitsstrategie und die Rolle der osteuropäischen Länder“, die am 15. September im Rahmen des M100 Sanssouci Colloquiums stattfand, diskutierten Botschafter Wolfgang Ischinger, ehemaliger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, mit Vjosa Osmani-Sadriu, Präsidentin der Republik Kosovo, welchen Beitrag der westliche Balkan angesichts einer neuen Weltordnung zu einer stabilen Europäischen Gemeinschaft leisten kann.

Wolfgang Ischinger stellte eingangs fest, dass auf dem Westbalkan, zunächst im Konflikt um Bosnien-Herzegowina, dann im Kosovo-Krieg 1998 und 1999 zwischen dem Kosovo und Serbien, die Zahl der Opfer das Ausmaß des Blutvergießens übersteigt, das wir bisher in der Ukraine gesehen haben – nicht um den Krieg in der Ukraine zu schmälern, sondern um daran zu erinnern, wie brutal und grausam dieser Krieg war und wie viele Opfer er gefordert hat. Ein Trauma, das bis heute nicht überwunden ist.

Die 40-jährige Präsidentin Vjosa Osmani-Sadriu, seit April 2021 im Amt, repräsentiert die jüngste Nation Europas, das „Land der Jugend“. Nicht nur in Bezug auf die Jahre, die der Kosovo besteht, sondern auch in Bezug auf das Alter der Bevölkerung. Mehr als 50 % der Menschen im Kosovo sind unter 25 und mehr als zwei Drittel unter 35 Jahre alt, was ein großes Potenzial für Europa darstellen könnte.

„Der Kosovo ist heute eine etablierte Demokratie, ein blühendes Land und ein Leuchtturm der Hoffnung für die Region und darüber hinaus“, sagte Osmani-Sadri. „Es ist die beste Verkörperung dessen, was die demokratische Welt erreichen kann, wenn sie zusammensteht, um die Werte der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte zu verteidigen.“ Jedoch stehe der Kosovo heute vor den gleichen wirtschaftlichen Problemen wie andere Länder in Europa: Er habe mit einer hohen Inflation und mit Energieproblemen zu kämpfen. Aber die Menschen im Kosovo seine sehr widerstandsfähig, was sie in ihrer gesamten Geschichte bewiesen hätten.

Im Kosovo-Krieg von Februar 1998 bis Juni 1999 wurden mehr als 13.000 Zivilisten getötet, rund 20.000 Frauen durch das völkermörderische Regime von Slobodan Milošević vergewaltigt. 128.000 Häuser niedergebrannt und unzählige Kunstwerke und historische Gebäude zerstört und damit ein Großteil des kulturellen Erbes des Kosovo, so die Präsidentin: „Der Kosovo wurde buchstäblich zu Asche verbrannt.“
Gerettet wurden sie durch starke Allianzen. „Wir hätten 1999 nicht überlebt, wenn wir diese Bündnisse nicht gehabt hätten, wenn wir nicht demokratische Länder wie Deutschland, die Vereinigten Staaten und andere Länder auf der ganzen Welt gehabt hätten, die uns unterstützt haben. Wir hätten die Erfolge, auf die wir heute stolz sind, nicht erzielen können, wenn wir nicht unsere Freunde gehabt hätten. Die demokratische Welt stand uns nicht nur bis 1999 zur Seite, sondern bei jedem Schritt, während wir unsere Staatlichkeit aufbauten und unsere Anerkennung als Mitglied internationaler Organisationen erlangten. Und ich denke, dass heute in der Ukraine dieselben Werte auf dem Spiel stehen. Das zeigt, wie wichtig diese Partnerschaften und Bündnisse sind. Und es zeigt, dass unsere wahre Macht als demokratische Länder gerade in unseren Partnerschaften liegt.“

Heute nutze Kosovo die Chance, etwas zurückzugeben, betonte Osmani-Sadriu: „Der Kosovo war das erste Land, das dem Ersuchen der Vereinigten Staaten zustimmte, afghanische Flüchtlinge zu unterstützen. Und der Kosovo war das erste Land auf dem westlichen Balkan, das die Sanktionen gegen Russland vollständig an die Europäische Union angeglichen hat. Wir haben uns zu 100 % an die EU angeglichen, auch wenn wir noch keinen Kandidatenstatus haben, denn egal wie schwierig der Weg zur euro-atlantischen Integration auch sein mag, es gibt nichts, was uns von diesem Weg abbringen kann. Es ist unsere Vision, es ist unser Schicksal. Die Menschen im Kosovo werden ihre Widerstandskraft bis zu dem Moment aufrechterhalten, in dem wir da sind, wo wir hingehören, und wir gehören in die Europäische Union und die NATO.“

Wolfgang Ischinger fragte, wie groß die Enttäuschung sei, nach all den Jahren, in denen man versucht habe, die Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, nach all den unerfüllten Versprechungen und nun zu sehen, wie die Ukraine als Land mit einer direkten EU-Perspektive anerkannt werde.

Osmani-Sadriu antwortete, die Enttäuschung liege nicht in der Tatsache, dass die EU der Ukraine den Kandidatenstatus verliehen habe: „Die Menschen in der Ukraine setzen ihr Leben für die Werte aufs Spiel, die das Fundament der Europäischen Union bilden. Der Kosovo unterstützt die Entscheidung der Europäischen Union, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen, voll und ganz.“ Aber sie werden weiter dafür kämpfen, diesen Kandidatenstatus ebenfalls zu bekommen.

Die Glaubwürdigkeit der EU stehe auf dem Spiel, wenn es um die Entscheidung über die Visa-Liberalisierung für den Kosovo gehe, betonte Präsidentin Osmani-Sadriu. „Der Kosovo hat die Kriterien bereits vor viereinhalb Jahren vollständig erfüllt, die Europäische Kommission hatte die Visa-Liberalisierung für den Kosovo schon lange empfohlen, und das Europäische Parlament hatte die Entscheidung mehr als zweimal mit überwältigender Mehrheit unterstützt. Jetzt liegt es an den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, ihr Versprechen einzulösen.“ Andernfalls würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der EU bei den Menschen im Kosovo Schaden nehmen. „Wir sprechen von jungen Menschen, die nicht in der Lage sind, an einer Konferenz wie dieser teilzunehmen, oder von Journalisten, die gerne hierhergekommen wären, um über diese wichtigen Themen zu sprechen, aber keinen Termin für ein Visum bekommen“, sagte Osmani-Sadriu. „Das gilt auch für Touristen, die das schöne Potsdam besuchen wollen. Letzten Endes geht es um das Gefühl der Freiheit. Und Freiheit ist das Fundament der Europäischen Union. Die EU-Integration ist jedoch ein von der Visaliberalisierung getrennter Prozess. Deshalb bewirbt sich das Kosovo bis Ende dieses Jahres um den EU-Kandidatenstatus. Alle Mitgliedstaaten der EU sollten stolz darauf sein, dass sie zu einem Land beigetragen haben, das sich heute um den Kandidatenstatus bewirbt und hart daran arbeitet, alle von der EU festgelegten Kriterien zu erfüllen. Wir wissen, dass dies ein langer Prozess sein wird, aber wir hoffen, dass nach allem, was seit dem 24. Februar dieses Jahres passiert ist, die EU endlich versteht, dass der Beitritt des westlichen Balkans zur Europäischen Union von geostrategischer Bedeutung und Interesse für die EU ist. Ohne Frieden und Stabilität in dieser Region, die nur durch unsere Mitgliedschaft in der EU erreicht werden kann, wird es auf dem gesamten Kontinent keinen Frieden und keine Stabilität geben.“

Ischinger erklärte, dass die Deutschen, dass die Europäer verstehen sollten, dass die „Zeitenwende“ ohne Südosteuropa nicht zu schaffen sei. Der Abschluss und die Beschleunigung des europäischen Beitrittsprozesses für Länder, die jetzt noch im Wartesaal der EU sind, einschließlich des Kosovo, sollte ganz oben auf der To-do-Liste der EU stehen, die vor dem Hintergrund des anhaltenden russischen Krieges in der Ukraine sehr wichtig geworden ist. Ein besonderes Problem ist das Nachbarland Serbien, das offenbar nicht akzeptieren kann, dass der Kosovo als unabhängige Nation existiert. Erst vor kurzem kam es wieder zu einem Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien. „Wie ist der Stand der Dinge und wie kann die EU helfen?“, so Ischingers Frage an die Präsidentin.

Die vergleicht das Verhalten Serbiens mit dem Russlands, das souveräne Nachbarstaaten nicht als unabhängig anerkennt und sie nur als vorübergehend betrachtet. „Serbien glaubt, dass es über unser Schicksal entscheiden könne, nachdem es einen Völkermord an unserem Volk begangen hat, was absolut inakzeptabel ist. Serbien hat sich nie entschuldigt, nie Reue gezeigt und die Täter nie vor Gericht gestellt. Und es gibt immer noch unzählige Massengräber in ganz Serbien mit Vermissten aus dem Kosovo, aus Bosnien-Herzegowina, aus Kroatien.“
Was im Nordkosovo geschehe, müsse im geopolitischen Kontext des russischen Einflusses auf Serbien gesehen werden, das zu einem russischen Stellvertreter geworden sei, um den westlichen Balkan zu destabilisieren und die auf Werten basierenden Systeme der Europäischen Union und der NATO zu bekämpfen. „Indem sie uns bekämpfen, bekämpfen sie euch alle“, so die Präsidentin. „Serbien spielt jede Melodie jede einzelne Melodie, die Putin spielt, und Aleksandar Vučić tanzt nach Putins Pfeife.“ Diese Art von Spannungen würde die gesamte Region zurückwerfen.

Sie werde mit Serbien nicht über den Status des Kosovo diskutieren, sagte sie. Diese Frage sei „ein für alle Mal geklärt, das ist eine unumkehrbare Realität“. Sie betonte, dass das Kosovo die bilateralen Beziehungen zwischen zwei unabhängigen Ländern diskutieren möchte, wie zum Beispiel Themen wie Personalausweise, die Anerkennung von Dokumenten usw. Bislang habe Serbien die meisten der Vereinbarungen nicht umgesetzt. Stattdessen stelle es Panzer an der Grenze auf. Kürzlich wurde im russischen Staatsfernsehen ein Dokumentarfilm gezeigt, in dem Serbien ermutigt wurde, den Kosovo durch einen Krieg zurückzuerobern. Die internationale Gemeinschaft solle dem Kosovo helfen, nicht nur sein eigenes Land und seine territoriale Integrität zu verteidigen, „sondern auch das, was wir gemeinsam aufgebaut haben“, denn das sei es, was sie – Serbien und Russland – ins Visier genommen hätten.

Präsidentin Osmani-Sadriu wies darauf hin, dass Serbiens Präsident Aleksandar Vučić russischen Oligarchen, die in Deutschland und anderen EU-Ländern auf der Sanktionsliste stehen, in Belgrad einen sicheren Hafen biete. Mehr als 300 Unternehmen hätten in Belgrad Büros eröffnet. An der Grenze zum Kosovo soll es ein so genanntes russisches humanitäres Zentrum geben, das nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums ein russisches Spionagezentrum sei. Es gäbe Pläne, ein russisches Verteidigungsbüro in Belgrad zu eröffnen.
Der Kosovo sei zu 100 % auf EU-Kurs, so Osmani-Sadriu. Serbiens Präsident Vučić versuche jedoch, sowohl auf Moskaus als auch auf EU-Pfaden zu wandeln. Dies werde nicht funktionieren. „Die Geschichte zeigt und lehrt uns, dass Appeasement immer nur Autokraten ermutigt und stärkt. Ich denke, es wäre falsch, diesen Weg fortzusetzen“. Sie sagte, die EU müsse direkter und unnachgiebiger in ihrem Handeln und ihrer Politik gegenüber Serbien sein, „um Serbien selbst zu helfen, sich von Putin zu lösen.“ Alles andere würde zu einer weiteren Destabilisierung des Kontinents führen.

Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Italien und des anhaltenden Widerstands von Viktor Orban gegen bestimmte Brüsseler Entscheidungsvorschläge bestehe ein gewisses Risiko, dass die EU an der Frage der Russland-Sanktionen zerbreche, resümierte Wolfgang Ischinger. Es sei wichtig, sich vor Augen zu führen, dass dies nicht nur ein großes Problem für unseren Umgang mit dem russischen Krieg in der Ukraine sei, sondern auch bedeuten würde, dass wir der Politik Russlands und stellvertretend auch der Politik Serbiens freien Lauf lassen würden. Und das würde schließlich auch Westeuropa betreffen, denn all diese Themen, Konflikte und Kriege seien miteinander verbunden. Daher müsste die so genannte „Zeitenwende“ einen umfassenden Ansatz für diese Fragen und ungelösten Konflikte bieten.

Auf die Frage von General Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der US Army Europe, ob die Präsidentin mit dem Einsatz der KFOR-Truppen zufrieden sei, antwortete sie: „Wir sind mit der KFOR zufrieden, aber wir würden uns wünschen, dass die NATO etwas anderes tut: dass sie uns reinlässt. Denn in der NATO zu sein bedeutet, sicher zu sein. Der Kosovo hat seit seiner Befreiung im Jahr 1999 zu Frieden und Stabilität in der Region beigetragen, und unsere Armee wurde mit Hilfe von NATO-ausgebildeten NATO-Ländern, die bereits an friedenserhaltenden Missionen an der Seite der US-Armee teilgenommen haben, absolut nach NATO-Standards aufgebaut. Jetzt ist es an der Zeit, den Beitrittsprozess sowohl für das Kosovo als auch für Bosnien und Herzegowina zu beschleunigen, da dies ein großer Beitrag zur weiteren Stärkung der Stabilität in unserer Region wäre. Schließlich hat auch der Beitritt Albaniens, Nordmazedoniens und Montenegros zur NATO zu mehr Stabilität in unserer Region geführt.“

Sie wies darauf hin, dass vor einem NATO-Beitritt die Mitgliedschaft in „Partnership for Peace“ (ein Programm für die militärische Zusammenarbeit zwischen der NATO und 20 europäischen und asiatischen Ländern, die nicht der NATO angehören) erforderlich sei und einstimmig beschlossen werden müsse. Es bestehe jedoch die merkwürdige Situation, dass vier Länder, die an diesem Programm der Partnerschaft für den Frieden teilnehmen, den Kosovo noch immer nicht als unabhängigen Staat anerkennen. Aber Serbien, das der NATO nie beitreten wollte, sei Teil der Partnerschaft für den Frieden. Und auch Lukaschenkos Weißrussland wurde erst vor wenigen Wochen erlaubt, der Partnerschaft für den Frieden beizutreten.

Abschließend sagte die Präsidentin, sie hoffe sehr, dass es Frieden für alle Menschen in der Region geben werde. Und dass der Tag kommen werde, an dem der Kosovo neben Armenien und Aserbaidschan und anderen Ländern dieser Region in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und in Menschenrechtsorganisationen, die sich für einen besseren Schutz der Menschenrechte einsetzen, vertreten sein werde.

Fazit: Die Regierungen der Balkanstaaten sind zum Teil tief enttäuscht von der EU, gleichzeitig gibt es zu wenig Fortschritte bei ungelösten Konflikten. Andererseits sind der Kosovo, der Balkan und ganz Südosteuropa für die Stabilität, Belastbarkeit und Souveränität der EU von immenser Bedeutung. Doch der langsame Prozess des EU-Beitritts hat zu Verstimmungen und einer teilweisen Abkehr von der EU gegenüber Russland geführt. Die Region muss endlich zu einer außenpolitischen Priorität für die gesamte EU werden, um neue Risiken der Instabilität und der Zentrifugalkräfte zu minimieren und Europa weiter zu schwächen.

Copyright der Videoaufzeichnung: @Presidency of Kosovo