Krieg und Frieden. Eine neue Weltordnung
Donnerstag, 15. September 2022, Orangerieschloss Sanssouci, Potsdam
„In diesen wenigen Stunden wurde eine außerordentlich breite Palette von Themen von einer ebenso breiten Palette von Rednern behandelt“, fasste Hella Pick, Doyenne des M100 Sanssouci Colloquiums und seit der ersten Ausgabe im Jahr 2005 dabei, das 18. M100 Sanssouci Colloquium zusammen. „Der Titel unserer Tagung lautet ‚Krieg und Frieden – Eine neue Weltordnung‘. Das ist ein weit gefasster Auftrag, und ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet hat, dass ein Entwurf dabei herauskommt! Das gezeigte Fachwissen war erstaunlich. Die tiefe Besorgnis, wenn nicht gar Bedrückung, war unübersehbar. Die Berichte der Strategischen Arbeitsgruppen haben uns allen bereits einen Überblick über die Diskussionen und die Schlussfolgerungen gegeben, zu denen wir gelangt sind. Ich bin sicher, dass wir alle, die wir heute hier zusammengekommen sind, der Meinung sind, dass die Welt und insbesondere Europa zu einem gefährlichen Brandherd geworden ist. Es war ernüchternd, den Analysen von Experten über die wachsenden Gefahren für die Demokratie zuzuhören oder mehr über den Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf Europa und die Welt im Allgemeinen zu erfahren. Wenn wir uns unserer Medienwelt zuwenden, müssen wir immer wieder an die Bedrohung der Rede- und Medienfreiheit erinnert werden. Und es war in diesem Zusammenhang ebenso wichtig, sich mit dem langjährigen Kampf Europas um seine Autonomie auf dem digitalen Schlachtfeld zu befassen.“
PRÄSENTATION M100YOUNG EUROPEAN JOURNALISTS WORKSHOP
Eingeleitet wurde der Konferenzteil durch die Präsentation des M100 Young European Journalists Workshop, der in den Tagen vor der Konferenz mit 21 TeilnehmerInnen aus 17 europäischen Ländern zum Thema Desinformation und Fake News in der Friedrich Naumann Stiftung in Berlin stattgefunden hat. Die Teilnahme am M100 Sanssouci Colloquium war für die jungen JournalistInnen der Abschluss der Workshop-Woche. Hier finden Sie die Zusammenfassung des Seminars in schriftlicher Form und als Video.
ERÖFFUNGSREDE
„Ich mache keine Vorhersagen über den Krieg, außer einer einzigen: Die Ukraine wird gewinnen“, sagte Olga Rudenko in ihrer bewegenden und nachhaltig beeindrucken Eröffnungsrede. Olga Rudenko ist Chefredakteurin der ukrainischen Nachrichtenplattform „The Kyiv Independent“, einer unabhängigen, englischsprachigen und bereit mehrfach preisgekrönten Nachrichtenplattform Medien-Start-up. „Es ist eine Frage der Zeit und des Preises“, so Olga Rudenko weiter. „Und das wird von den Partnern der Ukraine entschieden werden. Wenn Russland den Westen mit seinen falschen Narrativen und Desinformationskampagnen bricht, wird der Preis für den Sieg unsagbar hoch sein. Steht der Westen jedoch fest hinter der Ukraine, wird der Sieg schneller eintreten und viele Menschenleben werden verschont bleiben.“
Die gesamte Rede können Sie hier ebenso nachlesen wie als Videoaufzeichnung anschauen.
STUDIE “HIGH EXPECTATIONS, LOW TRUST”
Als weiteres Food for Thoughts präsentierte schließlich Hardy Schilgen, Projektleiter von eupinions, eine Studie über „Die europäische öffentliche Meinung in krisengeschüttelten Zeiten“. Die Studie (Autoren: Isabell Hoffmann und Hardy Schilgen) wurde exklusiv für das M100 Sanssouci Colloquium durchgeführt. Die Daten wurden im Juni 2022 mit fast 12.000 Online-Interviews erhoben. Sie sind repräsentativ für die EU27 als Ganzes und für die einzelnen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Belgien und die Niederlande. Kurz gesagt, die Ergebnisse sind folgende: Die EU-Bürger wünschen sich eine aktivere Europäische Union auf der Weltbühne und sind im Allgemeinen mit dem politischen System der EU zufrieden. Gleichzeitig sind ihre kurzfristigen Erwartungen an die EU, ihr diesbezügliches Potenzial zu erfüllen, eher begrenzt und das Vertrauen in die „Akteure“ der Politik bleibt gering.
STRATEGIC WORKING GROUPS
I. „Europäische digitale strategische Autonomie: Ein Allheilmittel auf dem internationalen digitalen Schlachtfeld?
Impuls I: Huberta von Voss, Geschäftsführerin, ISD Deutschland
„Während wir und andere Organisationen das komplexe Ökosystem der demokratiefeindlichen Kräfte aufgedeckt haben, sind unsere Gesellschaften bislang nicht in der Lage gewesen, eine strategische Antwort zu finden, die den Herausforderungen angemessen ist, mit denen wir konfrontiert sind“, erklärte Huberta von Voss. „Da wir technologisch immer
besser in der Lage sind, Bedrohungen wie die Zunahme von terroristischen und extremistischen Inhalten, Hass und Desinformation auf großen und kleinen Plattformen zu beobachten, fehlt es an unserem Engagement, die Demokratie nachhaltig und mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen.“ Laut Huberta von Voss hat die Verstärkung und gezielte Verbreitung antidemokratischer Inhalte durch die Produkte und Dienste von Social-Media-Unternehmen „ein Ausmaß erreicht, das unsere schlimmsten Erwartungen übersteigt.“ Sie bezog die Verantwortung der Medienunternehmen mit ein, die es sich „nicht mehr leisten können, auf dekontextualisierte, verschwörerische und sensationslüsterne Inhalte hereinzufallen, um das Engagement auf ihren eigenen Plattformen zu fördern, wenn sie weiterhin in einem stabilen Umfeld arbeiten wollen. Demokratie ist der einzige Rahmen, der es Ihren Unternehmen ermöglicht, zu
florieren“. Deshalb müssen auch die traditionellen Medien aufhören, die Demokratie durch mangelnde Sorgfalt zu beschädigen und ihre ethischen Richtlinien an das digitale Zeitalter anpassen, sagte sie. „Wir beobachten, dass immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure die Szene betreten, sie voneinander lernen, sich gegenseitig inspirieren und sich sogar gegenseitig unterstützen. Nationale Phänomene haben sich in transnationale Herausforderungen verwandelt. Das Internet ist zu einem produktiven Arbeitsraum für schlechte Akteure geworden. Ihre Strategie ist es, Vertrauen und Demokratie zu beschädigen. Das Aufkommen alternativer Medienplattformen, die Blockchain-Technologien als Finanzinstrument nutzen, erinnert uns daran, dass sich diese Bedrohungen in ihrer Komplexität weiterentwickeln werden.
Die Migrationskrise in Europa, die globale Pandemie, die Polarisierung der Vereinigten Staaten, der wirtschaftliche Abschwung, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der chaotische Abzug aus Afghanistan, die Klima- und Energiekrise – wir gehen durch einen perfekten Sturm. Wir erleben eine hybridisierte Landschaft inmitten ständiger technologischer Innovation. Jeder Versuch, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, muss eine 360-Grad-Perspektive einnehmen, um ausreichend umfassend, präventiv, vorausschauend, agil, horizontal und nuanciert zu sein.“
Huberta von Voss betonte, dass das Internet „keine Umgebung für freie Meinungsäußerung ist. Es ist eine Umgebung der kuratierten Rede. Die algorithmische Verstärkung sensationalistischer Inhalte durch die Plattformen selbst ist das Herzstück ihres Geschäftsmodells. Wenn wir aus den Erfahrungen mit dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich oder den letzten Präsidentschaftswahlen in den USA keine Lehren in Bezug auf die Auswirkungen von Desinformation ziehen, setzen wir uns einer Reihe von Bedrohungen aus dem In- und Ausland aus. Die Zukunft der Demokratie hängt weitgehend von unserer Fähigkeit ab, ein Internet zu schaffen, das für die Demokratien arbeitet – und nicht gegen sie.“ Das EU-Gesetz über digitale Dienste (DSA) und das EU-Gesetz über digitale Märkte (DMA) weisen in die richtige Richtung, sagte sie. Nun liege es an den einzelnen EU-Partnerregierungen, dafür zu sorgen, dass der neue Rahmen für unabhängigen Datenzugang, algorithmische Gestaltung, Transparenz und Rechenschaftspflicht umgesetzt und durchgesetzt wird. „Wir hoffen, dass diese vorwärtsweisende Gesetzgebung aus Europa einen starken Impuls an unsere transatlantischen und pazifischen Partner sendet, um eine globale Vision zu entwickeln, wie man die Demokratie im digitalen Zeitalter am besten schützen kann.“
Impuls II: Prof. Dr. Paul Timmers, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Oxford, Oxford Internet Institute, Belgien
„Die globalen Herausforderungen wie Pandemie, Klimawandel, Cyberkriminalität sowie globale bösartige Mächte scheren sich nicht um unsere Souveränität. Sie respektieren keine Grenzen. Um unsere Souveränität zu wahren, brauchen wir die nötigen Fähigkeiten, Kapazitäten und Kontrolle, also strategische Autonomie“, betonte Professor Paul Timmers in seinem Impuls. Die Eröffnungsrednerin Olga Rudenko habe allen vor Augen geführt, was europäische Souveränität bedeutet, wenn Souveränität, Freiheit und Demokratie bedroht sind, wie in der Ukraine. Die europäische Souveränität ist heute viel klarer als noch vor vier Jahren, aber sie ist durch drei Kräfte bedroht:
1. Geopolitisch von China und Russland, die uns daran erinnern, wie wichtig Souveränität ist, und dies auch in den kommenden Jahren tun werden.
2. die digitale Disruption und die Bedrohung durch die großen digitalen Plattformen, einschließlich des Kampfes gegen Desinformation in den sozialen Medien.
3. globale Herausforderungen, die die Souveränität bedrohen, wie COVID 19, Klimawandel, Cyberkriminalität usw., die keine Grenzen respektieren, sondern unsere Souveränität untergraben.
„Wenn wir unsere Souveränität schützen, verteidigen und bewahren wollen, brauchen wir strategische Autonomie“, betonte Timmers. Das hat nichts mit Autarkie zu tun, damit, dass wir uns abschotten und alles selbst machen. Vielmehr müssen wir mit gleichgesinnten Partnern zusammenarbeiten – wie den Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea, Kanada, Südafrika, dem Vereinigten Königreich und möglicherweise Indien. „Wir müssen verstehen, dass wir strategische Abhängigkeiten mit anderen haben und weiterhin haben werden. Und wir sollten uns verpflichten, an globalen Lösungen zu arbeiten, die die Souveränität von niemandem bedrohen. Timmers nennt als Beispiel die Bekämpfung des Ozonlochs, die eine globale Anstrengung war, weil sie die Souveränität aller bedrohte. Timmers zufolge ist es wichtig, gemeinsam und schnell zu handeln und bei der Art und Weise, wie wir handeln, innovativ zu sein. Inzwischen würden in Europa Gesetze – zum Beispiel zu digitalen Märkten und digitalen Dienstleistungen – viel schneller verabschiedet als früher. Und auch in Bereichen wie der öffentlichen Gesundheit, die eigentlich nationale Angelegenheiten sind, gibt es eine engere Zusammenarbeit. Auch im Bereich der Verteidigung ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf europäischer Ebene größer geworden.
Mehr europäische Souveränität bedeute nicht unbedingt weniger nationale Souveränität, so Timmers. Der digitale COVID-Pass zum Beispiel schränke die nationale Souveränität nicht ein, sondern erhöhe die europäische Glaubwürdigkeit und in gewissem Sinne auch das Ansehen Europas in der Welt.
Auch eine starke Cyberverteidigung und Cyberoffensive seien „essentiell für Krieg und Frieden, wie wir auch in der Ukraine sehen“, so Timmers. „Aber die Lücken müssen geschlossen werden. Wir sind zu schwach bei der Antizipation von Bedrohungen und Auslösern für Angriffe und haben noch keinen proaktiven Ansatz für die Cybersicherheit“. Außerdem müssen wir „Europa in der Welt in gleichgesinnten Partnerschaften besser positionieren, zum Beispiel bei der Sicherheit der IKT-Lieferkette mit unseren transatlantischen Partnern, aber auch bei globalen Lösungen.“
Timmers schloss mit der Feststellung, dass er nicht glaube, dass digitale strategische Autonomie ein Allheilmittel auf dem internationalen digitalen Schlachtfeld sei. Sie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Souveränität. Es ist existentiell, alle Mittel für Demokratie und Freiheit und für Souveränität zu mobilisieren.
Das Ergebnis der Strategischen Arbeitsgruppe I wurde von Dr. Antonio Nestoras, Leiter der Abteilung Politik und Forschung beim European Liberal Forum (ELF) zusammengefasst. Er erklärte, dass es sich bei diesem Thema um ein sehr komplexes politisches Konzept handele, das viele verschiedene Bereiche betreffe – von der Sicherheit über die Wirtschaft bis hin zu den digitalen Online-Beziehungen – und dass wir die gleiche Frage für jeden dieser Bereiche separat beantworten müssten. Zum Beispiel: Ein gewisses Maß an digitaler Autonomie kann machbar und wünschenswert sein, wenn wir über Cybersicherheit, Online-Verschlüsselung oder Datenschutz sprechen. In anderen Fällen kann diese digitale strategische Autonomie weder machbar noch wünschenswert sein.
Keypoints:
• Zurzeit ist es für Europa schwierig, autonom zu sein. Dies wirft für die politischen Entscheidungsträger in Brüssel und den europäischen Hauptstädten alle möglichen Fragen und politischen Rätsel auf, denn das ist das Wesen der Strategie: zu entscheiden, wo und wann man autonom sein sollte.
• Das große Glücksspiel für die Zukunft: die Entscheidung, wann wir mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten müssen, wie die Bedingungen für das Engagement und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aussehen werden oder welche Art von institutionellen Regierungen die transatlantische Partnerschaft in Zukunft haben wird, um effektiv zu sein.
• Wir müssen die Bedingungen des Engagements mit unseren (nachhaltigen) Rivalen neu definieren: Welche Rolle spielt China bei der 5G-Konnektivität, der 5G-Entwicklung und dem 5G-Rollout auf unserem Kontinent? Wir müssen bei der Regulierung verschiedener Sektoren sehr spezifisch und vorsichtig sein.
• Wie ist dies mit unseren Werten vereinbar, die die EU in den letzten sieben Jahrzehnten gefördert und geschützt hat? Mit anderen Worten: Wir sollten keine Gesetze erlassen oder Online-Rahmenwerke oder industrielle Rahmenwerke schaffen, die nicht mit unseren Werten vereinbar sind. In dieser Hinsicht müssen wir auch den Schutz der Demokratie berücksichtigen – es ist ein Balanceakt.
• In Brüssel gibt es eine große Autonomie-Müdigkeit in Bezug auf digitale Strategien. Auf der anderen Seite wird sie auf der höheren Verwaltungsebene als wichtiges Ziel für die EU auf den Tisch gelegt. Man kann sehen, dass die strategische digitale Autonomie, obwohl sie zunächst als französisches, gaullistisches Konzept verdächtigt wurde, jetzt die Runde macht, sogar in der öffentlichen Debatte in Deutschland, und von den skandinavischen Ländern und im Süden ernsthaft in Betracht gezogen wird.
• Trotz eines gewissen Pessimismus und anfänglicher Skepsis wird das Konzept die politische Debatte in Brüssel und darüber hinaus in absehbarer Zeit beherrschen.
• Wir sollten beobachten, was in den Vereinigten Staaten geschieht, und aus den guten und schlechten Erfahrungen dort lernen.
• Wenn die EU vorankommen will, muss sie einen starken gemeinsamen Markt schaffen. Jeder nationale Markt allein ist zu klein, um erfolgreich zu sein. Das ist die einzige wirkliche Chance, unsere eigene starke europäische Wirtschaft im digitalen Bereich zu entwickeln.
• China ist kein Modell, dem man folgen sollte. Wir teilen keine Werte mit China – weder wie sie das Internet nutzen, noch wie sie es regulieren und kontrollieren. Das ist das genaue Gegent
eil von dem, was die EU mit der Regulierung in Europa erreichen will.
• Wir brauchen eine engere Zusammenarbeit in der Europäischen Union und ein größeres Bewusstsein und Interesse für dieses ebenso wichtige wie weitgehend vernachlässigte Thema. Denn das Thema betrifft uns alle: unseren Wohlstand, unseren Konsum, die Art und Weise, wie wir leben, welche Filme wir sehen und wie, welche Musik wir hören, wie wir Online-Plattformen und das Internet im Allgemeinen nutzen.
• Dafür brauchen wir Regeln, die die Verbraucher nicht einschränken und kontrollieren, sondern einen europäischen Marktplatz für digitale Geschäfte ermöglichen, damit die EU auch in diesem Bereich wettbewerbsfähig wird.
• Da die Interessen der EU nicht immer mit denen der USA übereinstimmen, müssen wir in der Lage sein, eigenständig zu handeln. Daher sollte eine institutionelle Struktur für die transatlantische Partnerschaft geschaffen werden, beispielsweise nach dem Vorbild des Handels- und Technologierats (TTC), eines transatlantischen politischen Gremiums, das als diplomatisches Forum für die Koordinierung der Technologie- und Handelspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dient. Dieses Modell könnte auf andere Bereiche übertragen werden, um dem wertvollsten und ältesten Bündnis der EU eine gewisse Struktur zu geben und Foren für die transatlantische Zusammenarbeit zu schaffen.
Diese Veranstaltung wurde vom Europäischen Liberalen Forum unterstützt. Kofinanziert durch das Europäische Parlament. Die hier geäußerten Ansichten sind die des/der Redner(s) allein. Diese Ansichten spiegeln nicht notwendigerweise die des Europäischen Parlaments und/oder des Europäischen Liberalen Forums wider.
Diese Veranstaltung wurde vom Europäischen Liberalen Forum unterstützt. Kofinanziert durch das Europäische Parlament. Die hier geäußerten Ansichten sind die des/der Redner(s) allein. Diese Ansichten spiegeln nicht notwendigerweise die des Europäischen Parlaments und/oder des Europäischen Liberalen Forums wider.
II. „Die Rolle Europas in einer neuen Weltordnung“
Impuls I: Dr. Julia De Clerck-Sachsse, EU-Diplomatin und Academic Visiting Senior Fellow GMF, Brüssel
In ihrem Impuls sagte Dr. Julia De Clerck-Sachsse, dass „Europas geopolitisches Erwachen eindeutig mit dem Krieg in der Ukraine verbunden und untrennbar damit verbunden ist“. Für die Stellung Europas in der Welt sind ihrer Meinung nach folgende Punkte besonders wichtig
• Die dauerhafte Unterstützung für die Ukraine, sowohl kurz- als auch langfristig. Gerade in diesen Tagen wird deutlich, dass sich diese Unterstützung auszahlt und welche Vorteile sich aus den Entwicklungen vor Ort ableiten lassen. Energiesicherheit, Energieunabhängigkeit von Russland, darüber wird schon lange geredet, aber jetzt ist es sehr aktuell geworden.
• Was kann Europa tun, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf das Vertrauen der Bürger nicht untergräbt, sondern dass es den Bürgern hilft, diese Last auch zu tragen.
• Partnerschaften in der Welt.
• Die Stärkung Europas in der Welt und seine Ziele.
Anschließend ging sie auf drei weitere wichtige Themen ein:
1. EU und EU-Erweiterung:
„Wenn Europa in der Welt eine Rolle spielen will, muss es sich unbedingt auf sein nahes Ausland konzentrieren“, sagte Julia De Clerck-Sachsse. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Frage der EU-Erweiterung auf die Tagesordnung gerückt. Der Ukraine und Moldawien wurde der Status eines Kandidatenlandes zuerkannt. Doch in der Region gibt es viel Frus
tration und Enttäuschung über die Europäische Union. Die Konzentration auf den Balkan wird für die Fähigkeit der Europäischen Union, ihre Sicherheit, ihre Lebensweise, ihre Werte und ihre Interessen in der Welt zu verteidigen, entscheidend sein. Es müssen mehr Anstrengungen unternommen werden, um diese Region enger an Europa zu binden.
Ein weiterer Punkt ist Afrika, so Julia De Clerck-Sachsse weiter. Der afrikanische Kontinent stehe im Zentrum der Entwicklung einerseits und der Migration andererseits und sei auch die neue strategische Grenze in der Konfrontation mit China. Der gesamte Kontinent müsse im geopolitischen Fokus Europas, der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit und der Verteidigungskooperation stehen. De Clerck-Sachsse betonte, dass es bei Russlands Krieg gegen die Ukraine „um uns alle geht, dass Europa überall für alle eintritt. Dies ist kein westlicher Krieg. Und ich denke, es gibt noch mehr zu tun“.
2. Europäische Verteidigung:
Zum ersten Mal hat Europa die Ukraine mit koordinierten Waffenlieferungen in einem noch nie dagewesenen Umfang unterstützt. Julia De Clerck-Sachsse betonte, dass dies ein großer Schritt für Europa sei, aber Europa müsse noch viel mehr tun, um ein echter Akteur im Bereich der Verteidigung zu werden. Darüber hinaus müsse die Militär-, Außen- und Sicherheitspolitik mit der Wirtschafts-, Klima- und Energiepolitik verknüpft werden: „Wir sehen gerade am Beispiel des Krieges in der Ukraine, wie diese Bereiche zusammenarbeiten müssen.“ Darüber hinaus muss Europa strategischer mit seinen Partnern zusammenarbeiten, um seine Positionen zu koordinieren und sicherzustellen, dass seine Position in der Welt gehört wird. Und nicht in Silos denken, wie es so oft der Fall ist.
3. Desinformation:
Europa erlebt derzeit nicht nur einen heißen Krieg auf seinem Kontinent, sondern auch einen Kampf der Narrative. Diesen Kampf der Erzählungen zu gewinnen, ist ebenso wichtig wie den Krieg vor Ort zu gewinnen. Russland versucht, die Europäer, den Westen, zu spalten und zu erobern. „Die Europäische Union hat eine Desinformations-Taskforce eingerichtet, drei Taskforces“, so Julia De Clerck-Sachsse. „Sie muss sich nicht nur mit der Entlarvung von Fake-Stories befassen, sondern auch mit der proaktiven Verbreitung dieser Narrative in der Welt. Ich denke, das ist es, was wir alle hier tun können und wozu wir beitragen können, egal ob wir aus der Regierung, der Zivilgesellschaft oder den Medien kommen. Wir müssen herausfinden, wie wir alle zusammenarbeiten können, um dies zu erreichen. Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich ein Weckruf für Europa, der zeigt, dass es sich „auf der globalen Bühne positionieren muss“, beendete sie ihren Impuls. Aber ob er zu einem dauerhaften geopolitischen Erwachen führen wird, ist eine offene Frage: „Wird dies wirklich die Kräfte nachhaltig mobilisieren, oder wird die toxische Mischung aus Desinformation, steigenden Energiepreisen und dem Gespenst des Populismus dazu führen, dass dieser Weckruf verpufft, bevor er wirklich zu einem dauerhaften geopolitischen Aufbruch führen kann? Ich denke, das liegt an uns allen.“
Impuls II: LTG (Ret) Ben Hodges, Senior Advisor, Human Rights First, USA
Ben Hodges gab einen Einblick in die amerikanische Sicht auf Europa und seine Rolle in der Welt. Er sagte, der Krieg gegen die Ukraine sei eine Katastrophe für die Russische Föderation und das Putin-Regime. Es sei zu früh, um mit der Planung von Siegesparaden zu beginnen, aber wir haben einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Er glaubt, dass die Ukrainer die russischen Streitkräfte noch in diesem Jahr auf die Linie vom 23. Februar 2022 zurückdrängen werden und dass „die Krim wahrscheinlich Mitte nächsten Jahres vollständig befreit sein wird“.
Die erste Frage, die immer wieder auftauche, sei die Frage nach den Atomwaffen. Putin ist in die Enge getrieben, und ja, er könnte Atomwaffen einsetzen, er hat Tausende davon. Dennoch glaubt Ben Hodges nicht, dass Putin sie einsetzen wird. Denn Atomwaffen sind am effektivsten, solange er sie nicht einsetzt, und sie dienen nur zur Abschreckung. Jeder hat Angst vor einem Dritten Weltkrieg, aber ein Atomschlag in der Ukraine, so betonte General Hodges, würde den russischen Streitkräften keinen Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen. Studien haben gezeigt, dass eine taktische Nuklearwaffe nicht mehr bewirken kann als das, was die Russen in den letzten sechs Monaten bereits mit Raketen erreicht haben, die viele unschuldige ukrainische Menschen getötet haben.
Zweitens: Wenn Russland eine taktische Atomwaffe einsetzen würde, könnten sich die Vereinigten Staaten nicht mehr heraushalten. Sie müssten darauf reagieren, nicht unbedingt mit einem nuklearen Gegenschlag, aber sie müssten reagieren, weil China, Nordkorea und der Iran zusehen, sagte General Hodges. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Vereinigten Staaten nicht auf eine Atomwaffe reagieren würden, „dann stünden wir vor viel schlimmeren Herausforderungen“. Es gäbe viele nicht-nukleare Optionen, die das Pentagon für Präsident Biden ausgearbeitet habe. Daher wäre eine Entscheidung des amerikanischen Präsidenten nicht unbedingt eine nukleare. Die NATO ist jedoch ein Nuklearbündnis, das ernsthaft über eine Antwort nachdenken müsste. General Hodges hält es daher für „sehr unwahrscheinlich, dass der Kreml eine Atomwaffe speziell in der Ukraine einsetzen wird“. Er glaubt auch nicht, dass Putin und die ihn umgebenden Oligarchen das Land in den totalen Ruin stürzen wollen. Deshalb, so General Hodges abschließend, sollten wir aufhören, „uns selbst abzuschrecken“.
Ein dritter Punkt betrifft Deutschland, Amerikas wichtigsten Verbündeten. Seit seinem ersten Tag im Amt ist Präsident Biden „einige politische Risiken eingegangen, um eine Beziehung wiederherzustellen, die von der vorherigen Regierung zerstört worden war“. Es gibt Millionen von Amerikanern, Polen, Esten, Briten und anderen, die sich fragen, welches Land mehr für seine Vergangenheit getan hat als Deutschland? Hier geht es um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten, und kein Land hat öfter „nie wieder“ gesagt als Deutschland. Wie könnte Deutschland also jetzt abseits stehen und keine aktive Rolle spielen, um Russland zu stoppen? „Im Vergleich zu Estland, Lettland, Litauen, Polen und anderen Ländern tut Deutschland sicherlich nicht genug“, sagte General Hodges. „Why is that? Was ist der Grund?“
Aber de facto hat Deutschland der Ukraine sehr viel gegeben, betonte er. Dennoch werde Deutschland ständig angegriffen und gefragt, warum das mächtigste und wichtigste Land in Europa nicht mehr tue. Laut Ben Hodges liegt das auch an der gescheiterten Kommunikationsstrategie Deutschlands. Er weiß von mindestens fünf verschiedenen Erklärungen Deutschlands, warum es keine Panzer liefern kann. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der Regierung von Amerikas wichtigstem Verbündeten.
Deutschland müsse einen substanziellen, bedeutenden Beitrag zum ukrainischen Sieg leisten, sagte General Hodges. Wenn das nicht geschehe, „wird niemand mehr Deutschland respektieren, nicht einmal Russland“.
Nach Ansicht von General Hodges hat sich der Schwerpunkt der Macht in Europa bereits nach Osten verlagert. Estland, Lettland, Litauen und Polen seien jetzt „das Zentrum der Schwerkraft“. Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO werde die geografische Verschiebung des Machtzentrums noch verstärken, worüber Deutschland und Frankreich besorgt seien. Und obwohl Großbritannien nicht mehr Teil der EU ist, füllt es das von Deutschland geschaffene Vakuum und hat sein militärisches Engagement verdoppelt.
Die USA hingegen befinden sich derzeit in einer sehr schwierigen Lage. Einer der Gründe, warum er sich Human Rights First angeschlossen hat, war, so Ben Hodges, dass er sehr besorgt über die Demokratie in seinem Land war: über die Bedrohung des Wahlrechts, über den Extremismus, der sich sogar im Militär einschleicht, und vieles mehr. Dennoch ist er überzeugt, dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin in Europa engagieren werden, „weil unser Wohlstand direkt mit dem europäischen Wohlstand verbunden ist, der von der Stabilität und Sicherheit in Europa abhängt“. Er glaubt, dass es in den nächsten fünf Jahren zu einem kinetischen Konflikt mit China kommen wird. Daher muss sichergestellt werden, dass Europa in der Lage ist, sich ohne eine große amerikanische Präsenz zu verteidigen. In Deutschland seien ohnehin nur 35.000 amerikanische Soldaten dauerhaft stationiert, was kaum die Hälfte der Größe des Stadions von Eintracht Frankfurt ausmache. Eine umfassende europäische Verteidigungsstrategie und -fähigkeit ist für die Zukunft unerlässlich.
Ben Hodges ist besorgt, dass wir am Anfang des Auseinanderbrechens der Russischen Föderation stehen. Darauf müssen wir, Europa und die Welt, vorbereitet sein. Das Auseinanderbrechen Russlands würde eine weitere Zersplitterung bedeuten: Innerhalb Russlands würden Teile Tschetscheniens und verschiedene ethnische Gruppen wegfallen; in der Nachbarschaft wahrscheinlich Länder wie Kasachstan und Weißrussland, die im Moment „an einen Körper gebunden“ sind. „Sind wir darauf vorbereitet?“, fragte Hodges. „Was passiert mit all den Atomwaffen? Was passiert mit der Energieinfrastruktur? Russland ist in jeder internationalen Organisation vertreten. Wie sieht das aus?“ Zur Veranschaulichung zitierte General Hodges eine Passage aus Ernest Hemingways früher Novelle „The Sun Also Rises“, in der ein Mann einen anderen fragt: Wie konntest du bankrott gehen? Und der andere antwortet: Allmählich und dann plötzlich. Und ich bin besorgt“, sagte der General, „das ist es, was uns in Russland in den nächsten fünf Jahren bevorsteht“.
Die Ergebnisse der Strategischen Arbeitsgruppe II wurden von Dr. Ali Fathollah-Nejad, McCloy Fellow on Global Trends des American Council on Germany (ACG), vorgestellt. In der Diskussion wurde betont, dass Europa hinter der Rolle der Armee und des Militärs zurückbleibt, um eine vollwertige Weltmacht zu werden. Die Frage ist, wie eine neue Weltordnung definiert werden könnte. Eine post-unitäre Weltordnung mit dezentraler wirtschaftlicher Schwerkraft, die sich vom Atlantik zum Pazifik verlagert und sich nicht in geopolitischen Machtverschiebungen niederschlägt?
Keypoints:
• Als es um die Unterstützung Berlins für die Ukraine ging, war die Enttäuschung nicht nur bei den ukrainischen Teilnehmern, sondern auch bei anderen Teilnehmern groß.
• Deutschland konnte aufgrund des Vertrauensdefizits, das in anderen Teilen Europas, insbesondere in Osteuropa, in Bezug auf Deutschland besteht, kaum eine europäische Führungsrolle übernehmen.
• Das Fehlen eines robusten militärischen Rückgrats, auch im Hinblick auf die Enttäuschung anderer Teile Europas, aber auch im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung. Die eupinion-Umfrage, die zu Beginn des Kolloquiums vorgestellt wurde, hat eine große Bereitschaft zu einer robusteren europäischen Politik gezeigt.
• Das Fehlen einer einheitlichen europäischen Außenpolitik, der Wunsch nach Reformen im Bereich der Entscheidungsfindung. All dies sollte geschehen, bevor eine neue Erweiterung in Angriff genommen wird.
• Wenn Europa weltweit ein wichtiger Akteur bleiben will, muss es seine wirtschaftliche Potenz bewahren. Die Frage ist: Wie kann man sie erhalten? Muss sich Europa mit Diktaturen einlassen, um diese wirtschaftliche Machtbasis zu erhalten?
• Sind die europäischen Werte universell? Werden sie in anderen Teilen der Welt sehr stark unterstützt? In einigen Teilen der Welt – zum Beispiel im Nahen Osten, aber auch in der Ukraine – gibt es einen starken Glauben an diese europäischen Werte. Aber diese Werte haben in den westlichen Gesellschaften selbst eine Menge Probleme.
• Die Teilnehmer aus der Ukraine wiesen auf die absurde Situation hin, die durch das Fehlen einer deutschen Führung entsteht. Andere Länder, sei es Polen, seien es die baltischen Länder und sogar ein Land wie die Türkei, werden als energischere Führer und bessere Kämpfer für Freiheit und Demokratie angesehen als Deutschland. Es ist an der Zeit, dass Deutschland die Initiative ergreift, denn sonst würden andere die Lücke füllen.
• Diese Konfliktsituation könnte die Tektonik in der Europäischen Union verändern. Zum Beispiel werden die baltischen Staaten zu einer stärkeren Stimme in der EU.
• In den baltischen Staaten, die mit mehreren Diktaturen und Autokratien wie Weißrussland, Russland und China konfrontiert sind, ist das Gefühl stark, dass sie mehr Solidarität von gleichgesinnten Ländern brauchen, militärisch, politisch und wirtschaftlich.
• Die EU hat ihre Lehren aus der jüngsten Geschichte nicht gezogen. Wie können wir verhindern, dass in Zukunft noch mehr Regierungen wie die ungarische an die Wand gefahren werden? Wird Europa aus seinen Fehlern lernen?
• Europa sollte einen Paradigmenwechsel in der Außenpolitik einleiten und proaktiv mit den Umwälzungen umgehen, die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft stattfinden, wozu auch Regionen und Länder wie Nordafrika (Länder des Arabischen Frühlings), Iran und andere Gebiete gehören.
• Es wurde die Sorge geäußert, dass aufgrund der verfehlten Russlandpolitik und des Krieges in der Ukraine mit all seinen Auswirkungen die EU auseinanderbrechen könnte.
III. „Wie reagieren wir auf die Informationskriegsführung? Können wir Information als europäisches öffentliches Gut zurückfordern?“
Impuls I: Meera Selva, Geschäftsführerin für Europa, Internews, UK
Meera Selvas Organisation Internews wurde gegründet, um unabhängige Journalisten hinter dem Eisernen Vorhang zu fördern, indem sie lokale Journalisten ausfindig machte und ihnen Unterstützung und Ausrüstung gab. Heute untersuchen sie und ihre Kollegen, was es braucht, um ein gesundes Informationsumfeld zu schaffen. Dabei haben sie fünf Elemente ermittelt, die sie für ein gesundes Informationsumfeld für wichtig halten:
1. Wir brauchen gute Informationen. Dazu gehört guter Journalismus, aber auch zuverlässige und aktuelle Daten von Regierungen und akademischen Einrichtungen.
2. Sicherer Zugang zu diesen Informationen. Wir müssen die Informationen ohne Angst vor Verhaftung, Belästigung oder körperlichem Schaden
erhalten.
Meera Selva wies darauf hin, dass Verschwörungstheorien über nationale Grenzen hinweg verbreitet werden, von den Philippinen über Frankreich bis zu den USA. Die Entwicklung verläuft nicht linear, und sie steht nicht immer im Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen. Während der Journalismus versucht, über das aktuelle Geschehen zu berichten, können Fehlinformationen auch völlig zeitlos sein. „Fehlinformation untergräbt die Gesellschaft“, sagte sie.
Meera, die gerade von einer Konferenz in Asien zurückgekehrt ist, sagte, dass Asien absolut im Zentrum des Sturms der Fehlinformationen stehe, mit einer riesigen Stadtbevölkerung und dass die Digitalisierung sehr schnell voranschreite. Auch Facebook ist in der Region stark vertreten, die einen großen Anteil an den Nutzern, aber nur einen kleinen Anteil an den Einnahmen hat. Die Plattformen bieten auch der Zivilgesellschaft einen wichtigen Raum für die Verbreitung von unabhängigem Journalismus. Aber es ist ein sensibles Umfeld. Gesetze, die in Europa und den Vereinigten Staaten verabschiedet werden, haben sehr direkte Auswirkungen auf die asiatischen Länder und auf die Zivilgesellschaft in diesen Ländern.
„Ich komme aus dem Land des Brexit“, sagt Meera. „Es war mir klar, dass wir aus den Ereignissen lernen müssen. Es gab einen Krieg der Fehlinformationen, aber auch die Medien selbst haben Fehler gemacht. Und wenn wir uns überlegen, wie wir Informationskriege führen, sollten wir das im Hinterkopf behalten. Wir müssen die Menschen verstehen. Wir müssen die Zielgruppen verstehen. Wir müssen die Gesellschaft verstehen. Wir müssen wissen, wovor die Menschen Angst haben. Wir müssen wissen, was sie brauchen. Wir müssen wissen, was ihnen fehlt. Wir müssen wissen, was sie von den Machthabern denken. Und das kann man nur, wenn man das Volk vertritt. Deshalb müssen die politischen Institutionen der Medien vielfältig und repräsentativ sein, denn sonst erhält man kein wahrheitsgetreues Bild dessen, was vor Ort geschieht. Deshalb ist es wichtig, dass ein Teil der Aufgabe von Journalisten darin besteht, ein Narrativ zu schaffen. Dazu gehört es, über Korruption zu berichten, aber auch über die Auswirkungen, die Korruption auf die Schwachen und Verletzlichen hat, um eine Gesellschaft zu schaffen und dann ein Bild davon zu zeichnen, wer wir sind und, was noch wichtiger ist, wer wir sein wollen.“
Impuls II: Roman Badanin, Gründer und Chefredakteur Agentstvo, Gründer Proekt
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir bereits über die stärkste Waffe im Kampf gegen Propaganda- und Desinformationskampagnen verfügen“, begann Roman Badanin seinen Impuls. „Sie besteht in der akribischen Einhaltung hoher journalistischer Qualitätsstandards.“ In Kriegszeiten sollte ein Journalist ein doppelter Journalist und sehr gründlich sein – und natürlich auch in Friedenszeiten.
Auch wenn sich die Ereignisse im Krieg sehr schnell entwickeln, sollte das kein Grund sein, von journalistischen Standards abzuweichen. „Wenn man Journalist im Krieg ist“, sagte er, „macht die bloße Tatsache, dass man auf der richtigen Seite steht, die Informationen nicht besser oder glaubwürdiger. Propagandisten wie Margarita Simonyan, die Chefredakteurin des Kreml-Propagandasenders RT, scheren sich nicht um die Qualität ihrer Informationen. Die Fehler sind ihnen egal, denn alle Informationen, die sie liefern, bestehen aus Fehlern und Lügen.“
Der Krieg ist eine harte Zeit, in der Menschen sterben, und manchmal ist es als Journalist schwer, unter diesen Bedingungen Standards einzuhalten, betonte Roman Badanin. Als Beispiel nannte er die unabhängigen russischen Medien, die gezwungen wurden, Russland zu verlassen, und nun oft ungeprüfte Informationen veröffentlichen, die auf nicht sehr zuverlässigen Quellen aus dem Kreml beruhen. Auch westliche Medien haben in letzter Zeit Berichte veröffentlicht, die sich auf Aussagen von Ilja Ponomarjow stützen, einem russischen Politiker, der ausgewandert ist und jetzt in Kiew lebt. Roman Badanin zufolge haben seine Kollegen von Bellingcat bereits vor vielen Jahren nachgewiesen, dass Ponomarev direkt an Fehlinformationskampagnen beteiligt war. Auch ein kürzlich erschienener Artikel der New York Times über die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Russland sei leider sehr unprofessionell gewesen.
Er nennt ein weiteres Beispiel: Kürzlich hatten die angesehenen Publikationen Forbes Magazine, American Edition und Politica Artikel veröffentlicht, die den russischen Oligarchen Grigoriy Berryozkin beschönigten. Grigoriy Berryozkin spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Zensur in Russland. Heute ist er Eigentümer der RBC Media Holding, des größten privaten Medienunternehmens in Russland, das eine sehr wichtige Rolle bei der russischen Propaganda und Zensur spielt. Roman Badanin sagte, dass Berryozkin im Begriff sei, die gegen ihn verhängten Sanktionen anzufechten, „und genau in diesem Moment veröffentlichen Forbes und Politico Artikel und Meinungsbeiträge, die Berryozkins Image im Westen beschönigen. Das ist nicht nur unprofessionell, das ist beschämend. Im Russischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass während des Krieges alle anderen Probleme unbedeutend sind. Dem kann ich nicht zustimmen. Geprüfte und qualitativ hochwertige Informationen sind im Krieg noch wertvoller als in Friedenszeiten“.
Er schließt seinen Impuls mit einigen praktischen Ratschlägen ab: „Das Wichtigste, was die europäische Mediengemeinschaft jetzt tun kann, ist, journalistische Standards auf jede mögliche Weise zu unterstützen. Wenn wir Stipendien oder Praktika für russische, ukrainische oder belarussische Journalisten organisieren müssen, dann müssen wir das tun. Wenn es notwendig ist, Journalisten für Praktika nach Europa zu holen, dann müssen wir das tun. Wenn die westlichen Medien das Gefühl haben, dass es ihnen an Fachwissen über die Lage in Russland, der Ukraine oder Belarus mangelt, dann wenden Sie sich bitte an uns. Es ist ein gegenseitiger Prozess. Es ist eine gegenseitige Studie.“
Die Ergebnisse der Strategischen Arbeitsgruppe III wurden von Prof. Dr. Alexandra Borchardt zusammengefasst, leitende Journalistin, Buchautorin, Dozentin, Medienberaterin und Mitglied des M100-Beirats. Als Problemdefinition wurde von den Teilnehmern der Gruppe u.a. das veränderte Informationsumfeld, die fehlenden Gatekeeping-Kapazitäten der Medien sowie nicht-demokratische Akteure identifiziert, die diese Chance für sich ausnutzen. Es mangele an effizienten Reaktionen anderer Akteure wie dem Staat, traditionellen Medien und Plattformunternehmen, um diesem Problem effizient entgegenzutreten. Auch wurde die nachdenkenswerte Frage aufgeworfen, ob es überhaupt jemals Information als europäisches öffentliches Gut gegeben habe.
Die jüngere Generation, die nicht mit den traditionellen Medien aufgewachsen ist, habe meist wenig Vertrauen in diese. Eines der wichtigsten Aufgaben der traditionellen Medien sei es, das Vertrauen der jungen Generation zurückzugewinnen.
Desinformation sei als Problem nur zweitrangig. Das Wichtigste sei die Genauigkeit und Wahrhaftigkeit der Informationen, die die Medien verbreiten. Viele Menschen seien sich bewusst, dass es Propaganda gibt und schon immer gegeben hat, insbesondere in Kriegszeiten.
Keypoints:
• Unabhängigkeit und Pluralität der Medien sind entscheidend. Die Medien müssen die Eigentumsverhältnisse und die Finanzierung unabhängiger Medien transparent machen und dafür sorgen, dass sie wirtschaftlich arbeiten.
• Es gibt kein allgemeingültiges Modell für Medien und Journalismus (und die dafür geltenden Regeln), es hängt von den Kulturen ab und ist in Friedens- und Kriegszeiten sowie im globalen Norden und Süden unterschiedlich.
• Das Thema wird meist aus einer westlichen und friedensmäßigen Perspektive mit demokratischen Akteuren diskutiert. Die Antworten, die wir entwickeln müssen, müssen auf die jeweilige Situation zugeschnitten sein, was es sehr schwer macht, eine einheitliche Lösung für ganz Europa zu finden.
• Wir brauchen eine größere Medienkompetenz für alle Generationen und in allen Teilen der Gesellschaft. Aber das kann nicht von den Medien allein erreicht werden. Es ist die Aufgabe aller Bildungseinrichtungen, transparent zu machen, wie Medien und neue Medienplattformen funktionieren.
• Die traditionellen Medien haben die neue Generation im Stich gelassen. Junge Menschen wollen mehr Erklärungen, eine systemische Sichtweise statt eines engen Fokus auf aktuelle Nachrichten. Sie müssen sich gesehen und vertreten fühlen.
• Die Medien müssen auf ihr Publikum hören. Sie müssen die Wahrheit attraktiv machen und dem Publikum helfen, mit Unsicherheit umzugehen. Journalismus als Dienstleistung.
• Medien müssen wahrhaftig sein, aber dennoch populär – das ist der schmale Grat, auf dem sich der Journalismus bewegen muss.
• Die Medien müssen als eine wichtige demokratische und lebendige Institution wahrgenommen werden.
• Traditionelle Medien sollten integrativere Redaktionen mit unterschiedlichen Perspektiven aufbauen und auch jungen Journalisten mehr Gehör schenken (weniger hierarchische Strukturen und mehr Interaktion).
M100 SPECIAL TALK „LEFT ALONE?“
Im Anschluss an den Konferenzteil sprach Dr. Wolfgang Ischinger, ehemaliger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, mit Dr. Vjosa Osmani-Sadriu, Präsidentin der Republik Kosovo, über die europäische Sicherheitsstrategie und die Rolle der osteuropäischen Länder. Die schriftliche Zusammenfassung des M100 Special Talks sowie die Videoaufzeichnung finden Sie hier.
M100 MEDIA AWARD AN DAS UKRAINISCHE VOLK
Die feierliche Verleihung des M100 Media Award an das ukrainische Volk, entgegengenommen von Dr. Wladimir Klitschko, wurde durch eine Hauptrede von Bundeskanzler Olaf Scholz eingeleitet. Begrüßt wurden die Gäste von Mike Schubert, Obernürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam und Vorsitzender des M100 Beirats. Die Laudationes hielten Dr. Amy Gutmann, Botschafterin der Vereinigten Staaten von Amerika in Deutschland, und Donald Tusk, Vorsitzender der Bürgerplattform (Civic Platform) und ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, Polen. Sie finden alle Reden in schriftlicher Form und als Videos hier.