Rückblick auf das M100 Sanssouci Colloquium 2017

DEMOKRATIE ODER DESPOTIE? Die Renaissance der Dunklen Mächte
Donnerstag, 14. September 2017, Orangerie Sanssouci, Potsdam

Tagesmoderation: Dr. Leonard Novy

Unter der Überschrift „Demokratie oder Despotie? Die Renaissance der dunklen Mächte“ diskutierten rund 70 Teilnehmer über die Auswirkungen der aktuellen politischen Entwicklungen, die Weltlage nach den ersten neun Monaten Trump und die Zukunft der Medien und ob sie in der Lage sind, ihrer Aufklärungs- und Orientierungsfunktion nachzukommen.

Eröffnet wurde das M100 Sanssouci Colloquium (laut dem österreichischen Magazin Profil „ein wichtiger Gradmesser für die Schieflage der Welt“) von dem vielfach ausgezeichneten türkischen Journalisten Can Dündar.

Zusammenfassung 2017
Can Dündar

Der ehemalige Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet hat 2017 in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Recherchenetzwerk Correctiv die zweisprachige journalistische Plattform Özgürüz gelauncht. In seiner Keynote, die an diesem Tag exklusiv auf der ersten Seite des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde, warnte er Europa und die Bundesregierung wie auch den Kanzlerkandidaten der SPD Martin Schulz davor, sich von der Türkei abzuwenden. „Europa sollte die Türkei nicht aufgeben.“

Die Absage an einen EU-Beitritt für die Türkei käme einem Sieg von Recep Tayyip Erdogan gleich, sagte er. Genau das habe Erdogan auch erreichen wollen. Damit würde die deutsche Politik Erdogan in die Hände spielen.

Es sei an der Zeit, dass Europa, und insbesondere Deutschland, die Türkei und Erdogan voneinander unterscheidet. „Die andere Türkei: das ist ein Land, das leidet, unterdrückt wird und dennoch weiterhin Widerstand leistet,“ so Dündar.

Erdogan habe seine Machtfülle nicht trotz, sondern dank des Westens erlangt. „Da man irrtümlich ein gemäßigt islamistisches Potential sah, wo es dies gar nicht gab, vertraute der Westen auf diese nichtexistente Mäßigung, um die Radikalen im Zaum zu halten.“ Das sei ein fataler Irrtum gewesen.

Auch heute noch tragen der Westen und die EU zu den autokratischen Entwicklungen in der Türkei bei. „Dem internationalen Kapital ist eine stabile Despotie lieber als demokratisches Chaos“, sagte Dündar. Europa verschließe vor der Unterdrückung in der Türkei die Augen und lasse den pro-westlichen, modernen Teil der türkischen Gesellschaft im Stich.

Heute sei die Europäische Union nicht mehr von zentraler Bedeutung. Jetzt komme es auf die Union der Demokraten am. Dündar: „Wir müssen die Globalisierung nochmals in Gang bringen, aber diesmal für die Freiheit.“

Dündar glaubt, dass Erdogan die Zurückweisung durch Europa nutzen werde, um das Feuer antiwestlicher Gefühle in der Türkei zu schüren. Seine Rede beendete er mit einem Appell an den Westen: „Es ist an der Zeit, dass Europa, und insbesondere Deutschland, die Türkei und Erdogan voneinander unterscheidet und lernt, sie unterschiedlich zu behandeln.“ Die andere Türkei sei ein Land, das leidet, erklärte er. Ein Land, das „unterdrückt wird und dennoch weiterhin Widerstand leistet und Demokratie, Freiheit und Säkularismus bis zum letzten Atemzug verteidigt.“

 

Session I: THE DAWNING OF A NEW AGE

Input: Prof. Dr. Andreas Rödder (Johannes Gutenberg Universität Mainz)

Moderation: Astrid Frohloff (TV-Moderatorin, ARD)

Moderiert von der TV-Journalistin Astrid Frohloff wurde in der ersten Session die neue Weltspaltung zwischen funktionierenden parlamentarischen Demokratien und autoritären Regierungen diskutiert. So haben die letzten 10 Krisenjahre statt eines engen, friedvollen Zusammenhalts zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nationalistischen Bewegungen Konjunktur verschafft und wachsende Desintegration hervorgerufen. Und nach dem Brexit-Votum und der Wahl Donald Trumps stehen über Jahrzehnte bewährte Strukturen und Gewissheiten in Frage.

Die letzten zehn Jahre der Krisen waren nicht durch einen engen, friedlichen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gekennzeichnet, sondern durch die Zunahme nationalistischer Bewegungen und den zunehmenden Zerfall. Europa ist geschwächt und sieht sich inzwischen mit neuen Realitäten konfrontiert, die ein gemeinsames Handeln gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik umso wichtiger machen. Großbritanniens Brexit- Entscheidung und die Präsidentschaft von Donald Trump haben plötzlich jahrzehntelange Strukturen und Gewissheiten in Frage gestellt – alles zu einem Zeitpunkt, da die Beziehungen zu Russland und der Türkei einen Tiefpunkt erreicht haben.

Zusammenfassung 2017
Christian Rainer, Martin Kotthaus, Maria Stepanova

Unter Bezugnahme auf Can Dündars Eröffnungsrede betonte Martin Kotthaus, Leiter der Europaabteilung im Auswärtigen Amt, die langjährigen Beziehungen der EU zur Türkei und die Bemühungen um dieselbe, nicht zuletzt durch die Beitrittsverhandlungen. Diese würden aber immer schwieriger, vor allem seit dem Putsch. Er unterstrich dabei insbesondere die umfassenden Bemühungen Deutschlands, die traditionell guten Beziehungen zur Türkei auf hohem Niveau zu halten und den Dialog zu fördern, trotz der Rückschläge in den letzten Monaten. Dies sei aber nur bedingt auf fruchtbaren Boden gestoßen, wie man u.a. an der andauernden Haft deutscher Journalisten und anderer sehen könne. Dies reflektiere sich auch in der deutschen Position zu den Beitrittsverhandlungen. Was die Zukunft der EU und die Perspektiven Europas betrifft, kam Kotthaus zu dem Schluss, dass die letzten 12 Monate viele negative Vorhersagen falsifiziert hätten. Der Brexit habe die EU-27 nicht gespalten, sondern im Gegenteil aufgewiesen, welche großen Vorteile die EU-Mitgliedstaaten von der EU hätten und sie daher einander nähergebracht. Dies spiegle sich in der Bratislava und Rom-Agenda wieder.

Der zweite Teil der Sitzung konzentrierte sich auf einen konstruktiven Plan und Ausblick für die Zukunft Europas. Die italienische Journalistin Annalisa Piras verwies auf das kollektive Versagen der europäischen Medien und Politiker bei der Erklärung der wirklichen Dimension der Herausforderungen, vor denen Europa steht. Sie forderte Lösungen, um dieser Bewusstseinslücke zu begegnen, sowie Taten anstatt nur Reaktionen auf aktuelle Herausforderungen. Dr. Andreas Rödder, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes- Gutenberg-Universität Mainz, gab in seinem Input einen Überblick über die Perspektiven einer „immer engeren Union“ und skizzierte die Geschichte der EU. Einerseits scheitere die Idee des weltweiten Westens sowie die globale Verteidigung der Menschenrechte als globales Verantwortungskonzept, wenn man alle erfolglosen Missionen und Interventionen auf der ganzen Welt wie in Ruanda oder Libyen betrachte, so Rödder. Andererseits könne eine Abstinenz von Interventionen zu anderen Katastrophen geführt haben. Gleichzeitig hob Rödder die Entstehung neuer Akteure ohne Bezug zu europäischen Werten wie Nordkorea, Türkei, Russland oder China sowie die westliche interne Krise hervor. Europa stehe vor zahlreichen Problemen, auf die es nicht vorbereitet sei. Rödder kam zu dem Schluss, dass es nicht die Zeit für einen globalen Westen sei, sondern dass es an der Zeit sei, an Prinzipien und einer Haltung der Offenheit festzuhalten. Die immer engere Verbindung innerhalb der EU habe sich als Sackgasse erwiesen. Europa habe seine Fähigkeit zur Korrektheit, Selbstkritik und Flexibilität verloren. In Bezug auf die Herausforderung durch den Brexit schlug Rödder vor, dass die EU-27 eine Brücke für Großbritannien bauen, anstatt sie zu bestrafen.

Zusammenfassung 2017
Andreas Rödder

„Die moralische Aufladung der ‚ever closer union’ hat die große Idee der Europäischen Union zu einer Ideologie übersteigert“, so Rödder. „Damit bringt sie sich um die Bereitschaft zur Selbstkritik und die Fähigkeit zur Korrektur – und gefährdet ihre einmaligen historischen Leistungen. Was Europa braucht, ist eine kluge Mischung aus Realismus und Ideen – eine flexible und aufgeschlossene Union, um ihre unbezahlbaren Errungenschaften zu bewahren.“

Kotthaus widersprach Rödders Aussage, dass das negative Brexit-Referendum eher der EU als Großbritannien selber zuzuschreiben sei. Auch der langsame Fortschritt bei den Verhandlungen zum Austritt liege nicht an Brüssel, sondern an den Schwierigkeiten in London, eine geschlossene Verhandlungslinie zu finden. Die EU beabsichtige nicht, das Vereinigte Königreich, welches sich entschlossen habe, die EU zu verlassen, zu bestrafen, sondern strebe möglichst enge Beziehungen an – im Rahmen der roten Linien der britischen Regierung. Gleichzeitig müsse die EU sicherstellen, dass der Binnenmarkt und der Zusammenhalt der EU27 erhalten bleibe. Es mache einen Unterschied, ob ein Staat Mitglied in der EU oder Drittstaat sei. Laut Kotthaus ist nicht zu erkennen, dass Großbritannien den Exit vom Brexit machen werde. Die Bratislava und Rom-Agenda legen mit gutem Grund einen besonderen Schwerpunkt auf eine EU, die liefert und konkrete Verbesserungen im Leben ihrer Bürger erreicht.

Mark Leonard, Mitbegründer und Direktor des European Council of Foreign Relations (ECFR) ist bezüglich der aktuellen Situation der Europäer optimistisch. Europa habe die pessimistischen Fragen des letzten Jahres über das Überleben und die Existenz der EU bereits überwunden und befinde sich nun in einem Zustand der Neugründung und Neuerfindung. Statt zu viel Aufmerksamkeit auf Misserfolge wie den Brexit zu richten, gibt er dem Aufbau einer zukünftigen EU den Vorrang. „Wir müssen das europäische Projekt neu erfinden“, appellierte er.

Michal Kobosko, Direktor Wroclaw Global Forum at Atlantic Council, eröffnete Einblicke in die polnische Perspektive und stellte den Begriff einer flexibleren Union in Frage: der polnische Nationalismus wolle einfach nicht, dass sich die EU in seine inneren Angelegenheiten einmischt. Im Gegensatz dazu bevorzugt Polens liberale Gesellschaft eine weniger flexible, aber eher starke und klare Europäische Union.

Simon Shuster, Leiter des Berliner Büros des Time Magazines, sagte, der Westen überschätze autokratische Regime und unterschätze demokratische Systeme. Belarus, Russland und andere werden von europäischen Werten angezogen. Er meint, dass sich alarmierende Geschichten besser verkaufen, die Realität aber anders aussehe.

Tobias Endler vom Heidelberg Center for American Studies ist Experte für die europäischen Beziehungen zu den USA. Aus seiner Sicht war Europa eine Chance für die USA, aber Europa habe die USA nicht im Blick. „Europa ist in Washington kein großes Thema“, sagte er. Moderatorin Astrid Frohloff warf die Überlegung in den Raum, dass die Politik von Trump vielleicht auch zu einer Stärkung der EU führen könne.

Kassandra Becker und Susanne Zels von dem jungen Grassroots Think Tank Polis180, Kooperationspartner des diesjährigen M100SC, präsentierten ihre Studie „Economic Uncertainty & Perspectives towards the EU“. Die besagt, dass die heutige junge Generation die erste sei, die einen niedrigeren Lebensstandard habe als die vorherige, verbunden mit der Frage, was man tun könne, damit aus ihr keine Euroskeptiker werden. Ihre Vision für ein alternatives Europa bedingt die Notwendigkeit einer neuen Erzählung, die nicht nur durch Frieden, sondern auch durch Solidarität und Sicherheit gekennzeichnet ist und sowohl eine wirtschaftliche und soziale Union sowie die Notwendigkeit einer europäischen Armee beinhaltet.

Andreas Rödder bestritt die These des niedrigeren Lebensstandards. In seinen Schlussworten sagte er, was Europa jetzt brauche, sei ein Konzept für europäische Ideen und eine aufgeschlossene Debatte. Die Geschichte lehre uns, dass es keine liberale Weltordnung geben werde und der Westen nicht weiter auf globale Missionen gehen solle.

 

Session II: FAILING DEMOCRACY?

Input I: Prof. Jason Brennan (Professor für Strategie, Wirtschaft, Ethik und Staatswissenschaft, McDonough School of Business at Georgetown University, USA)
Input II: Viktor Jerofejew (Schriftsteller, Russland)

Moderation: Christoph Lanz (Journalist und Medienberater, Deutschland)

Zusammenfassung 2017

Session II verhandelte den Zustand unserer heutigen Demokratie. Angesichts des anwachsenden Populismus und Autokratismus stellten sich die Teilnehmer die Fragen, wie krisenfest liberale Demokratien sind, ob die Populisten den Zenit ihres Erfolges erreicht haben und was sich muss ändern muss, damit enttäuschte Bürger für die Demokratie zurückgewonnen werden können. Offenbar erlebt die liberale Demokratie eine ernstzunehmende globale Krise. Immer mehr Bürger wenden sich von ihr ab und alternativen, undemokratischeren Parteien und Bewegungen zu.

Moderator Christoph Lanz begann die Session mit einem Zitat des Philosophen Karl Popper „Unsere westliche Demokratie ist ein beispielloser Erfolg. Das Ergebnis ist, dass immer mehr Menschen ein besseres, freieres, schöneres und längeres Leben führen als je zuvor“. Die Frage, so Lanz, sei, ob dieser Mechanismus heute noch funktioniere. Die Antworten waren höchst unterschiedlich, von optimistisch bis pessimistisch. Die Journalistin Ursula Weidenfeld wirft in ihrem neuen Buch „Regierung ohne Volk“ den Staaten des Westens vor, die Kontrolle verloren zu haben und schreibt: „Sie, die einst Mächtigen, stehen ratlos vor der zerfallenden Weltordnung, die sie selbst geschaffen haben“. Nun fordert sie Taten statt Reaktionen.

Lorenz Hemicker von der FAZ sagte, dass die europäischen Gesellschaften mehr zusammenarbeiten müssen, wenn es um Herausforderungen geht. Profil-Chefredakteur Christian Rainer hält eine repräsentative statt einer direkten Demokratie für die Lösung. Er findet, dass es im Moment zu viel direkte Demokratie gibt, wie der Brexit bewiesen habe. „Wir müssen Demokratie neu denken, andernfalls wird es sich selbst neu denken, und was dann rauskommt könnte keine Demokratie mehr sein“, warnte er.

Im Gegensatz dazu betont Ljiljana Smajlovic aus Serbien, dass nicht nur Populisten für alles verantwortlich gemacht werden dürfen, sondern man auch Selbstkritik üben müsse. „Wir nennen alle, die wir nicht mögen und die trotzdem gewählt werden, Populisten“, sagte sie.

Der stellvertretende Leiter des Wirtschaftsressorts der ZEIT, Götz Hamann, beobachtet, dass die politische Debatte zwar zunehme, die Herausforderung aber darin bestehe, neue Wege für Kompromisse zu finden. Christopher Walker, Vizepräsident für Studien und Analysen des National Endowment for Democracy sagte, dass es notwendig sei, die Herausforderungen genau zu analysieren, um Lösungen zu finden.

Christopher Walker, Vizepräsident für Studien und Analysen des National Endowment for Democracy sagte, dass es notwendig sei, die Herausforderungen genau zu analysieren, um Lösungen zu finden. Überraschenderweise haben sich die demokratischen Hoffnungen in Ländern wie Russland oder Tunesien in Autokratien und Aufstände verwandelt, die immer bedrückender werden. Deshalb sei es wichtig, die tieferen Gründe für solche Fehler zu identifizieren.

Im folgenden Input stellte Prof Jason Brennan von der Georgetown-Universität die provokante These auf, dass nur gebildete Menschen das Recht haben sollten zu wählen. Demokratie sei die Herrschaft der Vielen, sagte er: „Aber was ist, wenn die Vielen nicht wissen, was sie tun?“

Zusammenfassung 2017
Jason Brennan

Brennan, Autor des Buchs „Gegen Demokratie“, bevorzugt die Herrschaft der Wissenden statt einer Herrschaft der Vielen. Er beschreibt die meisten Wähler als Hobbits, ohne stabile Ideologie, Gespür für politische Interessen, die Fähigkeit zu urteilen oder jeglicher Beteiligung. Allerdings würden die Wähler mit starken Ideologien und Interessen – die sogenannten Hooligans – Parteien hassen, die sich von ihrer Ideologie unterscheiden. Aus Brennans Sicht sind beide Wahlverhalten ungünstig, aber verständlich: „Wähler haben keinen Sinn für Politik“, sagt er, „sie interessieren sich nur für ihre eigenen Interessen.“

Die meisten Wähler profitieren einfach nicht von der Teilhabe an politischen Prozessen; ihre individuelle Abstimmung spielt keine Rolle und ändert auch nichts. Außerdem sei das Wahlverhalten der Menschen voreingenommen, weil sie Informationen suchen, die ihre Meinung bestätigen, anstatt informiert zu werden – die sogenannte Bestätigungsverzerrung. Brennan konterte den Einwand, dass schlechtes Wahlverhalten dem Gefühl des Wählers zugeschrieben wird, von der Politik zurückgelassen zu werden, indem er auf verschiedene anderslautende Statistiken und Studien hinwies. Brennans Lösung besteht darin, jeden wählen zu lassen, aber auch die Demographie der Wähler einzubeziehen, um die Auswirkungen auf ihr Wahlverhalten bewerten zu können.

Zusammenfassung 2017
Tobias Endler

Dr. Tobias Endler merkte an, dass das Problem eine eher geringe Wahlbeteiligung sei und stellte Brennans Kriterien für einen guten Wähler in Frage. Mark Leonard war besonders kritisch gegenüber Brennans These, dass es für die Wähler keinen Grund gibt, sich zurückgelassen zu fühlen und zwischen relativem und absolutem Nutzen zu unterscheiden. Auch wenn es den Menschen in absoluten Zahlen besser geht, können sie sich zurückgelassen fühlen, wenn sie sehen, dass es anderen immer noch besser geht.

Brennan entgegnete, die Studie decke auf, dass genau die Punkte, gegen die Wähler rebellieren, eigentlich gut für sie seien. Zudem äußerte er die Sorge, dass die Wähler nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihn entscheiden: „In einer Demokratie entscheidet man nicht für sich selbst, sondern für alle, was die Sache zu einer Frage der Gerechtigkeit macht – wir sind es einander schuldig, gute Entscheidungen zu treffen, auch wenn Sie es sich selbst nicht schuldig sind, gute Entscheidungen zu treffen.

Der georgische Journalist Vazha Tavberidze, Chefredakteur des Georgian Journal, bemerkte, dass die meisten Probleme von unterschätzten Menschen verursacht würden. Trump habe man ebenso unterschätzt wie die Abstimmung zum Brexit. Die westliche Demokratie sei vielleicht nicht gescheitert, habe aber eine Menge zu tun.

Zusammenfassung 2017
Victor Jerofejew

Im zweiten Teil der Session gab der russische Schriftsteller Victor Jerofejew einen Input zum Thema „Gegen die Dummheit“ und argumentierte, dass dunkle Mächte, wie die französische Front National, einfach verboten werden sollten. Er befindet, dass „die westliche Demokratie zurzeit arm aussieht. Sie ist wie ein Baum ohne Wurzeln und fallende Blätter. Postsowjetische Nationen wie die Ukraine oder Georgien oder pro-europäische Bewegungen in Russland wollen Europa folgen, das die gleichen Werte teilt. Aber die westliche Demokratie ist zu einem Simulakrum geworden, und hinter ihr herzulaufen ist dasselbe wie hinter einem Geist herzulaufen“.

Die Meinungen über das Verbot der dunklen Mächte gingen auseinander. Während Brennan meinte, ein Verbot beginne bereits, weil Deutschland zum Beispiel daran denkt, die NPD zu verbieten, konterte Regina von Flemming, Aufsichtsratsmitglied und Beraterin, Turnaround/ Restructuring in Russland, dass populistische Parteien nicht verboten werden können, weil sie ihr eigenes System geschaffen haben, in dem sie abweichende Meinungen nicht ernst nehmen. Ein Verbot könnte ein paralleles System verursachen, das nicht mehr kontrolliert werden kann.

Jevhen Hlibovytsky, Aufsichtsratmitglied des Ukrainischen öffentlichen Rundfunks, ergänzte das Problem der demokratischen Systeme in der EU: Sicherheit werde als selbstverständlich angesehen und es gäbe kein Gewissen für demokratische Werte und Freiheiten. Deshalb sei Bildung die einzige Lösung. Die Menschen müssen Ursachen und Wirkungen lernen, damit sie bewusster wählen können. Polis 180 ging in diesem Zusammenhang auf die Relevanz der jüngeren Generation ein, deren Wahlbeteiligung laut Studie zu gering sei. Deshalb leitet der basisdemokratische Think Tank einen Aktionsplan mit großen Veränderungszielen wie mehr Flexibilität für das Engagement der Parteien, mehr Zusammenarbeit zwischen den Parteien, Senkung des Wahlalters und mehr politische Bildung.

 

Session III: THE NEW(S) MEDIA

Input I: Mathias Müller von Blumencron (Chefredakteur Digitale Medien, FAZ, Deutschland)
Input II: Áine Kerr (Managerin, Journalism Partnerships, Facebook, USA)

Moderation: Ali Aslan (TV-Moderator und Journalist, Berlin)

Zusammenfassung 2017

Die Welt steht vor einer Krise der öffentlichen Kommunikation, die nicht durch einen Mangel an Informationen, sondern durch eine „kommunikative Fülle“ entsteht, die Wahrheit und Illusion verwischt. Gleichzeitig wird die Presse- und Meinungsfreiheit zunehmend durch autokratisch geführte Länder wie Russland und die Türkei bedroht, aber auch durch etablierte Demokratien, in denen unabhängige Medien und Journalisten immer mehr Einschränkungen ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang befasste sich die dritte Session „The New(s) Media“ mit den Herausforderungen für den Journalismus angesichts der sich rasch verändernden politischen, sozialen und technischen Rahmenbedingungen sowie mit konkreten Maßnahmen gegen Fake News und Hasstiraden.

Leonard Novy stellte die Sitzung unter Bezugnahme auf aktuelle paradoxe Entwicklungen vor. Die Medien seien mit einer beispiellosen Reichweite in ihrer Berichterstattung oft besser denn je, während Freiheit und institutionelle Kapazität der Presse angesichts schwieriger ökonomischer Bedingungen insgesamt abnehme. Dies alles zu einer Zeit, in der Fake News und gezielte Delegitimierungsattacken auf die Medien von Seiten populistischer Akteure zunehmen.

Wohin also entwickeln sich unsere Öffentlichkeiten? Und wie kann der Journalismus angesichts sich rasant verändernder politischer, gesellschaftlicher und technischer Rahmenbedingungen der Vielfalt der an ihn gerichteten Erwartungen gerecht werden?

Unter der Moderation von Ali Aslan erörterte die Debatte Fragen nach dem aktuellen Stand und der Achtung des Journalismus sowie der Zukunft des Journalismus.

Zusammenfassung 2017
Mathias Müller von Blumencron

Mathias Müller von Blumencron, Chefredakteur Digitale Medien der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, milderte in seinem Input die Rolle von Social Media bei der Verbreitung von Hassreden ab. Wut sei keine Erfindung der digitalen Welt ist, sondern von Menschen.

Während Maßnahmen gegen Hasstiraden lebensfähig sind, führen gefälschte Nachrichten zu schwierigeren Herausforderungen. Erstens ist die Definition von gefälschten Nachrichten willkürlich und es ist nicht klar, wer über wahre und falsche Informationen entscheiden kann. Zweitens sind Social-Media-Plattformen wie Facebook private Einrichtungen, die befugt sind, die Regeln ihrer

Plattformen autonom zu gestalten. Drittens seien Fake News auf der Grundlage der Meinungsfreiheit nicht illegal und sollten daher akzeptiert werden. Vor diesem Hintergrund hält Müller von Blumencron verfassungsmäßige Rechte gegen gefälschte Nachrichten nicht für wünschenswert. Er plädiert jedoch für den Einsatz technischer Mittel zur Identifizierung glaubwürdiger Quellen und Rankingsysteme. Einige Teilnehmer, wie Monika Garbačiauskaitė-Budrienė, Chefredakteurin der litauischen Nachrichtenplaftform Delfi.lt, oder der Chefredakteur von Koha Ditore, Agron Bajrami, widersprachen Müller von Blumencron und betonten die Bedeutung der staatlichen Intervention zur Einschränkung gefälschter Nachrichten aufgrund ihres extremen Risikos.

Zusammenfassung 2017
Aine Kerr

Die Managerin des Global Journalism Projects von Facebook, Aine Kerr, gab anschließend Einblicke in die Maßnahmen von Facebook im Kampf gegen gefälschte Nachrichten und Hasstiraden. Sie betonte besonders die Rolle von Facebook als alternative Plattform und nicht als Medium, da damit unterschiedliche Verantwortlichkeiten einhergehen.

Da Facebook hauptsächlich für News Feeds und Informationen verwendet werde, biete die Plattform eine Reihe von Regeln und Maßnahmen gegen Hate Speech und Fake News. Facebook und die Nachrichtenbranche werden enger miteinander verbunden, um gemeinsam Produkte zu entwickeln, um von Journalisten zu erfahren, wie sie bessere Partner werden können und wie Menschen im digitalen Zeitalter zu informierten Lesern werden, so Kerr. Journalisten werden darin geschult, wie sie Social Media besser nutzen, sich vor Belästigungen und Inhalte schützen können. Ein Training zur Erkennung gefälschter Nachrichten werde nicht nur für Journalisten, sondern auch für normale Menschen angeboten. Darüber hinaus ziele Facebook darauf ab, gefälschte Konten besser zu erkennen und lasse Nachrichten von Dritten durch eine engere Zusammenarbeit mit der Industrie prüfen.

Zusammenfassung 2017
Annalisa Piras

Annalisa Piras, Direktorin der The Wake Up Foundation, erklärte ein grundlegendes Problem von Facebook. Die Plattform sei kein Verleger, verhalte sich aber wie ein traditionelles Medium und erhalte das Geld von Werbeunternehmen. In diesem Zusammenhang habe sich die Information von einem öffentlichen Gut zu einer Ware in einem von Aufmerksamkeit getriebenen Markt entwickelt. Infolgedessen werden Algorithmen unabhängig von den Absichten und der Wahrheit der Informationen erstellt und das Geschäft werde durch den Druck angetrieben, so viele Klicks wie möglich zu erhalten. Piras forderte daher eine neue Priorisierung der Informationen im News Feed. Anstelle von Informationen, die auf der Anzahl der Klicks basieren, sollte die Wahrheit im Vordergrund stehen.

Zusammenfassung 2017
Andreas Rödder, Jamie Angus, Christopher Walker

Christopher Walker vom National Endowment for Democracy in Washington unterstützte Piras mit dem Argument, dass Institutionen wie BBC oder FAZ die Verantwortung für die von ihnen produzierten Inhalte übernehmen. Die Überprüfung durch Facebook durch Dritte erscheint ihm widersprüchlich, da die Plattform gleichzeitig auf Anpassungen und Algorithmen angewiesen ist.

Aine Kerr antwortete, dass Facebook den Newsfeed so gestalten wolle, dass in Zukunft Nachrichten von geringer Qualität weniger häufig erscheinen. Außerdem empfahl sie, auf Facebook eine private Gruppe für Journalisten namens „News Media Unpublishing“ mit Feedback und Updates zu unterstützen.

 

 

M100 Media Award an Natalja Sindejewa

Das 13. M100 Sanssouci Colloquium endete mit der festlichen Verleihung des M100 Media Awards an die Gründerin und Geschäftsführerin von Doshd TV, Natalja Sindejewa.

Zusammenfassung 2017
Jann Jakobs, Natalija Sindejewa, Tanit Koch

Nach krankheitsbedingter Absage von Außenminister Sigmar Gabriel hielt sein Staatssekretär Walter J. Lindner die politische Hauptrede des glanzvollen Abends. An Natalja Sindejewa, die mit ihrem 2010 gegründeten Sender den letzten verbliebenen unabhängigen TV Sender Russlands betreibt, wandte er sich mit einem klaren Bekenntnis zur Pressefreiheit: „Wehret den Anfängen! Es ist wichtig, dass es gute Leute, so wie es unsere heutige Preisträgerin ist, gibt, die immer das Risiko tragen, drangsaliert zu werden. Es ist elementar, dass wir uns hinter diese Leute stellen“.

Doshd-TV (Rain-TV) lässt – im Gegensatz zu der Mehrzahl der regierungsnahen Medien in Russland – auch regierungskritische Stimmen zu Wort kommen. 2011 erreichte Doshd TV internationale Aufmerksamkeit, als er als einziger russischer Sender umfangreich über die Proteste nach den russischen Parlamentswahlen 2011 berichtete. In den letzten Jahren wurden Sindejewa und ihre Mitarbeiter immer stärker unter Druck gesetzt. Mittlerweile ist der Sender aus allen Kabel- und Satellitennetzen entfernt worden und nur noch im Internet empfangbar. Werbekunden springen auf Druck der russischen Regierung reihenweise ab, und der Mietvertrag für das Studio wurde Hals über Kopf gekündigt.

Die Laudatio auf Natalja Sindejewa hielt die Chefredakteurin der Bild Zeitung, Tanit Koch. Koch hob die Rolle von Doshd TV hervor: „In drei Worten beschrieben ist Ihr Sender das andere Russland. Denn das andere Russland existiert. Wild, kreativ, liberal, intellektuell und kritisch. Doshd TV ist sein Medium“. Tanit Koch sprach am Ende ihrer Rede die Preisträgerin direkt an: “Natalja Sindejewa, ich habe Demut vor ihrem Mut“.

Natalja Sindejewa rief in ihrer Dankesrede die anwesenden europäischen Pressevertreter dazu auf, Ehrlichkeit, Mut und Offenheit zu leben, vor allem aber die menschliche Würde als das wichtigste Gut sowohl für die Menschen als für die Medien zu schützen. Erfolg zu haben und dabei nicht zu vergessen, was das Wichtigste im Leben ist: nämlich die Würde, ist für uns bei Doshd elementar.“ Weiter sagte sie: „Ich würde mir wünschen, auch in Russland für unsere Arbeit wertgeschätzt zu werden.“

Zusammenfassung 2017Über das M100 Sanssouci Colloquium erschienen 2017 über 460 Artikel, Beiträge und Erwähnungen in deutschen Medien, unter anderem Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche, Tagesspiegel, ZEIT Online, BILD, dpa, rbb, 3sat Kultur, Deutsche Welle, Radio1 und viele mehr. Hinzu kommen noch etwa 100 Erwähnungen in ausländischen Medien und Online-Plattformen.

Gefördert wurde die diesjährige Veranstaltung von der Landeshauptstadt Potsdam, dem Medienboard Berlin-Brandenburg, dem Auswärtigen Amt und dem National Endowment for Democracy. Sponsoren waren medienlabor und Facebook. Kooperationspartner: Polis 180, Reporter ohne Grenzen, Sourcefabrik, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg sowie VDZ.

Copyright: Kai Diekmann
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