Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Es geschah genau vor einem Jahr. Am 16. September 2022 verstarb in einem iranischen Krankenhaus eine junge Frau. Ihre Freunde kannten sie als Mahsa. Für ihre Familie zu Hause war sie Jina. Dies war der Name, den ihre Mutter ausrief, als sie an ihrem Grab weinte. Jina, ein schöner kurdischer Name. Er bedeutet „Leben“. Mahsa „Jina“ Amini war gerade 21 Jahre alt, als sie von der iranischen Sittenpolizei getötet wurde. Zwei Tage zuvor hatte man sie verhaftet, – weil sie zu viel Haar zeigte. Bereits im Polizeiwagen wurde sie verprügelt. Auf der Wache fiel sie ins Koma. Jina ist nie wieder aufgewacht. Aber Millionen ihrer Landsleute haben sich an ihrer Stelle erhoben. Und sie stehen weiterhin auf. Sie riskieren Gefängnis, Exil oder gar den Tod. Sie stehen auf für „Frauen, Leben und Freiheit!“.
Und deswegen sind wir heute hier in Potsdam. Um das Leben von Jina zu ehren. Und um die unzähligen iranischen Frauen und Männer zu ehren, die täglich ihr Leben riskieren für Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie. Wir ehren all die Heldinnen und Helden von „Life, Women, Freedom“ mit dem M100-Preis, weil wir Ihren Kampf für die Grundfreiheiten von ganzem Herzen unterstützen.
Was macht diesen Protest und diesen Moment so bedeutend? Wenn wir ehrlich sind, wissen wir noch nicht, wohin diese Bewegung noch führen wird. Ihre Geschichte schreibt sich weiter, während wir hier über sie sprechen. Aber wir können heute bereits mit Sicherheit sagen, im Iran geschieht etwas Historisches. Zum ersten Mal sind Frauen im Iran sowohl auslösender Funke als auch treibende Kraft einer Revolution. Und ich verneige mich vor dem Mut der iranischen Frauen, die die Protestzüge noch vor den Männern anführen. Ich bin zutiefst beeindruckt durch die Chuzpe der jungen Mädchen, der Teenager, die ihre obligatorischen Schleier auf offener Straße verbrennen; die ihre jungen Leben aufs Spiel setzen, weil sie sich Freiheit und eine bessere Zukunft wünschen. Dies ist nicht nur ein Wendepunkt für Hunderttausende Frauen und Mädchen im Land. Es ist ein tieferer Umbruch in dem Land. Weil Frauen die Führung übernehmen. Sie kämpfen für ihre persönliche Freiheit und zugleich für einen offeneren und freieren Iran.
Als die Islamische Republik Iran 1979 gegründet wurde, war ich 21 Jahre alt. Genauso alt wie Jina, als sie getötet wurde. Ich bin in Europa aufgewachsen. In einer Gesellschaft, die nicht perfekt war. Aber ich konnte mich entfalten. Ich konnte gleiche Rechte als Frau einfordern, ohne staatliche Gewalt zu befürchten. Ich bin in einer offenen Demokratie aufgewachsen, in der meine Grundrechte durch die Rechtsstaatlichkeit geschützt sind. In der iranischen Theokratie leben Millionen Frauen in ständiger Furcht und Unterdrückung. Sie fühlen sich als Bürgerinnen zweiter Klasse. Nur wenige dürfen arbeiten. Ihnen wird vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen haben, und dass sie am besten zu Hause bleiben sollten. Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik, nannte den Schleier die „Flagge der Revolution“. Nun, die Frauen im Iran haben im vergangenen Jahr ein unübersehbares Zeichen gesetzt: Sie führen ihre eigene Revolution an, die der Frauen. Sie kämpfen dafür, den Schleier der Unterdrückung abzulegen. Sie kämpfen für das Recht, in ihrem Heimatland Iran ein Gesicht und eine Stimme zu haben.
Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt. Dieser Moment ist auch deswegen so bedeutend, weil diese Frauen zugleich für die fundamentalen Freiheiten aller Iranerinnen und Iraner kämpfen. Ihnen ging es von Anfang an um mehr, als ihr Haar zu zeigen. Oder darum, den Sport ihrer Wahl auszuüben, unabhängig arbeiten zu dürfen, zu lieben, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Diese Frauen fordern die Freiheit von Angst und Gewalt – für sich und alle anderen Bürgerinnen und Bürger des Iran. Das ist der Grund, warum Millionen von Männern und Frauen, jung und alt, diese Proteste unterstützen. Und das erschreckt das Regime bis ins Mark.
Die iranische Theokratie hat den Ruf nach Öffnung mit brutaler Gewalt beantwortet. Seit September letzten Jahres hat das Regime mehr als 20.000 friedlich Protestierende inhaftiert. Über 500 wurden von Sicherheitskräften getötet. Mehr als 100 Angeklagten droht inzwischen die Hinrichtung. Ihr sogenanntes „Verbrechen“ ist der Traum von einer besseren Zukunft.
Aber aller staatlichen Gewalt zum Trotz, leisten die Iranerinnen und Iraner Widerstand. Im Juli musste der Prozess gegen eine der wichtigsten politischen Gefangenen des Landes vertagt werden. Die angeklagte Aktivistin Sepideh Gholian hatte sich geweigert, vor Gericht einen Schleier zu tragen.
In der Stadt Rasht gingen mutige Passanten dazwischen, als die Polizei drei Mädchen wegen Verstoßes gegen die Kleiderordnung verhaften wollte. Das zeigt, dass die Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“ den Iran bereits verändert hat. Es gibt keinen Weg zurück.
Was können wir hier im sicheren Europa beitragen? Wir haben die Pflicht, das Andenken an Jina zu ehren, und an alle unschuldigen Frauen und Männer, die vom Regime getötet wurden. Ich freue mich sehr, dass Sie alle hier heute Abend genau aus diesem Grund hier sind. Aber wir müssen auch Taten folgen lassen. Wir müssen diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die die elementarsten Menschenrechte verletzen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben Sanktionen gegen 204 Personen und 34 Einrichtungen erlassen, die für das brutale Vorgehen gegen friedlichen Protest verantwortlich sind. Wir haben ihr Vermögen eingefroren, wir haben Einreiseverbote in die EU ausgesprochen. Wir haben alle Exporte von Technologie untersagt, die zur Überwachung und Unterdrückung der Menschen im Iran verwendet werden kann. Und vieles mehr. Wir werden den Druck nicht lockern, bis das iranische Regime seine Gewalt gegen die friedlichen Proteste beendet, die willkürlichen Verhaftungen einstellt, die Todesurteile aufhebt und alle zu Unrecht Inhaftierten freilässt. Die Menschenrechte sind überall zu achten. So steht es in der Gründungsurkunde der Vereinten Nationen. Wo schlimme Verbrechen begangen werden, müssen wir die Mittel haben, zu handeln.
Denn das iranische Regime misshandelt nicht nur sein eigenes Volk. Es hilft auch Russland dabei, die Menschen in der Ukraine zu terrorisieren. Die iranische Führung hat sich entschieden, Russlands Angriffskrieg zu unterstützen. Sie beliefert Putin mit Kamikaze-Drohnen, die für Angriffe eingesetzt werden, nicht nur gegen militärische Ziele, sondern gegen unschuldige Menschen, Alte, Frauen und Kinder. Wie der Iran sich zu Putins Krieg verhält, muss und wird entscheidend die künftigen Beziehungen der EU zum Iran mitbestimmen. Die Haltung der EU ist klar: Wir verteidigen die Demokratie. Wir verteidigen die UN-Charta. Und wir verteidigen diejenigen, die für die Menschenrechte einstehen, wo auch immer sie sind.
Der Kampf und der Mut der iranischen Frauen wirken weit über die Grenzen des Landes hinaus. Er bewegt und inspiriert Frauen in der ganzen Welt. Die Herausforderungen, vor denen sie stehen, mögen unterschiedlich sein. Aber die Rechte, die sie anstreben, sind dieselben. Zuallererst das grundlegendste aller Rechte. Das Recht, als Frau vor Gewalt geschützt zu sein. Gewalt gegen Frauen ist da, weltweit und auch hier bei uns in Europa. Wie kann man gleichberechtigt sein, wenn man auf der Straße, bei der Arbeit oder sogar zu Hause nicht sicher ist? Es ist niemals gerechtfertigt, eine Frau zu schlagen. Es ist niemals gerechtfertigt, den Körper eines Mädchens zu verstümmeln. „Nein“ bedeutet immer „Nein“. Wir setzen uns mit aller Kraft dafür ein, dass Frauen überall in Europa den gleichen Schutz erhalten. Ich bin stolz darauf, dass die Europäische Union in diesem Jahr endlich der Istanbul-Konvention beigetreten ist. Und für mich ist es eine meiner wichtigsten Aufgaben, noch in diesem Jahr das erste europäische Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt über die Ziellinie zu bringen. Denn Gleichstellung „kommt“ eben nicht einfach so. Fortschritte müssen hart erkämpft werden und gehen leicht verloren.
Das gilt auch für Länder, in denen es keine Sittenpolizei gibt. Echte Gleichstellung erfordert tägliche Aufmerksamkeit und Engagement. Frauen und Mädchen müssen die Freiheit haben, beides zugleich anzustreben – Familie und Karriere. Genauso selbstverständlich wie Jungs und Männer. Frauen müssen auf demselben Niveau entlohnt werden wie ihre männlichen Kollegen. Weil sie das verdient haben. Und weibliche Talente müssen stets die Chance haben, die höchsten Ebenen zu erreichen. Weil sie das Können und die Erfahrung mitbringen. Ich glaube, dass eine Gesellschaft, in der Frauen frei und gleichberechtigt sind, nicht nur eine gerechtere Gesellschaft ist. Es ist eine erfolgreichere Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit viel mehr Talent, mehr Fähigkeiten und Potenzial.
Und ich bin mir sicher: Die gewaltsame Unterdrückung der Frauen im Iran wird sich als Achillesferse der iranischen Theokratie erweisen. Das Regime des Iran wird an den Frauen scheitern. Genauso, wie alle Gesellschaften verlieren, die die Hälfte ihrer Bevölkerung marginalisieren.
Meine Damen und Herren,
in der Woche nach ihrer Ermordung wollte Mahsa „Jina“ Amini eigentlich ihr Studium beginnen. Jina wollte Ärztin werden. Das war ihr Traum. Das Leben von Menschen zu retten. Stattdessen hat das Regime ihr das Leben genommen. Aber Jinas Traum können sie nicht töten. Der Traum von Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt, frei zu sein und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Ich bin voller Hoffnung für die Zukunft des Iran, weil diese mutigen Menschen jeden Tag ein Beispiel geben. Menschen, die einen Weg für andere bahnen. Und ich bin heute sehr froh, dass eines dieser Vorbilder unter uns ist. Sie wird stellvertretend für alle Heldinnen und Helden von „Women, Life, Freedom“ den M100-Preis entgegennehmen. Bitte applaudieren Sie mit mir Shima Babaei. Shima, Sie kämpfen seit 2017 für Gerechtigkeit, Demokratie und Frauenrechte im Iran. Zweimal hat Sie das Regime ins Gefängnis gebracht. Man hat Sie in Isolationshaft gesteckt. Man hat Sie gezwungen, Ihr Zuhause zu verlassen. Aber niemand hat es geschafft, Sie zum Schweigen zu bringen. Sie sind ein Vorbild. Für Mädchen und Frauen überall auf der Welt. Und wenn Ihr Vater Ebrahim Babaei Sie jetzt sehen könnte, wären Sie auch für ihn ein Vorbild. Das Regime im Iran wird eines Tages erklären müssen, was mit Ihrem Vater geschehen ist. Wir werden die Wahrheit herausfinden und die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.
„Frauen, Leben, Freiheit“ ist ein Wendepunkt. Für die Frauen im Iran; für Demokratie und Freiheit in Ihrem Land; und für Frauen überall. Sie haben der Welt gezeigt, dass es einen anderen Iran gibt. Und wir wollen an den Iran glauben, für den Sie stehen. Wir danken Ihnen für Ihren Mut. Unsere Verantwortung ist es, selbst laut und deutlich zu sein und so den starken Frauen im Iran mehr Gehör zu verschaffen. Ich werde nie aufhören, meine Stimme laut und deutlich gegen die Mullahs und Ayatollahs zu erheben. Lasst uns alle laut sein, dass die starken Frauen im Iran uns hören können. Dafür steht dieser Preis.