Laudatio Tanit Koch, Chefredakteurin BILD

Sehr geehrte Natalja Sindejeva,
sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kollegen,

im Frühjahr 2009 hatte ich das Glück, ein paar Wochen lang im Moskauer Büro von Axel Springer Russia zu arbeiten.
Nach ein paar Tagen dort bemerkte ich, dass ein deutscher Kollege aus dem kaufmännischen Bereich nie bei Tageslicht arbeitete. Er hatte immer das Rollo heruntergelassen.
Ist Dir das nicht zu duster?, fragte ich ihn irgendwann.
Seine Antwort: Ja, aber es könnte ja mal ein Scharfschütze kommen.
Wieso denn zu Dir?
Nicht zu mir, antwortete er – aber vom Gebäude gegenüber aus gesehen sitze ich zwischen dem Fenster und unserem Tschetschenien-Experten.
Das Rollo blieb unten.

Axel Springer Russia gibt es seit 2015 nicht mehr. Schweren Herzens musste Axel Springer Russland verlassen, da unabhängiger Journalismus für einen deutschen Verlag nicht mehr möglich war.

Und ich freue mich deshalb so, heute diese Laudatio auf Natalja Sindejewa halten zu dürfen, weil viele unserer damaligen russischen Kollegen mittlerweile für sie arbeiten. Sie arbeiten für Sie, weil Sie bei Ihrem Sender Doshd TV echten Journalismus machen können.

Natalja Sindejewa hat Doshd TV zusammen mit ihrem Mann Aleksandr Vinokurov vor sieben Jahren gegründet. In drei Worten beschrieben ist ihr Sender: das andere Russland.

Das Russland, von dem wir hier zu selten hören, weil Kreml-Propaganda, -Invasionen und Bomben es überlagern. Doch das andere Russland existiert. Wild, kreativ, liberal, intellektuell und kritisch. Doshd TV ist sein Medium.
Diesen einzigartigen Platz innerhalb der russischen Medienlandschaft muss es jeden Tag verteidigen. Denn: Es ist der einzige kremlkritische Sender Russlands.

Doshd TV legt sich nicht nur mit dem Kreml selber an, sondern auch mit den Hofschranzen. Also jener fragwürdigen russischen Elite, die es sich in Putins System und den luxuriösen Datschen bequem gemacht hat. Doshd TV entlarvt ihre Dekadenz, hinterfragt so manche Transaktion. Mit investigativen Reportagen, mit Features und vor allem mit Nachrichten-Formaten.

Natalja Sindejewas Sender berichtete als einziger Sender nicht nur live sondern auch umfangreich von den Massenprotesten auf den Straßen Moskaus 2011 und 2012. Er schickte Reporter nach Kiew, um den Zuschauern zu zeigen, was wirklich am Majdan geschah. Nach der Ermordung des liberalen Oppositionellen Boris Njemzov konzentrierte sich das Programm von Doshd TV ganz auf ihn und die Folgen der schrecklichen Tat.

Im Studio von Doshd TV geben sich Pussy Riot und Alexej Nawalnyj die Klinke in die Hand. Und wer nicht in Moskau ist oder sein kann – wie Michail Cho­dor­kow­skij – den interviewt der Sender eben in Berlin.

Doshd TV ist das Gegengewicht zum einfarbigen und austauschbaren Brei, mit dem die staatlichen TV-Giganten die Frequenzen verstopfen. Doshd TV fasst die heiklen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Themen an – von denen das gut ausgestattete, satte Staatsfernsehen die Finger lässt.

Natalja Sindejewa und ihre mehr als hundert Mitarbeiter – die für guten Journalismus weniger verdienen, als regierungsnahe Journalisten für schlechten – geben den letzten Resten der russischen Opposition ein Forum. Doch ebenso kommen Politiker aus dem Regierungslager zu Wort. Beide Seiten werden kritisch befragt, die TV-Diskussionen decken ein breites Meinungsspektrum ab – denn Doshd TV ist journalistisch unabhängig – darauf legt die Geschäftsführerin und Moderatorin Sindejewa wert.

Der M100 Award ehrt Menschen, die sich in besonderer Weise für Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit einsetzen.

Natalja Sindejeva tut das mit einer Leidenschaft und Hartnäckigkeit, die viele von uns – die wir unter unvergleichlich besseren Bedingungen arbeiten können – demütig macht.

Ich habe Demut vor Ihrem Mut.

Doshd TV ist zu populär, um vom Staatsapparat einfach dicht gemacht zu werden. Aber es gibt elegantere, subtilere Methoden, Druck aufzubauen. Und diesem Druck trotzen Sie seit Jahren.

2014 warfen die Kabelnetzbetreiber Doshd TV aus ihren Netzen. Der Sender hatte zuvor gut zehn Millionen Zuschauer, büßte quasi über Nacht 80 Prozent davon ein, später noch mehr.

Dann kam der Vermieter und kündigte das TV-Studio auf dem „Roter Oktober“-Komplex mitten in Moskau. Die obdachlose Redaktion zog um – einen Monat lang sendete sie aus ihrer Moskauer Privatwohnung! Ließen sich von den FSB Agenten unten auf der Straße nicht abschrecken.

Ihr aktuelles Quartier ist eine alte Parfum-Fabrik im Norden der Stadt. Und kaum war Doshd TV da, siedelten sich trendige Geschäfte, Cafés und Galerien an. Das andere Russland eben.

Aufgeben kam für Natalja Sindejewa nie in Frage.

Auch nicht, als die Anzeigenkunden absprangen. Nicht nur die russischen. Auch – mit wenigen Ausnahmen – die europäischen. Wo Mut ist, ist Feigheit leider oft nicht fern.

Aber auch hier knickte Sindejewa nicht ein. Die Wirtschaftswissenschaftlerin hatte schon längst unternehmerischen Mut bewiesen: Inmitten der Finanzkrise – und damals gerade schwanger – verkauften sie und ihr Mann ihr Haus, um den Sender überhaupt gründen zu können.

Heute tut sie etwas, was selbst in Deutschland und Europa noch vielen Medienhäusern schwerfällt: Geld für Nachrichten im Internet zu verlangen. Doshd TV hat online gut 70.000 Abonnenten. Seit heute übrigens eine Abonnentin mehr – ich habe gerade ein Abo abgeschlossen, vielleicht lerne ich dann endlich ordentlich Russisch.

Woher nimmt Natalja Sindejewa ihren Mut?

Der sie schon einmal auf der Tanzfläche gesehen hat, kennt das Geheimnis. Unbändige Energie, eine Urkraft, die aus dieser Frau aus Westrussland strömt. Die haut nichts um.

Und – das ist vielleicht die größte Gefahr für ein moralisierendes und misanthropisches System: Natalja Sindejewa ist nicht nur eine Kämpfernatur, sie ist dabei auch noch fröhlich. Doshd TV hat Humor. The Optimist Channel, wie sie ihn nennt.

Man braucht viel Optimismus, um im heutigen Russland privat-finanzierte, unabhängige Berichterstattung zu gewährleisten. Natalja Sindejewa steht für unabhängigen, aber vor allem unbeugsamen Journalismus. Sie verkörpert den Anspruch, wahrhaftig zu berichten – in einem Land mit jahrzehntelanger Erfahrung und großer Kompetenz in Fake News. Nicht nur in Russland, aber vor allem in Russland, ist Wahrheit ein sehr kostbares Gut.

Ein großer Russe, Leo Tolstoy, schrieb einmal in sein Tagebuch: „Mit der Wahrheit ist es wie mit Gold.“ Man müsse den ganzen Schlamm drumherum wegspülen, damit das Gold zum Vorschein kommt.

Doshd heißt Regen. Und dank Ihres Regens, Natalja Sindejeva, gibt es in Russland noch journalistisches Gold.