Laudatio Joachim Gauck

Es gibt viele Gründe, Donald Tusk auszuzeichnen.

– Als Oppositioneller war er mit Wort und Tat an der Abschaffung des kommunistischen Unrechtsregimes beteiligt.
– Als Abgeordneter und Regierungschef im freien Polen hat er großen Anteil an der Entwicklung eines demokratischen Landes, das Polen zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Land in der EU werden ließ.
– Und als einer von ganz wenigen unter den Bewohnern des ehemaligen Ostblocks hat er ein Spitzenamt auf europäischer Ebene bekleidet und markant Position bezogen.

Ja, es gibt viele Gründe, Donald Tusk auszuzeichnen. Doch wir leben in außergewöhnlichen Zeiten und so gestatten Sie mir, vor allem auf zwei Verdienste von Donald Tusk einzugehen, die mir gerade jetzt als besonders wichtig erscheinen.

Polen hatte in den letzten (acht) Jahren meistens keine gute Presse, nicht in Deutschland und nicht in anderen europäischen Ländern. Unter der PiS-Regierung, dirigiert von Jaroslaw Kaczynski, hatte eine unheilvolle Entwicklung begonnen: Die Rechtsstaatlichkeit wurde unterhöhlt, die Pressefreiheit eingeschränkt, die Rechte von Frauen und Minderheiten wurden beschnitten. Das Land war tief gespalten, die Hoffnung der Opposition auf einen Befreiungsschlag jedoch gering. Denn die nationalistisch-autoritäre Regierung hatte den Menschen mit finanziellen Zuwendungen auch durchaus verführerische Angebote gemacht.

In dieser Situation meldete sich Donald Tusk auf der nationalen Bühne zurück. Er wäre keineswegs der erste gewesen, der sich nach dem Ende eines hohen Amtes aus dem politischen Alltag zurückgezogen und das politische Geschehen vom Rande aus kommentiert hätte – als ein elder statesman eben. Doch Tusk wandte sich nicht von der aktiven Politik ab, und er wandte sich nicht von Polen ab. 2022 trat er wieder an die Spitze der liberal-konservativen Bürgerplattform und begann – ohne parlamentarisches Mandat – einen Überzeugungswahlkampf auf der Straße, lange bevor der eigentliche Wahlkampf für die Parlamentswahlen im September 2023 begonnen hatte.

Tusk wurde zu einem Kämpfer an der Basis. Wo nötig robust und nahbar. Er stellte sich den wohlwollenden Fragen von Anhängern und Zweiflern, gleichzeitig trotzte er den Beschimpfungen und dem Hass, der ihm von PiS-Anhängern, und auch im staatlichen Fernsehen und regierungsnahen Zeitungen entgegenschlug. Er kämpfte gegen die Verleumdungen als „deutscher“ Politiker, der seine Befehle angeblich aus Berlin erhielt. Oder umgekehrt gegen die Denunziation, Polen an Putin verkaufen zu wollen. Mitte April letzten Jahres rief er auf Twitter zu einer großen Demonstration in Warschau auf: „Gegen hohe Preise, Diebstahl und Lügen, für freie Wahlen und ein demokratisches, europäisches Polen.“ Von 50.000 Teilnehmern war anfangs die Rede – gekommen sind schließlich etwa eine halbe Million. Tusk hatte mobilisiert und das tolerante, liberale, menschenfreundliche und pro-europäische Polen hat sich mobilisieren lassen: ein polnisches „Yes, we can“! Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2023 trugen die demokratischen Kräfte den Sieg über die illiberale Regierungskoalition davon. Dem autokratischen Lager konnte die Macht mit demokratischen Mitteln wieder genommen werden.

Dieser Sieg ist von Bedeutung weit über Polen hinaus. Denn er zeigt: Es ist nicht zwangsläufig, dass populistische, fremdenfeindliche, antieuropäische Kräfte aus der Angst und Verunsicherung von Menschen dauerhaft Kapital schlagen. Er zeigt: Demokraten vermögen Mehrheiten zu organisieren, wenn sie den Bedürfnissen der Menschen nach Freiheit und nach Sicherheit Rechnung tragen. Tusk erwies sich als ein ebenso umsichtiger wie entschiedener Führer. Er vermochte zu werben und zu erklären, nach dem Wahlsieg aber auch die notwendigen Schritte einzuleiten, um dem Land wieder eine demokratische eine Richtung zu geben. Wünschen wir ihm in dieser für Polen so schwierigen Phase weiterhin viel Glück!

Und hier komme ich zum zweiten Grund, warum Donald Tusk gerade unter den augenblicklich außergewöhnlichen Umständen ein würdiger Preisträger ist. Wie alle Polen hat Donald Tusk bittere Erfahrungen mit den großen Nachbarn im Westen und Osten seines Landes machen müssen. Was Deutschland betrifft, so waren beide Großväter zeitweilig während des Zweiten Weltkriegs in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert. Dennoch hat Tusk sich einer Annäherung und Verständigung zwischen den beiden Völkern nicht verschlossen, als Deutschland sich der Demokratie und der friedlichen Nachbarschaft verschrieb. Was die russische bzw. sowjetische Seite betrifft, so wurden Hoffnungen auf eine bessere Zukunft enttäuscht. Russland war und blieb die gefürchtete imperiale Macht von Katharina II. bis zu Stalin und Putin. Sobald das Sowjetreich zerbrach, suchten Polen deshalb wie die Balten und andere ostmitteleuropäische Länder so schnell wie möglich nach Schutz durch die NATO.

Gebranntes Kind scheut das Feuer. Tusk kritisierte – wie übrigens parteiübergreifend alle polnischen Politiker – den Bau der Nordstream Pipelines 1 und 2. Denn sie bildeten ein Sicherheitsrisiko für die Ukraine, aber auch eine Bedrohung für ein stark von russischer Energie abhängiges Deutschland und Westeuropa. Er verurteilte die Annexion der Krim 2014 und warnte – damals als Ministerpräsident: „Jeder, der die Meinung vertritt, dass man sich Frieden und Stabilität mit Nachgeben erkaufen kann, der irrt. Solche Irrtümer wurden in Europa in der Vergangenheit mehrfach begangen. Was immer mit einer Katastrophe endete.“

Wir hätten schon vor zehn Jahren gut daran getan, auf Polen zu hören. Und zwar auf ein Polen, das in Bezug auf Russland mit einer Stimme sprach und bis heute (mit ganz wenigen Ausnahmen) mit einer Stimme spricht. Deutschland hat fast ganz auf Diplomatie gesetzt – und hat sich damit selbst geschadet. Es hat sich selbst militärisch weitgehend entmachtet – und tut sich heute schwer, die erforderliche Nachrüstung wirklich zu vollziehen. Polen hingegen bringt rund 4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Landesverteidigung auf – fast doppelt so viel wie Deutschland – und gerade Donald Tusk dringt auf den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigung.

Denn es geht nicht nur um das Schicksal der Ukraine, sondern um das Schicksal ganz Europas. Wenn Europas östliche Flanke angegriffen wird, – vielleicht die Baltischen Staaten, vielleicht Moldawien, vielleicht sogar Polen, – dann wird Europa als Ganzes angegriffen. Ich bin Donald Tusk ausgesprochen dankbar dafür, dass er uns nachhaltig daran erinnert, dass in dieser Bedrohungslage auch unsere militärische Reaktion gefragt ist – und zwar im Modus rascher und robuster Ertüchtigung. Frieden wird es nicht geben, wenn die Friedfertigen einfach nur gutwillig sind, sondern wenn sie ihn durch eigene militärische Stärke sichern. Menschen wie Donald Tusk wissen: Eine Abschreckungsstrategie schließt Friedfertigkeit nicht aus.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin froh, Donald Tusk in diesem Europa voller Spannungen an unserer Seite zu wissen. Ich bin froh, dass uns Stimmen aus Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern zu einer Politik anhalten, die den Realitäten tatsächlich Rechnung trägt. Wir stehen in Europa alle vor denselben Herausforderungen. Es gilt, die Demokratie vor den inneren und äußeren Bedrohungen zu bewahren. Dazu brauchen wir seine Erfahrungen und seinen Mut! Darin besteht doch eine der großen Pluspunkte der europäischen Gemeinschaft. Die Erfahrungen der Einen können zum Nutzen aller anderen eingesetzt werden!

Ich gratuliere Donald Tusk zu dem heute verliehenen Preis und wünsche ihm für sein weiteres politisches Wirken von ganzem Herzen alles Gute!