Laudatio Dr. Peter Frey & Thomas Osterkorn

THOMAS OSTERKORN

Revolutionen gehen oft einher mit neuen Kommunikationsmitteln. Zeitungen und Flugschriften waren Wegbegleiter der bürgerlichen Revolutionen. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, forderte etwa der Dichter Georg Büchner Anfang des 19. Jahrhunderts im hessischen Landboten.
Und Karl Marx setzte im Kommunistischen Manifest auf die Kommunikationsmittel seiner Zeit: „Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf“, schrieb er zusammen mit Engels. „Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.“
Ayatollah Chomeni bereitete von Paris aus die iranische Revolution 1979 mit dem damals neuartigen Tonbandkassetten vor. Persische Geschäftsreisende schmuggelten Bänder seiner Predigten ins Land, wo sie auf massenhaft kopierten Kassetten bald überall in den Basaren zu hören waren. Und der Freiheitsbewegung in den osteuropäischen Staaten, vom Streik auf der Danziger Lenin-Werft, bis zum Fall der Mauer in Berlin, hätten sich ohne die Kraft grenzüberschreitender Fernsehbilder wohl nicht so schnell so viele Menschen angeschlossen.

Heute erleben wir, wie das Internet weltweit erstarrten Regimen, Autokraten und Despoten von Ägypten bis Zimbabwe das Leben schwer macht.

PETER FREY

Über 500 Millionen Chinesen nutzen das Internet, mehr als in jedem anderen Land. In China führen 200 Millionen Menschen ihr eigenes Mikroblog. Eine ganze Generation von jungen Chinesen wächst heute im Internet auf, sie nutzen die Freiheit des weltweiten Datennetzes genau so selbstverständlich wie ihre Altersgenossen in den USA und Europa.
Doch trotz mancher Reformen und der Öffnung der vergangenen Jahre, ist China ein autoritäres Ein-Parteien-System geblieben. Bis heute hat die Kommunistische Partei die Medien im engen Klammergriff behalten. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Filme werden zensiert. Dem Internet geht es nicht anders. Das freie Netz, wie wird es kennen, existiert in China nicht. Auch haben unsere Korrespondenten oft mit schwierigen Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Das Internet ist in China eine Jobmaschine der besonderen Art: Zehntausende hauptberufliche Zensoren durchstöbern jede Webseite nach kritischen Beiträgen. Hunderttausende Seiten sind in China blockiert. Youtube, Facebook und Twitter sind für Chinesen nur mit technischen Tricks zu erreichen.

In China werden Internetnutzer überwacht, als ob sie mit Gefahrengut hantieren.  Wer in Peking oder Shanghai ein Internetcafé besucht, muss sich mit dem Personalausweis anmelden. Er ist ständig im Visier von Videokameras und der Computer führt ein genaues Protokoll über jede besuchte Seite. Immer wieder verschwinden kritische Blogger. Manche von ihnen sind gerade 20 Jahre alt und büssen viele Jahre im Gefängnis, weil sie es gewagt hatten, im Internet die Wahrheit auszusprechen.

Teils aus Resignation, teils aus Angst vor den Repressionen der Diktatur, beschränken sich die meisten Blogger auf belanglose Themen wie Kosmetik, Shopping und Diät. Doch trotz des schwierigen Umfeldes, der Zensur und Selbstzensur übernehmen die Blogger in China inzwischen eine gesellschaftspolitische Funktion, die in demokratischen Staaten der Presse zufällt.

Es ist ein ständiger Wettstreit mit den Zensoren. Blogger und besorgte chinesische Bürger berichten im Internet über Umweltskandale, Korruption und die Verschwendung von Steuergeldern. Manchmal dauert es nur Minuten, bis die Zensoren die Seiten entfernen. Doch da haben hunderte Seiten die Informationen bereits kopiert und weiter verbreitet. Und der Druck auf die Behörden, auf die Politik, die Partei ist entstanden – und er wächst mit Millionen von Internetnutzern immer mehr.

THOMAS OSTERKORN

In einem Land, wo die Medien sich als Propagandainstrument der Regierung verstehen, sind Menschen wie Michael Anti die einzig hörbaren kritischen Stimmen.
Michael Anti ist übrigens gar nicht sein richtiger Name. Als er 1975 geboren wurde, gaben seine Eltern ihm den Namen Zhao Jing. Im Chinesischen bedeutet das ruhig und friedfertig.  Das war sicher gut gemeint … (aber die Eltern hätten für ihren Sohn wohl keinen unpassenderen Namen wählen können. )
Das Pseudonym Michael Anti hat er sich selbst ausgesucht. Und so wollen wir ihn auch nennen. Denn Michael Anti steht für Kritik, für unbequeme Fragen, für Widerspruch – deshalb wollen wir ihn heute auszeichnen. Wir sind nicht immer einer Meinung. Aber wir haben großen Respekt für den Journalisten und Blogger Michael Anti, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt und sich mit großen Mut und klarem Verstand in Debatten einmischt und dabei stets alle politischen Tabus ignoriert.
Anti war immer ein Vorreiter, er fing an zu bloggen, als die meisten seiner Landsleute noch gar nicht wussten, was ein Weblog überhaupt ist. Und er hat sich dabei stets als Journalist verstanden, nie als Dissidenten.
„Ich berichte über Ereignisse, ich will sie nicht selbst machen“, hat Anti selbst einmal gesagt. Das ist die eiserne Grundregel des Journalismus und seine Leser honorieren das. Zehntausende Chinesen verfolgen seine Beiträge. Sein Blog zählt fast zwei Millionen Besucher.
Trotz Zensur und Verfolgung von kritischen Bloggern ist das Internet in China heute zu einer wahren Vierten Gewalt geworden – zum einem guten Teil gebührt der Verdienst auch Michael Anti.

Anti wurde in der ostchinesischen Stadt Nanjing geboren. Er ist erst 36 Jahre alt, doch sein Leben ist in den Zickzack-Bahnen verlaufen, die es braucht, um einen interessanten Geist zu formen. Ein Jahr nach seiner Geburt starb Mao Zedong und ganz allmählich beginnt die Öffnung Chinas. Anti war 14 Jahre alt, als die Studenten  1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking demonstrieren. Er war aktives Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und damals kritisierte er in seinem privaten Tagebuch die Demonstranten. „Für mich waren es Verräter unseres Vaterlandes und es war die Armee, die uns vor einem landesweiten Aufruhr bewahrte“, schrieb er später über die Zeit. Und damals dachten wohl viele Chinesen so wie er.

1995 fand er seinen ersten Job an der Rezeption eines Hotels. Ende der Neunziger Jahre arbeitete er als Programmierer in der chinesischen Provinzstadt Wuxi. Es gab damals nur zwei kleine Buchläden in dem Ort – nicht genug für einen jungen Mann mit großem Durst nach Informationen. Doch dann eröffneten dort die ersten Internetcafés.

In langen Nächsten vor dem Computer erkannte Anti, dass er die Proteste der Studenten falsch beurteilt hatte. Er selbst begann, kritische Texte zu schreiben. Im Netz machte er sich einen Namen, bis sein Talent von einer Pekinger Zeitung entdeckt wurde. Anti war Korrespondent in der Hauptstadt, er war Kriegsreporter im Irak und schließlich Rechercheur im Pekinger Büro der New York Times. Michael Anti ist heute Kolumnist, Journalist, Universitätsprofessor. Doch er selbst bezeichnet sich immer noch am liebsten als Blogger.

PETER FREY

Antis Geschichte zeigt auch eine erschreckende Schattenseiten des chinesischen Aufstiegs: Ende 2005 löschte der Microsoft Konzern sein Blog – entweder aus vorauseilendem Gehorsam oder auf Druck der chinesischen Behörden. Im vergangenen März löschte auch Facebook das Profil von Michael Anti. Viele westliche Konzerne buhlen in China um Marktzugang und machen sich dabei oft zu Komplizen des Systems, das uns mit Wachstum blendet, Glitzerwelten für den Konsum aufbaut, aber Angst vor der Freiheit des Einzelnen hat. Und wir machen mit. Westliche Technologie – Konzerne wie Siemens und Cisco verkaufen ihre Überwachsungs-Systeme an die chinesische Regierung. Yahoo leitete sogar 2004 Kundeninformationen des Journalisten Shi Tao an die chinesischen Behörden weiter. Shi wurde daraufhin wegen Geheimnisverrats zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt.

Chinas wirtschaftliche Macht wächst Jahr um Jahr. Doch die Spielräume der freien Meinungsäußerung schwinden. Und trotzdem ist etwas in Bewegung gekommen. Fast erinnert es mich an die Zeit, die wir hier in der Orangerie von Sanssouci im Raffael-Saal erleben. Auf diesen gewaltigen Heiligenbildern treten ja Menschen aus den Schablonen hervor, wie sie in den Jahrhunderten vorher gemalt wurden. Sie werden zu Menschen mit Emotionen – Trauer, Freude, Erstaunen – , zu Individuen mit einem ganz persönlichen Profil. So ähnlich scheint es mir heute in China zu sein. Ich war 1981 als junger Student in Shanghai, damals noch eine graue Stadt, die Menschen in der Mao-Uniform zu einer kaum unterscheidbaren Masse geworden. Ein paar Werbeflächen für japanische Fernseher oder Bauern, die schon Tomaten oder Zwiebeln anboten waren die kaum wahrnehmbaren Vorboten der gewaltigen Veränderung, die China seither in drei Jahrzehnten erlebt hat. Und Michael Anti kommt mit dabei vor wie einer der Renaissancefiguren, die plötzlich zu Menschen mit eigenem Profil werden. Ohne Emails, verehrter Lord Weidenfeld, wäre ihm das übrigens nicht gelungen. Aber so hat jede Generation ihre eigenen Waffen. Ihnen, verehrter Michael Anti, wollen wir jedenfalls zurufen: Sie machen sich auf, ihr Land zu verändern, Sie sind ein Vorbote eines neuen, offenen Chinas, den wir sehr herzlich begrüßen.
Umso wichtiger ist Michael Antis Arbeit, und deshalb möchten wir ihn heute auszeichnen.