Laudatio: Donald Tusk, Vorsitzender der Bürgerplatform, ehem. Präsident des Europäischen Rates

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Lieber Wladimir,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Herr Bürgermeister,
Frau Botschafterin,
verehrte Gäste,

mit großer Genugtuung habe ich das Angebot von Wladimir Klitschko angenommen, eine Laudatio zu Ehren des heldenhaften ukrainischen Volkes zu halten, das von den Gastgebern des heutigen Festaktes geehrt wird.
Als Pole, als Freund und Verbündeter der Ukraine seit den ersten Tagen ihrer Unabhängigkeit, als erklärter Europäer und Mann des Westens, als Westler im Sinne der politischen Werte, ist es meine Pflicht und mein Recht, heute laut und unmissverständlich zu sprechen – über den heldenhaften Kampf der Ukraine, über die Verbrechen Russlands, die in diesem Krieg täglich begangen werden, über die Haltung Europas und über die Bedeutung dieses Krieges für unser aller Zukunft, von Kiew bis Lissabon: Für unsere Freiheit und unsere Sicherheit.

Es ist höchste Zeit, dies zu verstehen: Dies ist auch unser Krieg, in dem es um die Grundlagen unserer Zivilisation geht. Ein Sieg der Ukraine wird nicht nur bedeuten, dass sie ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität bewahrt.
Der Sieg wird auch immer deutlicher zu einer Voraussetzung für das Überleben der europäischen Gemeinschaft und der politischen Zivilisation des Westens. Ein möglicher russischer Sieg würde einen Völkermord in der Ukraine, die drohende Unterwerfung Europas und das Verschwinden seiner geopolitischen Bedeutung bedeuten. Ein Triumph Putins würde auch ein Erstarken autoritärer oder geradezu faschistischer Tendenzen in der Welt bedeuten, und insbesondere auf unserem Kontinent.

Wie Timothy Snyder anmerkte, wird dieser Krieg die politischen und geopolitischen Regeln möglicherweise für das ganze 21. Jahrhundert festlegen und vielleicht über das Schicksal der Demokratie selbst entscheiden. Wir zollen heute der heldenhaften Ukraine Tribut, nicht nur bewegt von ihrem Leid und ihrer Tapferkeit, sondern auch im Bewusstsein, dass dieser Krieg für uns alle von Bedeutung ist. Es steht so viel auf dem Spiel, dass wir unsere Rolle in dieser historischen Konfrontation wirklich aufrichtig diskutieren müssen. Die Ukraine hat – wie die letzten Tage gezeigt haben – eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen, aber dazu bedarf es einer weitaus größeren Unterstützung durch Europa, und insbesondere durch die größten und reichsten Länder wie Deutschland.

Und dabei geht es nicht um symbolische Unterstützung, Auszeichnungen und Preisverleihungen, sondern um Waffen – Munition, Flugzeuge und Kampfpanzer. Es gibt keinen, ich betone, keinen Grund für Deutschland, Frankreich oder Italien, sich weniger für die Ukraine zu engagieren als die Vereinigten Staaten, Polen oder die baltischen Staaten. Putin hat die Ukraine angegriffen, aber dies ist letztlich ein Angriff auf die gesamte demokratische internationale Gemeinschaft. Nur politisch Verblendete können heute noch die Tatsache verdrängen, dass Russland seit langem – mit verschiedenen Mitteln – einen Krieg gegen die NATO und die Europäische Union führt. Die Schwächung des Nordatlantikpakts, die Einmischung in Wahlen und gesellschaftliche Konflikte in den EU-Staaten und in den USA, die Beteiligung am Brexit – das sind nur Beispiele für groß angelegte politische Sabotageakte Russlands. Die Zerstörung der Einheit der Europäischen Union ist eine der offensichtlichen Prioritäten des Kremls. Politisch haben wir daher keine andere Wahl, als uns eindeutig auf die Seite der Ukraine zu stellen.

In der moralischen Dimension ist das Problem noch offensichtlicher. Es ist lange her, dass es einen so schwarz-weißen Konflikt gab, bei dem die Grenze zwischen dem Bösen und dem Guten so deutlich zu erkennen wäre. Es ist bekannt, wer der Henker und wer das Opfer ist. Und Versuche, diese Frage zu relativieren, finde ich schlicht und einfach widerlich. Die europäischen Politiker, die auch hier in Berlin nach einer Art Symmetrie, einer Art historischer und wirtschaftlicher Begründung für Untätigkeit oder Neutralität suchen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass, wenn die Hilfe ihrer Länder, insbesondere die Lieferung von Waffen, schneller und umfangreicher gewesen wäre, wären weniger Kinder in der Ukraine gestorben, wären weniger Frauen vergewaltigt und ermordet worden, weniger Städte, Krankenhäuser und Kindergärten bombardiert.

Wenn ich heute höre, dass Europa und Deutschland schon vor Jahren auf Polen oder Estland hätten hören sollen, was die aggressive Politik des Kremls angeht, empfinde ich eine – bedauerlicherweise bittere – Genugtuung. Ja, wir hatten Recht, als wir Sie 2008 dazu aufforderten – und ich war damals Premierminister der polnischen Regierung – die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Wir hatten Recht, als wir vor den katastrophalen geopolitischen Folgen von Nord Stream 2 warnten, oder als ich 2014 versuchte, die Deutschen, die Franzosen und die Italiener von einer Energieunion und der Unabhängigkeit Europas vom russischen Gasdiktat zu überzeugen.

Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, also lasst uns tun, was wir tun können und was jetzt getan werden muss, daher:
– unverzügliche Vergrößerung des Umfangs der Waffenlieferungen, einschließlich schwerer Waffen, an die Ukraine;
– politische Garantien für eine Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union – und zwar so bald wie möglich, nach Beendigung des Krieges.
– Rückkehr zur Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und der realen Sicherheitsgarantien für Kiew.
– Aufrechterhaltung der vollen Einigkeit der Europäischen Union und der NATO bei einer harten Sanktionspolitik gegenüber Russland.

In Berlin wurden noch bis vor kurzem Stimmen laut, dass sich Deutschland wegen der Erinnerung an die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs nicht offen auf die Seite der Ukraine stellen könne. Der Krieg begann jedoch mit dem Einmarsch von Deutschland und Stalins Russland in Polen – und Juden sowie polnische, ukrainische und belarussische Bevölkerung erlitten in diesem Krieg die größten Verluste.
Wenn das Schuld- und Verantwortungsgefühl für den Zweiten Krieg die Deutschen heute zu irgendetwas verpflichten sollte, dann vor allem dazu, sich unmissverständlich und voll auf die Seite der Ukraine im Kampf gegen den Aggressor zu stellen. Und dazu, an die Frage der Wiedergutmachung gegenüber den Völkern, die den höchsten Preis für den Wahn des Nationalsozialismus gezahlt haben, ernsthaft und ehrlich heranzugehen.
Ich sage dies als Politiker, der sich seit Jahren für die deutsch-polnische Aussöhnung und den Aufbau eines gemeinsamen Europas einsetzt, nicht als Feind.

Alle Argumente – moralischer, politischer, historischer und zivilisatorischer Natur – lassen uns heute auf der Seite der Ukraine und ihrer heldenhaften Verteidiger stehen. Ich bin stolz auf meine Landsleute, die der ganzen Welt ein Beispiel dafür gaben, wie man sich angesichts dieser historischen Herausforderung verhalten sollte.

Alle Menschen guten Willens sagen heute: Ruhm der Ukraine! (Slawa Ukrajini!)