Laudatio Christian Lindner

Lieber Herr Volkov,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schubert,
sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Anwesende,

der M100 Media Award wird an Persönlichkeiten vergeben, die sich für Demokratie, europäische Verständigung sowie Meinungs- und Pressefreiheit einsetzen. Mir ist es eine große Ehre, dass ich nach 2018 ein zweites Mal bei einer Verleihung sprechen darf.

Man kann zwischen dem damaligen Preisträger von 2018, Deniz Yücel und dem heutigen Preisträger Alexei Nawalny durchaus eine Parallele ziehen. Beide verbindet, dass sie politisch motiviert in Haft saßen und sitzen, der eine in der Türkei, der andere in Russland. Aber es ist nicht dieses Schicksal, das sie verbindet und für das sie Aufmerksamkeit verdienen, sondern es ist ihr demokratisches Wirken, für das sie ausgezeichnet werden.

Bevor wir Alexei Nawalny würdigen, muss ich allerdings kurz darauf hinweisen, dass diese Preisverleihung lediglich eine Plattform ist, um im heimtückischen Komplott des Westens die extremistische Organisation rund um Nawalny zu finanzieren. Denn das musste ich über diese Veranstaltung lesen auf der Nachrichtenseite einer russischen Trollfabrik. Und mehr, auch ich selbst spiele dort eine Rolle, denn ich habe erfahren, dass Alexei Nawalny für mich ein Hebel sei, so urteilt ein Politologe, um ins Deutsche Außenministerium zu kommen. Und besonders schlimm sind übrigens die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen; Nawalny ist ausschließlich deren Mittel im ideologische Kampf gegen die Pipeline Nord Stream 2. Ich kann bekennen, was den Hebel ins Außenministerium angeht, schon der Blick in den deutschen Qualitätsjournalismus offenbart, dass wir über andere Pläne verfügen. Diese kleine Anekdote zeigt aber, wie wichtig und unverzichtbar der Kampf gegen Desinformation ist. Es könnte ratsam sein, dass der internationale unabhängige Qualitätsjournalismus in russischer Sprache künftig auch stärker öffentlich finanziert wird.

Leider kann Alexei Nawalny den Preis heute bekanntlich nicht persönlich entgegennehmen, da er zur Stunde östlich von Moskau inhaftiert ist. Und das nur, weil er es wagt, offensichtliche Missstände, Machtmissbrauch und Korruption anzuzeigen. Er selbst würde das übrigens noch schärfer sagen, er würde sagen – und so hat er es getan –, Zitat: „Ich bin in Haft, weil ich es gewagt habe, einen Mordanschlag zu überleben.
Ich mache wöchentlich auf Twitter auf Alexei Nawalnys Inhaftierung aufmerksam, ich habe einen Count up, er ist inzwischen übrigens 263 Tage in Haft, eine Haft, die jeder rechtlichen Grundlage entbehrt, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat. Wir als liberale Demokraten stehen miteinander in der Verantwortung, Oppositionelle in autoritären Staaten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Alexei Nawalny war bereits lange vor 2020 als Anti-Korruptionsbekämpfer mit seiner Stiftung bekannt, auch als russischer Oppositionspolitiker, zum Beispiel als Zweitplatzierter bei der Moskauer Bürgerschaftswahl 2013. Aber zu einer globalen Symbolfigur für den Kampf für Freiheit und Demokratie wurde er am 20. August 2020, als er auf einem Flug von Tomsk nach Moskau mit einem Nervenkampfstoff vergiftet wurde. Er kam nach Deutschland, auf Drängen seiner Familie wurde er hier in Berlin in der Charité behandelt, und das Leben konnte ihm gerettet werden. Es war übrigens nicht der erste Anschlag auf ihn, wir haben gerade im Video die Bilder gesehen, wo er gerade spielerisch sein grünes Gesicht in die Kamera gehalten hat, nachdem er im Wahlkampf 2018 mit Farbe attackiert wurde. Bei dieser Wahl wurde noch nicht einmal sein Name auf dem Stimmzettel zugelassen.

Er hat sich in Deutschland regeneriert, ich habe ihn Ende 2020 können zusammen mit seiner Frau zu einem Gedankenaustausch treffen können. Und dann im Januar haben wir erfahren, dass er beabsichtigt, zurückzukehren nach Moskau. Ich erinnere mich sehr gut an meine Gefühle, die ich hatte, als ich dieser Nachricht gehört habe. Er wusste, was ihn erwartet. Er musste mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihm ein Prozess gemacht werden würde, der nicht unseren rechtsstaatlichen Standards genügen konnte. Und trotzdem hat er sich dafür entschieden, weil er wusste, dass seine Rolle und Verantwortung als Oppositioneller durch die Propaganda des Regimes Schaden nehmen würde, wenn er im Westen bliebe.

Was ist das für ein Preis, den dieser Held im demokratischen Kampf zu zahlen bereit ist. Wir beklagen uns in Deutschland gelegentlich über Freiheitseinschränkungen. Ich spreche jetzt nicht von den Grundrechtseingriff aufgrund des Gesundheitsschutzes während der Pandemie, sondern ich beziehe mich auf Studien, nach denen Deutsche der Meinung sind, bei uns würde die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Und ja, auch bei uns gibt es Themen bei der Diskussion über die Pluralität der Meinungen, die in der veröffentlichten Diskussion stattfinden. Aber wie klein wirkt unsere Klage über vermeintlich eingeschränkte Meinungspluralität angesichts einer Repression in einem autoritären Regime wie in Russland. Welchen Preis ist Alexei Nawalny bereit zu zahlen? Alles, sagte er gerade im kurzen Einspieler, für die Familie, für diejenigen, die mit ihm verbunden sind, für seine Organisation. Welch großer Respekt, den wir ihm zuteilwerden lassen müssen.

Während er jetzt zur Stunde in Haft sitzt, laufen neue Verfahren gegen ihn selbst, weitere gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seiner Stiftung, die ja im Juni dieses Jahres auch als extremistisch eingestuft wurde. Repression erfahren auch ausländische politische Stiftungen, die sich für Demokratie und Menschenrechte in Russland einsetzen. Aber Alexei Nawalny bleibt mutig. Er scherzt auf Instagram: „Macht euch keine Sorgen, denn die lebenslängliche Strafe in Russland hat eine Obergrenze von 30 Jahren, ich bin also spätestens 2051 wieder frei.“ Humor kann eben auch eine Waffe sein.

Sowohl die Vergiftung als auch die Inhaftierung und die immer neuen Verfahren gegen ihn und seine Organisation sind international nicht akzeptabel. Öffentlicher und politischer Druck müssen aufrechterhalten werden, ein Giftmordanschlag ist ein Zivilisationsbruch. Und vielleicht – nein sogar ganz sicher – ist dieser Umgang mit Opposition und Kritik auch Ausdruck des Charakters von Machthabern selbst. Wer so mit Kritikern und Opposition umgeht, offenbart etwas von seiner inneren Stärke und der gefühlten eigenen Legitimation –oder eben der nicht vorhandenen inneren Stärke und gefühlten eigenen Legitimation.

Im Januar 2020 war ich mit einer Delegation in Moskau, wir waren dort auf der Brücke mit Blick auf den Kreml und standen dort genau an der Stelle, an der Boris Nemzow am 27. Februar 2015 kaltblütig erschossen wurde. Auch er war ein Gesicht der russischen Opposition, zuvor übrigens einer der Architekten marktwirtschaftlicher Reformen in Russland in den 1990er Jahren. Kurz nachdem Alex Nawalny am 20. August 2020 vergiftet wurde, habe ich in Berlin Vladimir Kara-Murza getroffen, einen ehemaligen Berater von Boris Nemzow, auch Kara-Murza wurde zweimal vergiftet, 2015 und 2017. Wir haben uns mit ihm ausgetauscht: Was kann man tun? Was erwartet ihr von uns? Und er sagte zwei Dinge:
Zum einen: Macht auf unsere Situation aufmerksam, vergesst uns nicht, unterstützt uns mit Öffentlichkeit. Aber er gab einen zweiten Denkanstoß – und übrigens auch darüber hatte ich im Oktober 2020 mit Alexei Nawalny gesprochen – er sagte, der größte Druck auf ein autokratisches Regime wird aufgebaut, wenn man einen Sanktionsmechanismus nicht gegen die Völker einrichtet, sondern gegen diejenigen etabliert, die für die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten direkt verantwortlich sind. Völkerrechtsbrüche und Korruption sollten, so sagen es uns russische Oppositionelle, mit personalisierten Sanktionen belegt werden, die nicht zwingend immer nur in der Breite die Zivilbevölkerung treffen dann auch für Machthaber Anlass sein können, ihre Propaganda gegen demokratische Gemeinschaften zu richten. Ich halte die sogenannte Magnitzki-Gesetzgebung für richtig, nicht zuletzt auch als eine Antwort auf die Vergiftung von Alexei Nawalny. Solche sollten wir sowohl in unserem Land als auch auf der europäischen Ebene entschieden vorantreiben, also individuelle Sanktionsmechanismen gegenüber den Trägern autoritärer Regime, die unmittelbar Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben.

Tatsächlich gibt es seit Dezember 2020 auch ein Global Human Rights Sanction Regime, das auf der europäischen Ebene eingeführt wurde. Und erste Sanktionen wurden dann auch tatsächlich im Zusammenhang mit der Festnahme, Strafverfolgung und Inhaftierung von Alexei Nawalny und der Unterdrückung friedlicher Proteste gegen vier russische Personen verhängt.

Es kann nur ein Anfang sein. Wir müssen hart gegen Illegitime Herrschaft und gegen käufliche Eliten überall auf der Welt vorgehen, aber zugleich unser Herz öffnen für eine Bevölkerung, die sich nach einer guten Zukunft sehnt.

Das Enthüllungsvideo zu den Korruptionsverstrickungen und -vorwürfen im Umfeld von Wladimir Putin haben 120 Mio. Menschen auf YouTube gesehen. Alexei Nawalny hat es nach seiner Rückkehr nach Russland veröffentlicht. Er sagte: „Ich kehre zurück in meine Heimat, die ich unfreiwillig und im Koma verlassen habe, und ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst, die Wahrheit zu sagen.“ Und so führt er zusammen mit seinem Team seine Arbeit weiter, auch unter den widrigen Verhältnissen, und selbst im Exil wie Leonid Volkov, der heute für ihn den Preis entgegennimmt, Stabschef und politischer Direktor des Teams. Er ist möglicherweise verantwortlich für das größte Projekt eines hoffentlich dereinst demokratischen Russlands, nämlich Smart Voting. Smart Voting hat die zentrale Idee, die politische Opposition zu bündeln, indem man sich auf die erfolgversprechendsten oppositionellen Kandidaten einigt, um die Opposition insgesamt zu stärken.

Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, mit diesen und anderen Maßnahmen, mit einer Courage, wie Alexei Nawalny und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sie gezeigt haben, ist die Veränderung von Herrschaft, die Veränderung von Staatlichkeit von innen möglich. Alexei Nawalny sagt selbst: „Kämpft für eurer demokratischen Rechte und habt Mut.“

Ich bin überzeugt, das Streben nach Freiheit ist auf Dauer immer stärker als die Macht und die Unterdrückung. Für liberale Demokratien sollte demokratische Opposition überall auf der Welt ein natürlicher Partner bleiben, nicht nur in Russland, sondern auch die Anliegen der Bevölkerung in Hong Kong sollten wir in gleicherweise ernstnehmen und unseren Blick nicht lösen von der Situation in Belarus. Wir teilen mit dieser Opposition weltweit die Grundwerte von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit. Deutschland und Europa brauchen eine Außenpolitik, die in kluger Weise die Interessen an Dialog, Handel, Austausch und Kooperation, die wir alle teilen, die diese Interessen verbindet mit unseren unaufgebbaren Werten.

Wir selbst können in unseren Gesellschaften für die liberale Grundlage unseres Zusammenlebens nur dann glaubwürdig eintreten und für sie werben, wenn wir auch dann an diesen Werten festhalten, wenn sie einmal in Spannung oder gar in den Widerspruch mit unseren sonstigen Interessen geraten könnten.

Ich gratuliere deshalb Alexei Nawalny zu dieser Auszeichnung, ich zolle Dir, Leonid, meinen Respekt und ich sehe uns alle durch Euer Vorbild in der Verantwortung, es Euch mit Eurem Einsatz für die Freiheit nachzutun.

 

Christian Lindner (*7. Januar 1979) ist Mitglied des Deutschen Bundestages sowie Vorsitzender der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag.
Im Dezember 2013 wurde Christian Lindner zum Bundesvorsitzenden der Freien Demokraten gewählt. Bei der Bundestagswahl im September 2017 führte er die FDP nach vier Jahren in der außerparlamentarischen Opposition zurück in den Deutschen Bundestag.
Christian Lindner gehört der FDP seit 1995 an. 2000 wurde er als Abgeordneter erstmals in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt. Von 2012 bis 2017 war er Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion NRW. Der Wermelskirchener studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.