Hauptrede Wolfgang Schäuble

Vielen Dank, Herr Oberbürgermeister. Herr Präsident, dear Mario, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Wenn ich geahnt hätte, dass diese Ehrung auf diesen Tag heute fällt, hätte ich mir das wahrscheinlich noch einmal überlegt. Weil die Europäische Zentralbank unabhängig ist. Und die Unabhängigkeit der Notenbank ist ein hohes Gut. Sie fordert eine große Zurückhaltung, insbesondere von denen, die in Regierungen oder Parlamenten Verantwortung tragen.

Deswegen darf ein Finanzminister Entscheidungen der Europäischen Zentralbank noch nicht einmal begrüßen, geschweige denn kritisieren. Deswegen bin ich auch kein Laudator, denn auch das wäre schon möglicherweise mit der Gefahr einer gewissen Beschädigung der Unabhängigkeit der Notenbank verbunden. Also, was soll ich jetzt machen? Sie, Herr Oberbürgermeister, haben ja zwei große Europäer erwähnt: François Mitterand und Helmut Kohl. Das war noch eine Generation von politischen Führern, die die europäische Einigung aus den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs auch mit deutsch-französischer Aussöhnung und Überwindung von Jahrhunderten von Kriegen begründet haben. Nie wieder Krieg. Ich weiß noch, wie Mitterand – ich glaube sogar aus Anlass seiner letzten Rede in Berlin 1994 – sagte: „L`Europe, c`est la paix“ – Europa, das ist der Frieden. Wenn Sie heute jungen Menschen erklären wollen, warum Europa so wichtig ist und sagen, damit Deutschland und Frankreich keinen Krieg mehr gegeneinander führen, dann hören die nicht einmal zu. Dass wir dies erreicht haben, ist der große Erfolg der europäischen Einigung.

In der Politik, wie überhaupt im Leben, haben Erfolge immer die Gefahr, dass sie sich selbst auch ein Stück weit gefährden. Weil alles, was man erreicht hat, nicht mehr so wichtig ist. Die Wahrnehmung der Menschen bezieht sich immer auf das, was man nicht oder noch nicht hat, oder was man zu verlieren glaubt. Wenn ich als Finanzminister – was ich heute nicht tue – davon rede, dass wir eine Schuldenbremse im Grundgesetz haben, dann hätte ich Anfang der Legislaturperiode Wetten in unbegrenzter Höhe abschließen können, dass wir diese Schuldenbremse nie einhalten würden. Wir haben 2010 mit 86 Milliarden Defizit begonnen. Jetzt werde ich kritisiert, weil wir immer noch 18 Milliarden im Entwurf haben. Da sieht man, wie Erfolg sich überflüssig macht.

Wir müssen, wenn die europäische Einigung weitergehen soll, wenn wir die Unterstützung des Souveräns, der Menschen in Europa, der europäischen Völker weiterhin und zunehmend dafür gewinnen wollen, erklären: warum brauchen wir Europa im 21. Jahrhundert? Die Antwort ist einfach. Und Mario Draghi ist ein idealer Preisträger, um diese Antwort zu symbolisieren, von seinem Lebensweg her. Er hat lange globale Verantwortung getragen in der Weltbank, im Financial Stability Board und jetzt in der Europäischen Zentralbank, einem Major Player in der globalen Ordnung. In der Welt der Globalisierung werden wir in diesem Jahrhundert alle irrelevant werden, wenn es uns nicht gelingt, Europa Schritt für Schritt zu einer handlungsfähigen Einheit zu entwickeln. Das ist die eigentliche Begründung. Deswegen kann man sagen, wenn man Europa nicht schon vor 60 Jahren begonnen hätte, wäre es höchste Zeit, dass wir es jetzt machen. Wir haben übrigens viel erreicht mit der europäischen Einigung. Wir wären nicht hier ohne die Europäische Einigung, ganz einfach.

Ich war dabei – das muss ich hier in Potsdam sagen –, als Louis Ferdinand zu Bundeskanzler Kohl kam mit einem Brief des damaligen Vorsitzenden des Staatsrats der DDR mit der Anrede „kaiserliche Hoheit“. Der war formvollendet mit goldenen Lettern. Die Frage war einfach: Es wäre doch der Wille von Friedrich gewesen, nach Sanssouci zu gehen, um seine letzte Ruhe zu finden. Ob man den Wunsch nicht erfüllen könne? Dann haben wir zu dritt beraten – ich war der Chef des Kanzleramts –, was wir da machen und wie wir antworten. Die Antwort von Louis Ferdinand war: sobald Deutschland wiedervereinigt ist. Das war 1987. Helmut Kohl sagte, ich begleite dann den Zug des Leichnams, von der Burg Hohenzollern nach Potsdam. Ein paar Jahre später ist er dafür kritisiert worden. Aber er hatte es versprochen und hat es, wie das meiste, gehalten. So schnell hat sich die Geschichte verändert.

Aber zurück. Wir sind auf dem Weg der europäischen Einigung weit gekommen. Es war richtig, schrittweise voranzugehen, weil die Bevölkerung nur schrittweise davon zu überzeugen ist. Denn das Komplizierte in Europa ist nicht, einen größeren Staat zu schaffen, sondern die Identifikationsform der Nationen weiterzuentwickeln mit einer Form neuer, modernerer Governance, die wir in Europa brauchen. Teile dessen, wofür zuvor Staaten zuständig waren, auf europäischer Ebene zu regeln. Schritt für Schritt: Ever closer Union. Wirtschaftlich vorangehen, weil das Andere nachfolgt. So geht die Geschichte der europäischen Einigung seit den 50er Jahren. Sie geht mühsam, kompliziert, bürokratisch, aber sie geht ungeheuer erfolgreich.

Europa ist die mit Abstand größte Wirtschaftsregion der Welt. Und deswegen war die Entscheidung richtig, eine gemeinsame Währung für diesen großen Wirtschaftsraum zu schaffen – was immer da jetzt auch diskutiert wird. Wenn Sie sich die Währungssysteme heute anschauen und sich vorstellen, wir hätten keine europäische Währung, dann wäre die Lage in der globalen Wirtschaft viel instabiler. Der Euro muss eine große Rolle spielen. Natürlich ist das schwierig und natürlich können sich Ökonomen nicht vorstellen, dass man – mit 12 haben wir, glaube ich, angefangen – mit inzwischen 17 Mitgliedsstaaten, mit 17 nationalen Finanzpolitiken eine gemeinsame Währung hat. Aber mehr war nicht möglich; wir haben immer so angefangen in Europa. Außerdem hatten wir einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, um die mangelnde Kongruenz zwischen Geldpolitik und Fiskalpolitik zu überwinden. An den haben sich nicht immer alle gehalten, auch die Deutschen nicht immer – aber das will ich nicht vertiefen. Es hat sich bewahrheitet, was Jean-Claude Juncker schon bei der Einführung des Euro sagte: Der Euro wird sich mal als der große Motor für die weiteren Schritte europäischer Integration erweisen.

Jetzt werden wir das, was wir damals an politischer Union nicht zustande bringen konnten, weil es der Souverän nicht akzeptiert hätte, schrittweise zu leisten haben. Jetzt haben wir die Eurokrise, das ist wahr. Die Eurokrise ist im Kern natürlich eine Folge der Tatsache, dass eine gemeinsame Währung bei nicht vergemeinschafteter Finanz- und Wirtschaftspolitik Probleme aufwirft. Manche haben im Zuge der niederen Zinsen vergessen, dass die Welt der Globalisierung schnellere Anpassungen an veränderte Wettbewerbsbedingungen, also eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, erfordert. Deswegen ist die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit unser größtes Problem und führt am Ende zu den Target 2-Salden. Es ist eine Folge unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit, und die kann auf Dauer nicht so weiter gehen.

Eine gemeinsame Währung setzt alle Volkswirtschaften unter einen viel stärkeren Wettbewerbsdruck. Und in der Finanzpolitik ist das ähnlich. Deswegen geht der Weg aus dieser Krise, so mühsam er ist, nicht anders, als wir es tun. Die Ursachen müssen da bekämpft werden, wo sie entstehen. Sie entstehen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder, und dort müssen sie bekämpft werden. Das ist nicht Hartherzigkeit oder mangelnde Solidarität oder mangelnde Vision oder sonst etwas. Wir haben nicht die dynamischen Reserven wie die Emerging countries oder wie hoffentlich auch die Vereinigten Staaten von Amerika in der Zukunft. Deshalb können wir nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur auf der Grundlage von finanzpolitischer Stabilität gewährleisten. Unsere Spielräume sind geringer. Wir können auch nicht einfach aus den Schulden herauswachsen. Das wird nicht funktionieren. Wenn dieses Europa keine Stabilität produziert, werden die Menschen ihr Vertrauen weder in Europa noch in die europäische Wirtschaft investieren.

Deswegen müssen wir Schritt für Schritt die Probleme lösen. In dieser Beziehung haben wir in Europa viel mehr Fortschritte gemacht als man heute, wenn man immer die Krisenmeldungen liest, zur Kenntnis nimmt. Wenn man sich die Reformmaßnahmen anschaut, selbst in der Finanzpolitik Griechenlands, in Irland, in Portugal, in Spanien, in Italien, in anderen Ländern, ist das eindrucksvoll. Und was an Strukturmaßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in vielen Ländern auf den Weg gebracht worden ist, ist viel mehr, als sich die meisten vor wenigen Jahren hätten vorstellen können. Auch das findet statt. Und deswegen ist es richtig, dass wir alles als Hilfe zur Selbsthilfe – wie es in der Entwicklungszusammenarbeit heißt – oder mit Konditionalität – in der Sprache der Finanzpolitiker – machen. Dabei darf es keine Fehlanreize geben.

Demokratie beruht auf Mehrheiten. Die Demokratie neigt deshalb dazu, bei Entscheidungen lieber den bequemeren Weg zu gehen und nicht den härteren. Deswegen haben wir zum Beispiel die Autonomie der Notenbank: damit der bequeme Weg, über die Banknotenpresse den Entscheidungen auszuweichen, den Politikern verwehrt bleibt. Es ist eine Selbstbeschränkung, im Sinne von checks and balances in unserer Verfassung, und die ist richtig. Wenn wir anfangen würden, die Probleme, die wir in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht lösen, durch das bequemere Mittel der Geldpolitik lösen zu wollen, würden wir einen schweren Fehler machen. Deswegen haben wir die Unabhängigkeit. Und deswegen verteidigen wir sie, respektieren sie, und vertrauen darauf – das ist eine Grundlage dafür.

Die Reformanstrengungen in den Ländern müssen sein, sie finden statt. Das ist das erste. Außerdem müssen wir eine bessere Entscheidungsstruktur in Europa schaffen. Deswegen brauchen wir das, was wir mit dem Fiskalvertrag auf den Weg gebracht haben, mit dem Euro Plus- Pakt und anderen Vertragswerken: eine Stärkung der finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungsstrukturen in Europa. Das ist das zweite. Das alles braucht Zeit, deswegen benötigt man – drittens – Rettungsschirme, um den Ländern auch zu helfen, die Zeit zu überbrücken, bis die Maßnahmen greifen. Soweit ist der Dreiklang klar.

Unser Problem ist, dass man Vertrauen in den Finanzmärkten schnell verliert, aber nur langsam zurück gewinnt. Und unser Problem ist, dass Europa so kompliziert und der Prozess der Entscheidungsfindung in Europa so komplex ist, dass Sie das einem Finanzinvestor nicht erklären können. Der hört gar nicht so lange zu. So komplexe Sachverhalte können die auch nicht akzeptieren, das stimmt leider. Das geht aber nicht anders in der Demokratie. Ich höre immer die Debatte, ja, ist die Politik schnell genug für die Märkte? Meine Damen und Herren, wenn die Politik nicht schnell genug ist für die Märkte, müssen die Märkte warten. Das hilft nichts. Wir werden die Demokratie nicht abschaffen, bloß weil sie vielleicht nicht zu den Märkten passt.

Es ist jedenfalls ein mühsamer Weg, Vertrauen zu bilden. Aber wir sind auf einem guten Weg und werden auch die notwendige Zeit gewinnen. Deswegen müssen wir eine klare Unterscheidung zwischen kurz- und langfristigen Maßnahmen machen. In diesen Rahmen fügen sich die Entscheidungen ein. Sie passen zusammen, und es wird sich herausstellen – was manche bezweifeln: Dieser Euro ist und bleibt eine stabile Währung, die nicht auseinanderbrechen wird. Alle, die darauf wetten, werden ihr Geld verlieren. Wir werden das Schritt für Schritt schaffen. Allerdings werden wir das nicht über Nacht überwinden.

Ich sage übrigens auch: Wir machen das alles nicht mit unverantwortlichen Risiken. Wir machen das alles klar in den Grenzen von Recht und Gesetz und in den Grenzen der Verfassung, deswegen bin ich in Bezug auf den kommenden Mittwoch – ich glaube der 12. September – in Bezug auf die Wahlen in den Niederlanden viel nervöser als in Bezug auf die Verkündung eines Urteils in Karlsruhe. Der ESM verletzt nicht das Grundgesetz. Alle unsere europäischen Verträge sind – auch in der Kontinuität der Rechtsprechung unseres Bundesverfassungsgerichtes – in keinem Punkt jemals als Verstoß gegen das Grundgesetz gewertet worden.

Wir werden auf diesem Weg weiter gehen. Wir werden Schritt für Schritt eine stärkere Integration schaffen, das machen wir jetzt hoffentlich schnell. Als nächstes kommt die europäische Bankenaufsicht. Dabei sieht man, wie stark das Vertrauen in die EZB ist: Alle sind sich einig, dass eine europäische Bankenaufsicht nur Vertrauen gewinnen kann, wenn die EZB wesentlich involviert ist. Es gibt viele Herausforderungen, die sich da stellen, aber die europäische Bankenaufsicht kommt. Außerdem arbeiten die vier Präsidenten – von denen einer heute Abend bei uns ist – daran, Vorschläge zu machen, wie wir die institutionellen Reformen in Europa schneller voran bringen. Ich glaube, es wird viel schneller gehen, als manche vor einigen Jahren noch geglaubt haben. Natürlich werden wir weitere Schritte machen müssen, aber ich bin ganz zuversichtlich, dass wir vorankommen.

Und deswegen: mich schreckt das Wort Krise nicht. Ja, meine Damen und Herren, in unserer Wohlstandsgesellschaft kriegen wir Entscheidungen – im Sinne von Veränderungen – nur zustande, wenn die Notwendigkeit dazu besteht. Das nennt man Krise. Weil wir in der Welt der Globalisierung mit diesen unglaublich schnellen Veränderungen, diesem Innovationstempo leben. Manchmal kann man fragen, ist der Mensch dieser schnellen Evolution überhaupt gewachsen? Das wäre vielleicht für nächstes Jahr, Herr Oberbürgermeister, ein großes Thema. Alles wird immer mehr beschleunigt; das betrifft unsere Sozialstrukturen, und unsere politischen Strukturen auch. Jedenfalls müssen wir uns in dieser Welt durch ständige Anpassung immer neu behaupten und bewähren. Nichts, was wir in der Vergangenheit erworben haben, ist für die Zukunft gesichert. Aber das ist nicht neu, das hat Goethe schon gesagt – den darf man zitieren: „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Und Popper hat uns gelehrt, die freiheitliche, die offene Gesellschaft ist der nicht-freiheitlichen überlegen, weil sie die Fähigkeit hat, aus Fehlern, aus Irrtümern, immer neu zu lernen: trial und error. Und wenn wir dann Menschen haben, die ihre Verantwortung exemplarisch tragen und sich engagieren – und die hat Europa immer gehabt –, dann ist mir um die europäische Zukunft nicht bange. So wenig, wie um die Stabilität der europäischen Währung. Und deswegen freue ich mich, Mario Draghi, dass wir heute einen Großen mit diesem bedeutenden Preis ehren. Herzlichen Dank!