Hauptrede des Vizekanzlers und Finanzministers Olaf Scholz

Meine Damen und Herren,

herzlichen Dank für Ihre Einladung.
Ich bin sehr gerne gekommen, nicht nur, weil ich in Potsdam lebe und unter anderem das Orangerieschloss sehr mag. Sondern auch, weil ich mich auf die Preisverleihung freue und das Thema, das Sie heute Abend diskutieren, sehr spannend ist: „Welche Medienlandschaft soll unsere demokratischen Gesellschaften in Zukunft prägen – und was können wir heute dafür tun?“

Von John Rawls stammt der Satz „Gerechtigkeit ist die Tugend der sozialen Institutionen, so wie Wahrheit bei Gedankensystemen“.
Rawls verwendet die Parallele in einem Zusammenhang, der deutlich machen soll, dass der Staat die Dinge nicht einfach so laufen lassen kann, wie sie sich aus der Natur und den Zufälligkeiten des Lebens ergeben. Und ich füge hinzu: Wie sie sich aus ungeregelten Märkten und Arbeitsverhältnissen, aus der menschengemachten Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen, aber eben auch aus sozialen Medien und dem Internet ergeben würden, die mit Natur und Zufälligkeiten nichts zu tun haben. Es braucht Regeln.

Der Gedanke steht ganz am Anfang von Rawls Buch mit dem Titel „Theorie der Gerechtigkeit“. Seine These ist: Es sind Regeln nötig, die für Gleichheit und Solidarität sorgen.
Man kann den Satz aber auch breiter verstehen: Die Aufgabe, für Wahrheit zu stehen, darf man ebenfalls nicht unterschätzen und alleine dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Ich denke, Rawls hätte dem zugestimmt.

[Fakten sind keine Privatangelegenheit]
Wahrheit basiert zunächst auf Fakten. Manchen ist das besonders in den vergangenen Monaten nochmals sehr klar geworden. Die COVID 19 Pandemie bedeutet nicht nur eine tiefgreifende ökonomische und gesellschaftliche Zäsur, sondern auch eine mediale. Selbstverständlichkeiten sind weggebrochen, lange Unbeachtete wurden mit neuem Respekt betrachtet. Zu den zentralen Erfahrungen in der öffentlichen Auseinandersetzung gehört aber auch eine neue Qualität im Umgang mit Informationen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über das SARS-CoV-2 Virus lagen noch nicht vor, wissenschaftliche Empfehlungen waren im März unvermeidbar widersprüchlich, auch Entscheidungen der Ordnungsbehörden waren bundesweit unterschiedlich und sind es manchmal noch.

Fakten, Gewissheiten und Gerüchte auseinanderzuhalten war wie so oft nicht trivial. Seriöse und unseriöse Quellen leicht voneinander unterscheiden zu können auch nicht.

Es ist daher notwendig zu sagen: Im politischen Raum und der Öffentlichkeit eines demokratischen Gemeinwesens muss es möglich bleiben, sich auf eine gemeinsame Wahrnehmung von Fakten zu beziehen und, wie der Historiker Timothy Snyder es sagt, an Wahrheit zu glauben. Dafür zu sorgen ist sowohl die Aufgabe demokratischer Institutionen als auch der Zivilgesellschaft und der Journalistinnen und Journalisten.

Denn damit Fakten ihre Kraft in der Öffentlichkeit entfalten können, sind gute Journalistinnen und Journalisten unverzichtbar. Ihre Arbeit muss jederzeit unabhängig möglich und rechtlich geschützt sein.

[Bedrohung der Pressefreiheit]
Aber überall auf der Welt gibt es kleine und große Autokraten. Sie bekämpfen Journalistinnen und Journalisten, die ihnen nicht nach dem Mund reden: mit Verhaftungen, der Bedrohung von Angehörigen und manche Regime schrecken nicht einmal vor Mord zurück.

Die Entwicklung der Medienlandschaft ist ein sehr sensibler Indikator für die Stabilität und Qualität einer demokratischen Ordnung. Es ist deshalb auch immer wieder wichtig, diejenigen zu unterstützen und zu ehren, die allen Widerständen und Drohungen zum Trotz mutig darüber berichten, was los ist. Die alles riskieren und sich nicht einschüchtern lassen, wie aktuell vielleicht ganz besonders in Belarus. Das ist eine Botschaft, die auch von hier, aus Potsdam, durch das M 100 Sanssouci Colloquium in alle Welt geschickt werden sollte.

[Öffentlichkeit]
Demokratie braucht Öffentlichkeit: öffentliche Debatten, transparente Verfahren und zugängliche Fakten. Denn ein Teil der nicht kodifizierten Kompetenz der „vierten Gewalt“ ist, das öffentliche Nachdenken anzuregen und zu organisieren – wie eine professionelle Form des demokratischen Gesprächs. Das umfasst Fragen und Hinterfragen, Recherche und Zusammenstellung von Informationen, Bewertungen und Kommentare. Und, das darf man nicht vergessen: die Befähigung einer Gesellschaft zum Konsens nicht aus dem Blick zu verlieren. Wie das aus der Rechtsprechung kommende Prinzip „Audiatur et altera pars“ [lateinisch für „Gehört werde auch der andere Teil“] verlangt das journalistische Ethos, alles Relevante zu zeigen, alle sprechen zu lassen, um die Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, abwägen und sich entscheiden zu können.

Der Zentralbegriff in diesem Zusammenhang ist der der „Öffentlichkeit“, weil in der Öffentlichkeit das Allgemeine konstituiert wird – nicht durch auf Selektion und Personalisierung angelegte Algorithmen. Das Allgemeine ist das, was alle wissen müssen, um gut und demokratisch zusammenleben zu können. Dieses Allgemeine wird eben besonders durch journalistische Arbeit sichtbar. Und wir müssen uns heute fragen, wie das im Zeitalter der Digitalisierung erhalten bleiben kann.

Schauen wir einen Moment zurück, so sehen wir: Kaum etwas verkörperte dieses publizistische Ideal so sehr wie die traditionellen Tages- und Wochenzeitungen. Aber auch wenn es manchmal so scheint: Das ist keine Frage des Mediums, die Pointe liegt vielmehr in der gelungenen Kopplung von Finanzierung und Orientierung am Gemeinwohl: Durch das Nebeneinander von Anzeigenkunden und einer hohen Zahl von Abonnenten funktionierte lange Zeit, dass sich das Gemeinwohlinteresse und ökonomische Ziele verbinden konnten. Im Idealfall ist der Qualitätsjournalismus die Idee von Aufklärung als Geschäftsmodell.
Nun wandelt sich das Allgemeine stetig, ist umkämpft und strittig. Und schon immer wurden nicht immer alle gleichermaßen angehört. Nicht nur die Berichterstattung des Boulevards liefert Beispiele, die Anlass zu Kritik geben. Und so gehört zu traditionellen Zeitungen auch die Kritik an ihnen, die Idee der alternativen Berichterstattung (auch wenn das Wort damals, etwa im Kontext der Gründung der alternativen Tageszeitung „taz“ Ende der 1970er Jahre, eine deutlich demokratische Ausrichtung hatte). Aber auch das ist elementar für eine Demokratie: Die offene kritische Auseinandersetzung mit Berichterstattung jeder Art.

[Strukturwandel durch Digitalisierung – Ansatzpunkte für Regelungen]
Fünfzig Jahre ist das her, viele Zeitungen von damals gibt es nicht mehr, das Internet hat das Umfeld des Journalismus nun sehr stark verändert. Digitale Medien schaffen bislang unbekannte Informationsmöglichkeiten und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir erleben einen großen, Technik getriebenen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wir haben neue Möglichkeiten, die gigantische Chancen bieten. Wir müssen diese Potentiale gesellschaftlich und ökonomisch nutzen lernen. Das haben wir noch nicht geschafft. Deshalb muss man genau hinsehen, was passiert, und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ein paar Ansatzpunkte möchte ich nennen.

Erstens: Die Geschäftsmodelle der Kreativen sichern.
Für die Informations- und Nachrichtenvermittlung im Internet sind Suchmaschinen, Soziale Netzwerke, Microblogging-Dienste, Plattformen für Videos und Bilder unverzichtbar. Sie strukturieren mediale Angebote und so die öffentliche und die private Kommunikation. Diese Intermediäre leisten funktional hochwertige und unverzichtbare Dienste. Wie gut und nützlich das ist, zeigt die millionenfache tägliche Nutzung und deren historisch gesehen unvergleichbar große ökonomische Erfolge.

Die Folgen für die klassischen Zeitungen sind bekannt: Die Anzeigenkunden wandern in die Online-Bereiche, die Intermediäre bekommen den Großteil der Werbeeinnahmen und in den Redaktionen, da, wo recherchiert, gedacht und geschrieben wird, muss massiv gespart werden.
Aber eines ist klar: Diese Zeitungskrise ist keine Relevanzkrise, sondern vor allem eine Finanzierungskrise. Und das ist auch ein Punkt, an dem wir ansetzen: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es Geschäftsmodelle gibt, die für einen vernünftigen Journalismus stehen.

Zweitens: Die Zukunft des Journalismus liegt in der Qualität, nicht – oder zumindest nicht alleine – in der Schnelligkeit der Verbreitung einer Information. Auch eine Online-Zeitung muss gut recherchierte Informationen bieten und nicht ausschließlich unkommentierte Meinungen wiedergeben, denn die gibt es ohnehin gratis in den sozialen Medien. Und die demokratische Öffentlichkeit muss die Entstehung und Verbreitung kreativer und journalistischer Produkte ermöglichen und schützen. Wir können uns dabei nicht nur auf die wenigen digitalen Bezahlzeitungen verlassen, die funktionieren.

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Produktion journalistisch-redaktioneller Inhalte bei aller gebotener staatlicher Zurückhaltung unterstützen können. Deshalb war es mir auch so wichtig, die Steuersätze für Print- und Online-Presseerzeugnisse anzugleichen. In Deutschland gilt seit 18. Dezember 2019 auch für Online-Zeitungen der ermäßigte Steuersatz. Gut, dass wir das auf europäischer Ebene ermöglichen konnten. Man muss mit Journalismus Geld verdienen können, online und offline.
Drittens: Nicht nur die Produktion, sondern auch die Verbreitung journalistischer Inhalte muss gestärkt werden. Im Moment ist das Fernsehen das Medium mit dem größten Gewicht der Meinungsbildung . Deutschland hat mit dem Nebeneinander öffentlich-rechtlicher und privatwirtschaftlicher Medienangebote eine kluge Dualität. Das hat uns vor manchen medialen Verwerfungen bewahrt. Es sind vor allem die Älteren, die das Fernsehen vorziehen.

Doch jedes Jahr steigt das Gewicht der Online-Medien: Bei jungen Leuten (14-29 Jahre) ist das Gewicht des Internets für die Meinungsbildung doppelt so hoch (59,5 Prozent) wie bei der Gesamtbevölkerung. Gleich mehrere Internetportale sind unter den TOP 10 der Medienangebote für die 14 bis 29-Jährigen.

Wir wissen also, die Intermediäre sind die Informationsselektierer der Zukunft. Und wir wollen, dass journalistische Inhalte darin auch zu finden sind. Deshalb müssen wir fragen, was das regulatorisch bedeutet.

Eines ist klar: Grundrechte, Informationsfreiheit und Demokratie zu sichern, bleibt eine regulatorische Aufgabe. Das freie Spiel im Internet genügt nicht. Je größer die Marktmacht einzelner, desto wichtiger ist es also, Regelungswerke zu schaffen, die Vielfalt garantieren. Das betrifft zum Beispiel die Transparenz über die Auswahlkriterien durch Algorithmen. Die Bürgerin und der Bürger muss die Möglichkeit haben, ohne große Mühe zu wissen, ob das, was gezeigt wird, eine gemeinsam geteilte Realität ist oder nur ein kleiner Ausschnitt – die Filterblase.

Viertens: Algorithmen können auch anders. Das Internet ist das Zuhause der Besonderheiten – die virtuelle und zum Teil noch verstärkte „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz). Algorithmen lenken die Aufmerksamkeit der User, sie produzieren ein personalisiertes Set an Empfehlungen, die tendenziell immer die gleichen Ausschnitte der Wirklichkeit zeigen. Das ist ohne Frage ganz anders als bei einer klassischen Abonnentenzeitung, bei der die Inhalte von der Redaktion im Hinblick auf das Allgemeine ausgewählt und zusammengestellt (kuratiert) werden. Aber das Allgemeine kann auch durch kluge Algorithmen in individueller Vermittlung zugänglich gemacht werden.

Fünftens: Wir müssen Missbrauch stärker sanktionieren und gezielt gegen Desinformationskampagnen und Hass-Posts vorgehen. Das Internet und die sozialen Medien sind keine rechtsfreien Räume – und dürfen es auch nicht sein. Vorsätzliche Manipulationen müssen verhindert werden. Das gilt erst recht, wenn dadurch Einfluss auf freie Wahlen genommen werden soll. Sie sind ein ganz besonders wichtiges Schutzgut.
Die Instrumente dafür wird man immer wieder neu justieren müssen, es bleibt eine permanente Aufgabe des Mediengesetzgebers. Sie ist lösbar, auch wenn vielleicht nicht ganz so einfach, wie das bei den Zeitungen war. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das sich nach Beschlussfassung in Bundestag und Bundesrat in der Praxis beweisen wird, haben wir eine erste Lösung geschaffen.

[Medienstaatsvertrag]
Eine weitere Antwort ist der nun vorliegende Medienstaatsvertrag. Sechzehn Bundesländer haben darin gemeinsam eine qualitativ neue Ebene der Regulierung erreicht (am 17.09. haben voraussichtlich 14 Landtage unterzeichnet).
Erstmals sind Intermediäre, Medienplattformen und Benutzeroberflächen in die Regulierung einbezogen worden. Transparenzgebote und Diskriminierungsverbote sollen für mehr Meinungsvielfalt und kommunikative Chancengleichheit sorgen. Die Sichtbarkeit seriöser Informationen wird erhöht, damit journalistische und regionale Inhalte leichter gefunden werden. Und nicht zuletzt wird die journalistische Eigenverantwortung der Netzcommunity durch erhöhte Anforderungen an Qualität und Sorgfaltspflicht gestärkt.

Der Medienstaatsvertrag ist eine großartige Leistung zur Sicherung von Meinungsvielfalt und solider Information. Und erwähnenswert ist auch das umfangreiche Beteiligungsverfahren, das durchgeführt wurde: Rundfunkveranstalter, Kabelnetzbetreiber, Pressehäuser, Behindertenverbände, Filmwirtschaft, Neue Medien, Gamer, Jugendschutzeinrichtungen, Sport- und Journalistenverbände, Gesundheitseinrichtungen und vor allen viele, viele Bürgerinnen und Bürger haben sich beteiligt.

[digitale Souveränität]
Im Zuge der COVID 19 Pandemie hat sich noch eine andere Entwicklung beschleunigt: Das Internet und die digitalen Mittler gehören zu den finanziellen Gewinnern. Und während neue Anbieter wie Zoom oder Jitsi Meet aufgestiegen sind, mussten manche Stadt-Magazine fast aufgeben. An vielen Stellen sind Bund und Länder eingesprungen, so haben wir gemeinsam mit dem „Neustart“-Paket nicht nur Kulturschaffende, sondern auch die privaten Radios unterstützt. Mit tausenden Artikeln, Fernsehbeiträgen und Podcast haben Journalistinnen und Journalisten Mut gemacht, informiert und beharrlich weitergemacht.

Wir wissen heute noch nicht, wie diese Entwicklung weitergehen wird. Aber eine Divergenz müssen wir schon heute im Auge behalten: Google, Amazon, Facebook, YouTube oder Netflix – die einflussreichen Plattformen kommen mehrheitlich von außerhalb Europas. Die zwanzig weltweit meist genutzten Sozialen Medien kommen aus den USA und China (nur Russland ist mit Telegram noch dabei). Das muss uns als Europäer interessieren, wir müssen uns fragen, was das bedeutet – für unsere technische und politische Souveränität.

Europa hat im Bereich Digitalisierung das Potential, einen eigenen Weg zu gehen. Als Alternative zu dem auf den Staat zentrierten Modell in China und dem auf ungebändigten Marktkräften basierenden Ansatz aus den USA. Das politische und das ökonomische Gewicht unseres Marktes gibt das ebenso her wie unsere technischen Fähigkeiten. Wir müssen deshalb mindestens dafür sorgen, dass wir als Europäer in der digitalen Transformation unsere Souveränität aufrechterhalten. Das betrifft die Hardware (Mikrochips, Supercomputer, Internet-Backbone), die Software (Cloud-Dienste, Künstliche Intelligenz), aber auch das Setzen von Normen und Standards.

Ich wünsche mir, dass die digitalen Medienangebote aus Europa so stark und vielfältig werden wie es unserem kulturellen Erbe entspricht.

Zu guter Letzt: Eine offene Gesellschaft braucht Medien, denen sie vertrauen kann. Eine Kultur, in der Wahrheit, Wahrhaftigkeit, die Orientierung an Fakten und die Vielfalt der Meinungen im kritischen Diskurs zählen.

Es geht um viel: um eine Medienordnung, die ihre Herkunft nicht verleugnet, aber doch technisch eine gänzlich neue Ausrichtung hat – es geht um die Demokratie im digitalen Zeitalter.

Vergessen wir nicht, was gleichermaßen für die digitalen Medienwelten im Besonderen und die demokratischen Gesellschaften im Allgemeinen unsere Lehre aus der Geschichte ist: Freiheit ist nicht nur Mehrheitsherrschaft, sondern auch das Recht, das Minderheiten und Vielfalt schützt.

Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen haben an vielen Stellen mehr Sensibilität für das Allgemeine geschaffen. Das Bewusstsein gestärkt, dass es nicht reicht, wenn alle nur an sich denken, sondern auch die Kraft und der Wille da sein muss, für Zusammenhalt, Respekt und eine starke demokratische Ordnung zu sorgen. Ein freier, guter und an Fakten orientierter Journalismus gehört dabei ohne jeden Zweifel zu den systemrelevanten Tätigkeiten.