„Früher habe ich Juden gehasst“

Luai Ahmed, ein aus dem Jemen stammender Journalist, Buchautor und Conten Creator, der seit 2014 in Schweden lebt, hat beim M100 Sanssouci Colloquium einen beeindruckenden Impuls gehalten. In ihm beschreibt er seinen Werdegang vom Israelhasser zum Kämpfer gegen Antisemitismus, und wie man Demokratie auf Social Media verteidigt. Mittlerweile ist er ein vehementer Kritiker eines radikalen Islam und autoritärer Regime im Nahen und Mittleren Osten. Der Beitrag ist auch auf ZEIT Online erschienen.

Ich heiße Luai Ahmed, bin Journalist und Content-Creator, 31 Jahre alt, und komme aus Sanaa im Jemen. Ich kämpfe auf meinen Social-Media-Plattformen gegen islamischen Extremismus, Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und Sexismus.
Ich bin Teil einer Onlinebewegung namens Builders of the Middle East. Neben einem englischsprachigen Kanal, den ich moderiere, betreiben wir zwei weitere – einen in arabischer und einen in hebräischer Sprache. Wir erzählen dort Geschichten, die von Menschlichkeit und von Menschen handeln. In unserem Team arbeiten Araber und Juden, die von Extremismus, Gewalt und Hass restlos bedient sind und ihre ganze Kraft dafür einsetzen, den Nahen Osten zu „entradikalisieren“.
Ich arbeite heute mit Jüdinnen und Juden zusammen, mit denen mich eine tiefe Zuneigung verbindet. Ich habe jüdische Freundinnen und Freunde, die mir sehr, sehr viel bedeuten. Das war nicht immer so.

Früher habe ich Juden gehasst. Ich glaubte nicht, dass es den Holocaust gegeben hat. Ich glaubte an die Auslöschung Israels. Ich war homophob, obwohl ich selbst schwul war und es geheim hielt. Und ich war überzeugt, dass alle Welt den Islam und die Muslime hasst und ich als Muslim dafür sorgen soll, dass die Welt komplett muslimisch wird.
Dieses extremistische Gedankengut, das mir im Jemen in den ersten zwanzig Jahren meines Lebens eingehämmert wurde – genau dagegen kämpfe ich heute.

Meine Entradikalisierung fand in Schweden statt und dauerte ungefähr zehn Jahre. Das ist eine lange Geschichte. Ich will versuchen, sie im Schnelldurchlauf zu erzählen: Als jemenitischer Muslim, der in Sanaa geboren wurde und zwanzig Jahre dort lebte, habe ich den islamischen Extremismus und Antisemitismus von früher Kindheit an aufgesaugt. Meine erste Religion war der Islam, die zweite war Palästina. Ob ich wollte oder nicht: Per Gehirnwäsche wurde mir beigebracht, die Juden zu hassen und den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen.

Beim Freitagsgebet in unserer Moschee sprach ich als Kind nach, was der Imam verkündete. Er sagte „Gott vernichte die Juden“, und im Chor mit den Tausenden von betenden Muslimen um mich herum erwiderte ich „Amin“.
Er sagte „Gott vernichte Israel“, ich erwiderte „Amin“.
In der totalitären jemenitischen Gesellschaft, in der auf Gotteslästerung und Abfall vom Glauben die Todesstrafe stand, war der Glaube an die Vernichtung Israels Vorschrift.

Als Teenager trug ich das Palästinensertuch, die Kufiya, voller Stolz. Ich weiß noch, dass ich mir sogar eine Handala-Figur auf die Schulter tätowieren lassen wollte, obwohl der Islam Tattoos verbietet. Daran lässt sich ablesen, wie überzeugt ich war und was ich für Palästina empfand.

Luai Ahmed, Foto: M100/Ulf Büschleb

Zur Erklärung: Handala ist eine gezeichnete Figur, die einen kleinen Palästinenserjungen zeigt und die zum Symbol für den Kampf des palästinensischen Volkes wurde.
Im schulischen Religionsunterricht lernte ich, dass die Juden den Propheten Mohammed verraten und versucht haben, ihn zu töten. Zwölf Jahre befasste ich mich intensiv mit dem Islam und dem Leben des Propheten. Dabei ging es sehr oft um die Juden. In einer Geschichte wurde behauptet, die heutigen Juden stammten vom Affen ab. Allah habe sie in Affen verwandelt, weil sie einen schmutzigen Charakter hätten und angeblich versucht haben, unseren größten Anführer, den Propheten Mohammed, umzubringen.

Gesellschaftlich wurde mir vermittelt, dass „die Juden die Welt kontrollieren“. Die neunstündige Verschwörungsdoku The Arrivals schauten meine Freunde und ich wie gebannt in einem Stück. Darin wird behauptet, die Musik- und Filmbranche, die Pharmaindustrie und überhaupt alle Wirtschaftszweige würden von „bösen zionistischen Juden“ kontrolliert und zur Unterjochung der Muslime und Araber genutzt – und die Anschläge vom 11. September hätten Juden inszeniert, um die Welt zu destabilisieren und Kriege anzuzetteln, weil sie gerne arabisches Blut fließen sehen wollten.
So war meine Kindheit.

2014 floh ich wegen meiner sexuellen Orientierung aus dem Jemen nach Schweden. Aber meine Verachtung und meine Vorurteile gegenüber Juden und Israelis waren so unerschütterlich wie ein 20 Jahre altes Haus, das auf einem starken und soliden Fundament steht. Bis das Gebäude in sich zusammenfiel, dauerte es etwa zehn Jahre.
2016 – zwei Jahre nach meiner Ankunft in Schweden – bezog ich ein Studierendenwohnheim an der Uni in Halmstad. Dort zog auch ein frisch eingetroffener Austauschstudent ein, der dunkle Haare hatte. Das machte mich neugierig: Endlich jemand in meinem Studiheim, der nicht blond und blauäugig war.
„Hi, ich bin Luai. Und wie heißt du?“, fragte ich ihn.
„Tal“, antwortete er mit einem freundlichen Lächeln. „Ich komme aus Israel.“ Kaum hatte er das Wort „Israel“ ausgesprochen, schaltete ich in den Fight-or-Flight-Modus. Kampf oder Flucht. Ich konnte auf einmal nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Ich sah nur noch verschwommen, mir wurde schwindelig – ich verfiel in einen totalen Schockzustand.
Zum ersten Mal begegnete ich „dem bösen Juden“, von dem ich glaubte, dass er für das Elend meines Volkes verantwortlich war, mir etwas zuleide tun und seinen Blutdurst an mir stillen wollte – jenem „bösen Juden“, der hinter 9/11 steckte, den Arabern die Schuld in die Schuhe schob und tatkräftig auf die Weltvernichtung hinarbeitete.
Als ich mich nach ein paar Sekunden von dem Schock erholt hatte, merkte ich, dass Tal weiterbrabbelte und von jemenitischem Essen und jemenitischer Kultur schwärmte. Auf der Anrichte in der Küche breitete er seine jemenitischen Gewürze aus, die er extra aus Israel mitgebracht hatte. „Hier – schau mal! Ich mache für dich das beste Jachnun überhaupt.“ Jachnun ist ein typisches Brot aus dem Jemen. „Meine jemenitischen Freunde“, sagte Tal, „haben mir beigebracht, wie man das perfekte Jachnun zubereitet! Wenn du willst, kannst du die Gewürze mitbenutzen!“
Ich glaubte ihm kein Wort. Ich witterte einen teuflischen Plan.

Sechs Monate später war Tal mein Lieblingsmitbewohner im Wohnheim. Mir war klar geworden, dass sein „teuflischer Plan“ in Wirklichkeit eine freundliche Geste war, die von Herzen kam. Er wollte einfach nur etwas Jemenitisches für mich zubereiten und war aufrichtig interessiert, zum ersten Mal in seinem Leben einen Muslim aus dem Jemen kennenzulernen. Unsere Freundschaft war der erste Schritt auf einem Weg, der mein Leben verändert hat und den ich mit Worten fast nicht beschreiben kann.
Sieben Jahre später passierte der 7. Oktober. Nachdem ich im Netz die Bilder von dem Massaker gesehen hatte, stand ich unter Schock. Mich packte die Wut. Ich konnte es nicht glauben. Mir kam der Gedanke „Es hätte auch Tal treffen können“. Die Menschen, die dort abgeschlachtet wurden, hätten Freunde von mir sein können.

Das Schlimmste aber war: Wäre Schweden nicht gewesen und hätte mir die Zeit dort nicht die Augen für die Menschlichkeit geöffnet, wäre ich vielleicht bei der Hamas gewesen. Ich hätte ihren Genozid gerechtfertigt. Ich hätte sie bejubelt. Ich wäre in Malmö auf die Straße gegangen und hätte mit den anderen Demonstrierenden „Vergast die Juden“ geschrien.
In der Folge bekam ich mit, dass meine Freunde und meine Familie das Massaker feierten. Ich war tief getroffen. Ich konnte nicht glauben, dass dem jüdischen Volk das Menschsein abgesprochen wurde. Dann wieder konnte ich es sehr wohl glauben. Im Jemen hatte man mir beigebracht, wie die Hamas zu denken.

Luai Ahmed, Christoph Lanz, Foto: M100/Ulf Büschleb

Als ich sah, wie meine Freunde und meine Familie das Massaker an den jüdischen Menschen feierten und bejubelten, fühlte ich mich in die 1930er-Jahre versetzt und begann, den tief verwurzelten Hass gegenüber dem jüdischen Volk zu verstehen.
Dann fuhr ich nach Israel. Das war eine weitere kathartische Erfahrung. Zum ersten Mal kam ich mit dem jüdischen Staat in Berührung, den ich zu hassen gelernt hatte, und erlebte dieses Land unmittelbar. Inzwischen gehört Israel zu den Ländern der Welt, in denen ich mich am liebsten aufhalte. Ich fühle mich dort wie zu Hause. Ich sage immer: Israel ist eine Kopie des Jemen – aber mit Menschenrechten.
Heute arbeite ich mit Arabern und Juden zusammen. Mit gut durchdachten Inhalten wollen wir den Extremismus bekämpfen, den wir im Netz erleben. Wir setzen unsere Geschichten der Propaganda des islamischen Regimes entgegen, das den Iran okkupiert, gegen Hamas, Huthis, Hisbollah und andere Terrororganisationen im Nahen Osten, die es darauf abgesehen haben, Israel zu vernichten und den Westen zu destabilisieren. Denn eines der obersten Ziele dieser Terrororganisationen ist es, die Wahrheit zu verdrehen und den freien Westen zu entmenschlichen.

Inhaltlich ist das, was wir bei Builders of the Middle East machen, sehr vielfältig. Wir berichten von Juden, die Arabisch gelernt haben, damit sie sich mit Arabern verständigen können. Von arabischen und jüdischen Schülern, die in die gleiche Schule gehen und dort etwas über die Kultur, die Geschichte und das Leid der jeweils anderen Gruppe lernen. Wir erzählen von Dragqueens, die arabische Muslime sind und von ihren Familien mit dem Tod bedroht werden, sodass sie ins Ausland fliehen, damit sie selbstbestimmt leben können.

Wir bekämpfen Extremismus, indem wir ein „drittes Narrativ“ sichtbar machen. Wir sagen, weder „Die israelische Seite entmenschlicht die Araber und Palästinenser“ noch „Die arabische Seite entmenschlicht Israel und die Juden“.
Wir präsentieren Geschichten, die von Menschen handeln, und zeigen Perspektiven für Gemeinschaftlichkeit und Koexistenz auf. Auf der einen Seite gibt es Leute, die für Vernichtung und Hass demonstrieren. Wir stehen auf der anderen Seite und protestieren gegen Vernichtung und Hass, indem wir zeigen, wie Araber und Juden miteinander koexistieren.

Eines glaube ich im Übrigen ganz fest: Wenn jemand wie ich, der Israel und die Juden auslöschen wollte, es geschafft hat, gemeinsam mit Jüdinnen und Juden auf ein besseres Leben und mehr Frieden im Nahen Osten hinzuarbeiten, dann kann das auch der Rest der arabischen und muslimischen Welt schaffen.
Eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina – das ist es, woran ich glaube und wovon ich träume. Diese Lösung würde die Lage beruhigen. Damit dieser Traum Wirklichkeit wird, müssen wir – das wollte ich mit meiner Geschichte deutlich machen – noch viel Entradikalisierungsarbeit leisten. Die extremistische Ideologie des politischen Islamismus hat ihren Giftzahn tief in mein Land, den Jemen, gebohrt und dieses Land zerstört. Das gleiche Gift verbreitet sich in Form von extremistischen Terrorideologien überall im Nahen Osten – und ja, auch im freien Westen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
Dieser Beitrag ist eine von dem Autoren selbst leicht überarbeitete Rede, die Luai Ahmed am 12. September auf der internationalen Medienkonferenz M100 Sanssouci Colloquium in Potsdam gehalten hat.

Fotos: M100/Ulf Büschleb