Potsdam, 21. Oktober 2022. In der sich wandelnden internationalen Sicherheits- und Wirtschaftslandschaft haben die Begriffe „Souveränität“ und „Autonomie“ eine beispiellos zentrale Rolle in der strategiepolitischen Agenda der EU erlangt. „Strategische Autonomie“ ist zum vorherrschenden konzeptionellen Rahmen für die langfristige Entwicklung der EU geworden. Ein weiterer kritischer Bereich ist der digitale Bereich, der ein Hebel für die vierte industrielle Revolution ist und gleichzeitig ein eigenes internationales Kampffeld darstellt. Die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaften, die sowohl private als auch öffentliche Interessen berührt, ist ein wichtiger Faktor für die Gestaltung der Zukunft Europas.
Beim M100 Sanssouci Colloquium beschäftigte sich die Strategische Arbeitsgruppe I mit der Frage, wie die EU eine langfristige Strategie für digitale strategische Autonomie (DSA) entwickeln kann, um ihre Position in der internationalen digitalen Domäne von morgen zu stärken, den Sicherheitsaspekt der „strategischen Autonomie“ zu ergänzen und ihre Beziehungen zu Verbündeten und Rivalen neu zu definieren.
Die Arbeitsgruppe wurde von Impulsen von Huberta von Voss, Geschäftsführerin ISD Deutschland, und Prof. Dr. Paul Timmers vom Oxford Internet Institute eingeleitet. Dr. Antonio Nestoras, Head of Policy & Research, European Liberal Forum, moderierte die Runde und fasste die Diskussionsergebnisse zusammen.
Keypoints:
• Zurzeit ist es für Europa schwierig, autonom zu sein. Dies wirft für die politischen Entscheidungsträger in Brüssel und den europäischen Hauptstädten alle möglichen Fragen und politischen Rätsel auf, denn das ist das Wesen der Strategie: zu entscheiden, wo und wann man autonom sein sollte.
• Das große Glücksspiel für die Zukunft: die Entscheidung, wann wir mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten müssen, wie die Bedingungen für das Engagement und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aussehen werden oder welche Art von institutionellen Regierungen die transatlantische Partnerschaft in Zukunft haben wird, um effektiv zu sein.
• Wir müssen die Bedingungen des Engagements mit unseren (nachhaltigen) Rivalen neu definieren: Welche Rolle spielt China bei der 5G-Konnektivität, der 5G-Entwicklung und dem 5G-Rollout auf unserem Kontinent? Wir müssen bei der Regulierung verschiedener Sektoren sehr spezifisch und vorsichtig sein.
• Wie ist dies mit unseren Werten vereinbar, die die EU in den letzten sieben Jahrzehnten gefördert und geschützt hat? Mit anderen Worten: Wir sollten keine Gesetze erlassen oder Online-Rahmenwerke oder industrielle Rahmenwerke schaffen, die nicht mit unseren Werten vereinbar sind. In dieser Hinsicht müssen wir auch den Schutz der Demokratie berücksichtigen – es ist ein Balanceakt.
• In Brüssel gibt es eine große Autonomie-Müdigkeit in Bezug auf digitale Strategien. Auf der anderen Seite wird sie auf der höheren Verwaltungsebene als wichtiges Ziel für die EU auf den Tisch gelegt. Man kann sehen, dass die strategische digitale Autonomie, obwohl sie zunächst als französisches, gaullistisches Konzept verdächtigt wurde, jetzt die Runde macht, sogar in der öffentlichen Debatte in Deutschland, und von den skandinavischen Ländern und im Süden ernsthaft in Betracht gezogen wird.
• Trotz eines gewissen Pessimismus und anfänglicher Skepsis wird das Konzept die politische Debatte in Brüssel und darüber hinaus in absehbarer Zeit beherrschen.
• Wir sollten beobachten, was in den Vereinigten Staaten geschieht, und aus den guten und schlechten Erfahrungen dort lernen.
• Wenn die EU vorankommen will, muss sie einen starken gemeinsamen Markt schaffen. Jeder nationale Markt allein ist zu klein, um erfolgreich zu sein. Das ist die einzige wirkliche Chance, unsere eigene starke europäische Wirtschaft im digitalen Bereich zu entwickeln.
• China ist kein Modell, dem man folgen sollte. Wir teilen keine Werte mit China – weder wie sie das Internet nutzen, noch wie sie es regulieren und kontrollieren. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was die EU mit der Regulierung in Europa erreichen will.
• Wir brauchen eine engere Zusammenarbeit in der Europäischen Union und ein größeres Bewusstsein und Interesse für dieses ebenso wichtige wie weitgehend vernachlässigte Thema. Denn das Thema betrifft uns alle: unseren Wohlstand, unseren Konsum, die Art und Weise, wie wir leben, welche Filme wir sehen und wie, welche Musik wir hören, wie wir Online-Plattformen und das Internet im Allgemeinen nutzen.
• Dafür brauchen wir Regeln, die die Verbraucher nicht einschränken und kontrollieren, sondern einen europäischen Marktplatz für digitale Geschäfte ermöglichen, damit die EU auch in diesem Bereich wettbewerbsfähig wird.
• Da die Interessen der EU nicht immer mit denen der USA übereinstimmen, müssen wir in der Lage sein, eigenständig zu handeln. Daher sollte eine institutionelle Struktur für die transatlantische Partnerschaft geschaffen werden, beispielsweise nach dem Vorbild des Handels- und Technologierats (TTC), eines transatlantischen politischen Gremiums, das als diplomatisches Forum für die Koordinierung der Technologie- und Handelspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union dient. Dieses Modell könnte auf andere Bereiche übertragen werden, um dem wertvollsten und ältesten Bündnis der EU eine gewisse Struktur zu geben und Foren für die transatlantische Zusammenarbeit zu schaffen.
Diese Veranstaltung wurde vom Europäischen Liberalen Forum unterstützt. Kofinanziert durch das Europäische Parlament. Die hier geäußerten Ansichten sind die des/der Redner(s) allein. Diese Ansichten spiegeln nicht notwendigerweise die des Europäischen Parlaments und/oder des Europäischen Liberalen Forums wider.