Eröffnungsrede Can Dündar

Sehr geehrte Journalisten, Herausgeber, Autoren und Gäste,
es ist mir eine Ehre, auf einem so wichtigen Treffen über ein so wichtiges Thema sprechen zu dürfen.

Bevor ich im vergangenen Jahr nach Berlin kam, lebte ich in Istanbul. Ich möchte Ihnen ein wenig über meine Stadt erzählen: Wie Sie wissen, ist Istanbul ein Riese, der zwei Kontinente, Europa und Asien, überspannt und mit Brücken verbindet. Meine Wohnung – ich habe sie seit einem Jahr nicht gesehen – lag auf der asiatischen Seite. Dort wohnte ich – wenn ich nicht gerade im Gefängnis saß. Mein Cumhuriyet-Büro lag auf der europäischen Seite, das heißt, jeden Morgen fuhr ich über die Bosporusbrücke, verließ einen Kontinent und betrat einen anderen. Und jeden Morgen sah ich dabei dasselbe Schild, auf dem stand: „Willkommen in Europa!“ – ein Schild, das jetzt keine Geltung mehr hat, wenn ich den Tenor der jüngsten Fernsehdebatte zwischen Frau Merkel und Herrn Schulz richtig deute. Falls Sie mich fragten, wer die Debatte gewonnen hat, müsste ich antworten: Erdogan. Genau das hat er die ganze Zeit nämlich gewollt.

Erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu lenken, bevor das Schild gänzlich entfernt wird. Als die Türkei erstmals um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bat, zählten wir das Jahr 1959. Ich war damals noch nicht geboren. Das erste Assoziierungsabkommen wurde unterzeichnet, als ich im Kindergarten war. Ich beendete mein Studium, als die Türkei die Vollmitgliedschaft beantragte. Ich heiratete und bereitete mich darauf vor, Vater zu werden, als das Abkommen über die Zollunion in Kraft trat. Mein Sohn war im Kindergarten, als die Europäische Union die Türkei als Mitgliedskandidaten akzeptierte; und die Verhandlungen begannen, als er in der Grundschule war.
Widerwilliges Werben

Heute, mein Sohn hat inzwischen selbst sein Studium abgeschlossen, sind wir wieder auf Los. Jetzt werden jahrelang halbherzig geführte Verhandlungen ausgesetzt. Ich habe ein ganzes Leben hinter mir, und wir sind keinen Zentimeter vorangekommen. Weder war Europa bereit, die Türkei in der Familie willkommen zu heißen, noch versuchte die Türkei jemals wirklich, das zu erreichen. Beide mochten einander brauchen, aber beide schwärmten nicht sonderlich füreinander. Und dieses widerwillige Werben, das sich über nahezu sechs Jahrzehnte hinzog, ist nun an ein Ende gelangt. Oder es handelt sich lediglich um eine politische Sackgasse.

Als Nato-Mitglied wird die Türkei weiterhin Europa schützen, wie sie es seit 67 Jahren tut. Und unnötig zu sagen, dass die Zollunion, die den türkischen Markt für ausländisches Kapital öffnet, unverändert fortbestehen wird. Auch das Flüchtlingsabkommen wird fortbestehen, und die Türkei wird weiterhin Syrer in Lagern festhalten, damit sie nicht nach Europa strömen. Für Waren und Panzer wird die Brücke geöffnet bleiben, nur für Menschen wird sie geschlossen sein. Eine Gesellschaft, die seit einem Jahrhundert nach Westen strebt, wird gezwungen sein, sich nach Osten zu wenden.

Betrachten wir diese Brücke einmal genauer: Der Verkehr Richtung Europa wurde vom verwestlichten, modernen Teil der Gesellschaft angeführt. Das Hauptfeld bestand aus der konservativen Mehrheit, deren Interessen im Westen lagen. Die letzte, aber keineswegs geringste Gruppe am Schluss bildeten jene, die den Westen verabscheuten und nur deshalb blieben, weil sie keine andere Wahl hatten. Als der Verkehrsstrom plötzlich umdrehte, befanden sich die am Schluss plötzlich vorn, und die Modernisten, die eigentlich nach Europa wollten, wurden zurückgelassen. Jetzt sehen wir ein neues Schild, auf dem steht: „Willkommen in Asien!“

Ich lebe im selben Viertel wie Erdogan. (Verzeihen Sie, ich muss mich korrigieren: Ich lebte im selben Viertel, bevor er in den Palast zog und ich ins Exil ging.) Er ist ein Istanbuler; er wurde in Üsküdar geboren, wuchs dort auf und lebte dort. 1994 wurde er Bürgermeister der Stadt, und seither hat er Istanbul niemals verloren. Sein Wahlbezirk stimmt seit 23 Jahren für ihn. Das ist eine außergewöhnliche Leistung in der politischen Geschichte der Türkei.

Ich möchte über diese Leistung sprechen, darüber, wie die unsichere türkische Demokratie in die Fänge der Despotie geriet, und über den Zusammenhang mit globalen Entwicklungen. Als es Ende der siebziger Jahre zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Rechten und der Linken kam, sahen die Islamisten schweigend von den Seitenlinien aus zu. Erdogan gehörte selbst damals schon zur Führung islamistischer Jugendgruppen.

Dank der Verhaftung der Nationalisten und der Linken nach dem Militärputsch von 1980 hatten die Islamisten freies Feld. Außerdem benutzten die Militärs die Religion, um die aufsteigende Linke zu zerschlagen. Die Amerikaner taten zu dieser Zeit dasselbe in Afghanistan: Sie unterstützten die Mudschahedin im Kampf gegen den Kommunismus. Als die Sowjetunion zusammenbrach, waren die Islamisten in Afghanistan dank amerikanischer Hilfe erstarkt. Im selben Jahr, als die Sowjetunion unterging, wurde in Afghanistan Al Qaida geboren.

Erdogan ist in ganz ähnlicher Weise ein Produkt militärischer Interventionen und der Zugeständnisse, die man den Islamisten bei diesen Interventionen machte. Die Mainstream-Parteien erreichten nie mehr ihre alte Stärke, als die Militärs sich von der politischen Bühne zurückzogen. Korruptionsvorwürfe untergruben das Vertrauen der Nation in den Neuanfang. Kurzlebige Koalitionsregierungen verstärkten nur die Instabilität. Eine Wirtschaftskrise senkte die Waagschale zugunsten der islamistischen Bewegung, die noch nicht erprobt worden war.

„Wenigstens werden sie ehrlich sein“, dachten manche. Gleichfalls für die Islamisten sprach das „Opfernarrativ“, die Unterdrückung, die sie angeblich erlitten hatten und die ihnen höchst unverdient einen Heiligenschein des Widerstands gegen den Militarismus verlieh.

Etwa um diese Zeit suchten viele vom amerikanischen zweiten Golfkrieg traumatisierte Menschen Trost im Islam. Der Islam ist heute keine Religion mehr, sondern eine politische Bewegung.

Auftritt Erdogan, von rechts: „Die Demokratie ist ein Mittel, kein Ziel. Mein Bezugsrahmen ist der Islam“, sagte er. „Die Demokratie gleicht einer Straßenbahn. Wir fahren darin bis zu unserer Haltestelle, und wenn wir dort angekommen sind, steigen wir aus.“ Er zitierte als westliches Beispiel sogar Helmut Kohl. Wie Kohl, ein „Priester“, Kanzler geworden war, werde auch er an die Macht gelangen und „die Moschee ebenso wie die Kirche befreien“.

Jedes Verbot einer islamistischen Partei durch das Militär stärkte die islamistische Bewegung, wie die Invasion Afghanistans und des Iraks die Mudschahedin dort stärkte. Die AKP wurde in dem Jahr gegründet, in dem die Anschläge vom 11. September erfolgten: 2001. Die AKP kam in dem Jahr an die Macht, in dem das Gefängnis in Guantánamo eröffnet wurde: 2002. Die Invasion des Iraks fand in dem Jahr statt, in dem Erdogan Ministerpräsident wurde: 2003.

Erdogan errang seine gewaltige Machtfülle nicht trotz, sondern dank des Westens. Machtlos gegenüber einem radikalen Islam, beging der Westen seinen größten Fehler seit der Eindämmungspolitik. Da man irrtümlich ein gemäßigt islamistisches Potential sah, wo es dies gar nicht gab, vertraute der Westen auf diese nichtexistente Mäßigung, um die Radikalen im Zaum zu halten. Das war ein Irrtum – ein Irrtum, dem auch manche Liberale in der Türkei erlagen. Auch sie glaubten, Erdogan werde das Militär im Zaum halten. So begann er eine Charmeoffensive: ein dem Westen freundlich gesinnter Politiker, dem es allein um Demokratisierung ging. Aber als er die Armee wieder in die Kasernen zurückgedrängt hatte, entledigte er sich des Westens und der Liberalen.

Die konservative Mehrheit gab ihm bei jeder Wahl etwas mehr Macht und forderte ihn auf, die Türkei wieder groß zu machen. Wie er angekündigt hatte, stieg er aus, als er sein Ziel erreicht hatte, und wir sitzen nun in diesem führerlosen Zug, der auf die Wand zurast. Aber wir sind nicht allein. In dem Zug, in dem mit uns früher Ägypter, Filipinos und Chinesen saßen, finden sich heute auch Ungarn, Polen, Franzosen und sogar einige Amerikaner. Anders gesagt, wir sitzen jetzt alle im selben Boot.

Die Besorgnis der Massen, die sich durch die Globalisierung bedroht fühlen, und der Eifer, mit dem weitere extrem islamistische Bewegungen zur Gewalt greifen, haben die Welt noch weitaus unsicherer gemacht. Angst beherrscht heute die Erde. Mächtige Führer locken die Unsicheren in den Schutz ihres Schattens. Dem internationalen Kapital ist eine stabile Despotie lieber als demokratisches Chaos, Europa verschließt vor der Unterdrückung in der Türkei die Augen und lässt den prowestlichen, modernen Teil der türkischen Gesellschaft im Stich.

Europa war für uns etwas anderes: Es ging uns nicht um visumfreie Reisen zu touristischen Sehenswürdigkeiten – Europa war der Kontinent jener Regeln, die in der Türkei mit Füßen getreten wurden. Europa bedeutete Unabhängigkeit der Gerichte. Es bedeutete Pressefreiheit, Bürgerbeteiligung, Nichtregierungsorganisationen, Gleichheit der Geschlechter, Gewaltenteilung, Demokratie, Säkularisierung. Es ging nicht darum, Vollmitglied der EU zu werden; es ging um die Reformen, die auf dem Weg dahin durchgeführt würden.

Aber während wir in der Türkei uns nach westlichen Prinzipien sehnten, kehrte der Westen sich nach innen und wandte sich von jenen Werten ab, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war. Während immer mehr westliche Länder dem Populismus erliegen, sind wir es nun, die westliche Grundsätze verteidigen.

Wir müssen Folgendes erkennen: Eine ungerechte Invasion in einem Teil der Welt führt zu einer Blutung in einem anderen. Man glaubt, ein fester Verband werde die Blutung stoppen; aber das Problem ist zu kompliziert, als dass es sich durch strenge Sicherheitsmaßnahmen, durch eine bessere Zusammenarbeit der Geheimdienste oder durch Aufrüstung lösen ließe. Der ganze Druck auf die Wunde sorgt nur dafür, dass die Infektion nach innen wandert und sich dort noch weiter ausbreitet.

Heute sind viele, auch in der Türkei, der Ansicht, der Hauptschuldige an den Problemen in der Welt sei der Westen. Die Welt war einmal ideologisch in Ost und West, ökonomisch in Nord und Süd geteilt – jetzt marschieren wir in Richtung einer Trennung entlang der Religion und sogar der Rasse. Wenn die neue Polarisierung zwischen Demokratie und Despotie erfolgte, wäre alles sehr viel einfacher. Aber leider haben wir nicht zwischen vorbildlichen Demokratien und fürchterlichen Diktaturen zu wählen. In Demokratien entstehen und wachsen rassistische Bewegungen. In totalitären Regimen kämpfen Menschen massenhaft für Demokratie. Anders gesagt, die Konfrontation ist heute nicht polarisiert, sondern verschränkt. Nichts ist heute mehr einfach.

Häuser verrotten, wenn sie luftdicht abgeschlossen werden. Die Schotten dichtzumachen müsste Europa lähmen. Europa kann nur gedeihen, wenn es sich öffnet und zu seinen Grundprinzipien zurückkehrt. Ein Aspekt dieser Prinzipien ist es, die Unerwünschten aus anderen Teilen der Welt willkommen zu heißen, ein anderer, sich nicht um die Despoten zu bemühen, sondern um deren Gegner, die für Demokratie kämpfen.

Die Europäische Union ist nicht mehr von zentraler Bedeutung. Worauf es ankommt, ist die Union der Demokraten. Wir müssen die Globalisierung nochmals in Gang bringen, aber diesmal für die Freiheit. Das wird die Ängste derer lindern, die sich alleingelassen fühlen, und uns in die Lage versetzen, gemeinsam universelle Werte zu verteidigen.

Ich möchte gerne mit einer positiven Note schließen: Erdogan verlor bei den türkischen Wählern das letzte Referendum. Er verlor in seinem eigenen Hinterhof. Schlimmer noch: Er verlor in Istanbul, dem sicheren Wahlbezirk, den er seit einem Vierteljahrhundert hielt. Er verlor in allen Großstädten. Trotz einer ununterbrochenen Unterdrückungskampagne, trotz einseitiger Propaganda, trotz Drohungen und Wahlbetrug musste er erkennen, dass die Hälfte des Landes sein Sultanat ablehnt. Und selbst von der Treue seiner eigenen Wählerbasis bin ich nicht überzeugt.

Ich glaube, das zwischen den Extremen schwingende Pendel der Geschichte hat das maximale Ausmaß der autoritären Herrschaft erreicht. Erdogan befindet sich im Abstieg, wie der politische Islam weltweit. Er braucht neue Feinde, um den Niedergang zu stoppen, nachdem er die Opposition im Inland nahezu vollständig zerschlagen hat. Deshalb sucht er im Ausland nach Feinden. Und Deutschland hat sich geradezu danach gedrängt, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Der Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union wird diesen letzten Faden kappen und Erdogan eine Chance geben. Er wird die Zurückweisung durch Europa nutzen, um das Feuer antiwestlicher Gefühle in der Türkei zu schüren. Aber schlimmer noch: Das wird prowestlich Denkende an den Rand drängen und die unentschlossenen Massen in Erdogans Lager treiben.

Trotz gelegentlicher Kritik an Erdogan hat der Westen sich weitgehend zu seinem Komplizen gemacht und ihn unterstützt – durch den Verkauf von Waffen, indem er jeder Erpressung nachgab (weil Erdogan sonst die Flüchtlinge losgelassen hätte) und indem er wartete, bis westliche Bürger verhaftet wurden, bevor er überhaupt etwas unternahm. Deshalb nimmt heute niemand mehr die Reaktionen des Westens ernst.

Es ist an der Zeit, dass Europa, und insbesondere Deutschland, die Türkei und Erdogan voneinander unterscheidet und lernt, sie unterschiedlich zu behandeln. Die andere Türkei: das ist ein Land, das leidet, unterdrückt wird und dennoch weiterhin Widerstand leistet und Demokratie, Freiheit und Säkularismus bis zum letzten Atemzug verteidigt. Ein Land, das die Zukunft der Türkei ist. Das ist die innere Dynamik, die die Türkei verändern wird. Das sind die Menschen, die Sie in Europa gerade beiseiteschieben, um Erdogan zu bestrafen. Im Osten wird diese isolationistische Politik den Hass auf den Westen vergrößern, und im Westen wird sie die Islamfeindlichkeit stärken.

Wir brauchen heute eine langfristig angelegte, auf Prinzipien basierende Strategie, die uns hilft, in die Zukunft zu investieren. Wer das Problem als Konflikt zwischen Nationen oder Religionen darstellt, der verschärft nur religiösen Wahn, Chauvinismus oder Rassismus und spielt der Despotie in die Hände.

Es handelt sich nicht um einen Kampf zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Türken und Deutschen, sondern um einen Kampf gegen jene Deutschen und Türken, die nicht an die Demokratie glauben, um einen Kampf, den demokratische Deutsche und Türken gemeinsam führen.

Uns trennen nicht unsere Länder, sondern unsere Prinzipien. Unseren Ländern mag es misslingen, uns zusammenzuführen, aber unsere Prinzipien können das schaffen. Deshalb müssen wir über den bestehenden militärischen, diplomatischen und politischen Rahmen hinausgehen und stattdessen eine auf Prinzipien fußende Zusammenarbeit fördern. Wir müssen auf lokaler, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Ebene zusammenarbeiten.

Wir können die Hegemonie autoritärer Herrschaft nur zerschlagen, wenn wir zusammenstehen und uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Nur so werden wir eine demokratische und freie Welt schaffen. Wenn uns das gelingt, werden wir an allen Brücken der Welt dasselbe Schild anbringen können, auf dem steht: „Willkommen in Europa!“