Eröffnungsrede John Kornblum

Es ist eine große Freude, hier vor Journalisten zu sprechen, insbesondere mit jungen Journalisten. Und ich kenne viele von Ihnen recht gut aus früheren Kämpfen – sagen wir mal. Aber ich dachte, dass ich versuchen könnte, meine Perspektive beizutragen, weil es eine sehr interessante Aufgabe ist, zu definieren, was zurzeit vor sich geht, Ich habe nicht vor, den Namen Donald Trump zu erwähnen, außer, dass ich es gerade getan habe. Aber das wird das erste und letzte Mal sein, es sei denn, er schleicht sich irgendwo ein.

Die Tatsache, dass es so viele politische Umbrüche in den Vereinigten Staaten und in Europa gibt, aber auch in China – ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen hier die Entwicklungen in China verfolgen, und Sie wissen, dass China alles andere als ein stabiles, positiv aussehendes Land ist -, dass es wichtig ist, herauszufinden, warum das alles 30 Jahre nachdem einige Leute über das Ende der Geschichte schrieben geschieht, während wir dachten, dass die liberale Demokratie die selbsttätige Wahl für die Zukunft sein würde.

Nach etwas weniger als 30 Jahren stellen wir fest, dass sie alles andere als eine automatische Wahl für die Zukunft ist, und wir müssen viele der Debatten – die übrigens bereits im 19. Jahrhundert stattgefunden haben – wieder eröffnen. Und die Debatten der Nachkriegszeit – vor allem der 50er Jahre – als wir vor genau der gleichen Art von Herausforderung durch die Sowjetunion standen: Gefälschte Nachrichten und Propaganda, die unsere Institutionen untergraben, unsere politischen Parteien infiltrieren usw. Es gibt hier wirklich nichts Neues. Neu ist die Entwicklung, die sich inzwischen vollzogen hat und natürlich die Entwicklung der Technologie.

Ich war erstaunt über den Titel Ihrer Veranstaltung. Ein „postamerikanisches Zeitalter“. Nun, natürlich sind wir alles andere als in einem postamerikanisches Zeitalter. Die Vereinigten Staaten boomen. Ihre Technologie dominiert die Welt. Amerikanische Militärausgaben sind 10mal so hoch wie der Rest der Welt zusammen.

Das ist sicherlich nicht das Ende eines amerikanischen Zeitalters. Aber wir erleben die stetige Erosion der Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, die schon vor etwa 70 Jahren begann. Und eine stetige Erosion der Grundlagen der internationalen Diplomatie und politischen Handelns, wie sie in den letzten 60 oder 70 Jahren üblich waren. Aber das ist etwas anderes als „Europa allein zu Haus“. Europa ist sicherlich nicht allein zu Hause. Und die heutige Situation ist sicherlich ganz anders als zu Beginn der Nachkriegszeit.

Lassen Sie mich mit einem Vergleich beginnen, mit dem ich uns 200 Jahre zurückversetze, genau genommen etwas mehr als 200 Jahre, in die Zeiten des „Wiener Kongress“, von dem einige von Ihnen wahrscheinlich gehört haben. Das war ein Kongress, der im Wesentlichen von den regierenden Monarchien Europas organisiert wurde, um Frankreich für Napoleon zu bestrafen und die Welt, des 18. Jahrhunderts, wiederherzustellen.

Henry Kissinger, der berühmte amerikanische Gelehrte und Diplomat, machte sich einen Namen mit dem Buch „A World Restored“, das vom Wiener Kongress handelte. Er zeigte, wie die Menschen, die dort versammelt waren, während Frankreich sozusagen auf der Anklagebank saß, versucht haben, sicherzustellen, dass in Europa keine Veränderungen stattfinden.

Und ich möchte hier eine kleine Anekdote erzählen, die zufällig zu 100% wahr ist und zeigt, wie schwierig diese Phase war, als Napoleon all seine Siege in ganz Europa feierte – und er hat Europa wirklich dramatisch verändert, bis heute sind seine Reformen Teil der europäischen Realität. Die Methoden des Transports, der Kommunikation und der Organisation, die er für sein Militär einsetzte, waren – mit Ausnahme einiger technischer Verbesserungen – genau die gleichen, die Julius Caesar verwendet hatte. Es gab in 2000 Jahren keine Fortschritte.

25 Jahre nach dem Wiener Kongress, hatten wir die Dampfmaschine, die Eisenbahn, das Dampfschiff, den Telegrafen. 50 Jahre später hatten wir das elektrische Licht. Mit anderen Worten: Die Teilnehmer des Wiener Kongresses hatten nicht die geringste Ahnung, was um sie herum los war während sie versuchten, ein System aufzubauen, das 100 Jahre lang Bestand haben sollte, aber es war ein sehr undemokratisches System. Es unterdrückte Minderheiten. Es unterdrückte die öffentliche Meinung. Und am Ende führte es zum Ersten Weltkrieg.

Vor 30 Jahren gingen die Kriege, die in Europa zwischen 1814 und 1989 stattgefunden haben zu Ende. Ich spreche von Kriegen, weil der Kalte Krieg sicherlich auch ein Krieg war.

Zu dieser Zeit hatte ich den größten Teil meiner diplomatischen Karriere. Und als die Europäer zusammenkamen, um zu versuchen, das Ende des Kalten Krieges zu verstehen, gab es einige Konferenzen, vor allem 1992 in Maastricht. Und auch sie haben die Vergangenheit im Wesentlichen wiederhergestellt, indem sie ein vereintes Europa auf Basis einer einzigen Ordnung zu bauten, zu einer Zeit, als sich die Welt symbolisch genau an dem Punkt befand, an dem sie 1815 war. Nur diesmal sprachen wir anstelle von Dampfmaschine und Telegraf über die digitale Welt.

Und so haben wir – und auch ich persönlich – seitdem versucht, die Nachkriegsordnung zusammen zu halten, die in den letzten Jahren den Namen Liberal-Demokratische Weltordnung erhalten hat – wie sie in den Tagen, in denen sie tatsächlich herrschte, nie genannt wurde. Wir haben uns sehr bemüht, diese Weltordnung am Laufen zu halten. Gestern habe ich einen langen Artikel in einem amerikanischen Magazin gelesen, in dem jemand alle Wege aufgezeigt hat, wie diese Weltordnung aufrechterhalten wurde, obwohl die Gründe für ihre Existenz mehr oder weniger nicht mehr bestanden. Nach dem Ende der Konfrontation des Kalten Krieges und insbesondere der schnelle Aufstieg und Wandel der Technologie.

Vor fast 15 Jahren hat der amerikanische National Intelligence Council – der eigentlich sehr wenig mit Intelligenz zu tun hat, es ist ein analytisches Organ, das alle drei Jahre mit seiner Art von Weltvision herauskommt – analysiert, dass wir in das digitale Zeitalter eintreten und, dass dies ein so grundlegendes und weitreichendes Phänomen sein wird, dass jeder Teil unseres Lebens sich verändert.

Aber unsere politischen Führer haben in dieser Angelegenheit nicht gehandelt. Und ich würde sagen, dass sich die Presse und insbesondere die akademische Welt diese Empfehlung noch nicht wirklich zu Herzen nimmt. Wir arbeiten immer noch sehr hart daran, die alte Ordnung zusammenzuhalten. Wenn die Organisatoren dieser Konferenz sagen: „Europa allein“, meinen sie, dass Europa nicht mehr die Nachkriegsordnung hat, mit der es sich schützen kann und mit der es hofft, dass die Vereinigten Staaten weiterhin die Last tragen werden, Europa vereint und frei zu halten.

Es gibt eine Aussage, den man in Europa ständig hört: „Diese Person ist ein guter Europäer.“ Nun, ein „guter Europäer“ zu sein, heißt im gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht, ein guter Mensch zu sein oder jemand, der große Dinge für Europa tut. Ein „guter Europäer“ ist jemand, der das derzeitige System unterstützt, die Art und Weise, wie die Europäische Union seit Anfang der 1960er Jahre organisiert ist und wie sie zusammenarbeitet, um Europa stabil zu halten. Denn das Gegenteil von einem „guten Europäer“ ist nicht unbedingt ein „schlechter Europäer“. Es ist ein „krimineller Europäer“, der in die Zeit des Nationalismus und der Konfrontation zurück will.

Was ist also das Ergebnis all dessen? Eine wachsende Ära des Nationalismus und der Konfrontation. Das ist es, worüber alle in Europa besorgt sind. Populistische Gruppen gelten als Gefahr für Freiheit und Demokratie in Europa. In diesem Land gibt es eine große Debatte darüber. Ich unterstütze natürlich in keiner Weise eine dieser Parteien, aber ich möchte anmerken, dass es sich um ein politisches Phänomen handelt, mit dem man sich beschäftigen muss, ohne es anzuprangern, wie es in den meisten Ländern geschieht.

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass einer der populärsten Populisten in Europa, einer der erfolgreichsten, von denen ich denke, dass die meisten von uns hier ihm gratulieren würden, der französische Präsident ist. Er hat im Wesentlichen alle bestehenden politischen Parteien beiseite geräumt. Er kam mit einem neuen Programm des populären Wandels. Er räumte die gesamte Nationalversammlung aus und brachte sein Volk dorthin. Das ist genau das, was Populisten tun, wenn sie die Macht übernehmen. Nur er war ein guter Populist. Er ist ein guter Populist. Ich denke immer noch, dass er gut ist.

Der Punkt ist, dass wir keine Vorbehalte haben sollten, uns mit Populisten zu beschäftigen. Aber wir sollten auch verstehen, was hier vor sich geht. Und nur weil jemand die richtigen Dinge sagt, denen die meisten von uns hier – lassen sie mich uns die „liberale Mehrheit“ nennen – zustimmen, bedeutet das nicht, dass er oder sie kein Populist ist und wir im Umgang hiermit sehr vorsichtig sein müssen.

Der größte Teil der Presse in Europa und den Vereinigten Staaten ist – so weit sie noch existiert – an die alte Weltsicht gebunden. Sie sprechen davon, dass Amerika Sie im Stich lässt. Sie sprechen davon, dass die Populisten Nationalisten und gefährlich sind. Sie sprechen in einer gewissen Weise über das Flüchtlingsprogramm. In Deutschland gibt es einen tiefen inhärenten Pazifismus, der jede Idee von irgendeinem militärischen Abenteuer ablehnt, um es einmal so zu sagen.

Mit anderen Worten, es ist wirklich Zeit für ein neues Narrativ, vor allem in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten. Alles, was ich sage, gilt auch für die Vereinigten Staaten. Die westliche Welt ist bei weitem nicht tot. Die westliche Welt dominiert nach wie vor die Welt und wird dies auch weiterhin tun. Was weg ist, ist die Ordnung – und sie ist keineswegs schon ganz verschwunden, sondern wird Schritt für Schritt schwächer – die Ordnung, die im Wesentlichen, wenn wir ehrlich sind, von den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich nach dem Krieg geschaffen wurde, um Europa unter Kontrolle zu halten.

Der Schlüssel hierzu war eine sehr gute britische Diplomatie und viel amerikanische Militärstärke. Wir in den USA haben in der Zwischenzeit auch ein wenig Diplomatie gelernt, aber  ich sehe nicht viel mehr britische Militärstärke – also wechseln wir vielleicht die Seiten.

Tatsache ist, dass es in Europa jetzt eine Romantik über eine bestimmte Art transatlantischer Beziehungen gibt, die – wie jemand, der sie fast 40 Jahre lang mit gestaltet hat – sagen kann, dass es sie so nie gab. Es waren Stunden des Streits. Es waren Stunden der Auseinandersetzung. Es waren Stunden der Mühe, um alles am Laufen zu halten. Aber wir hatten die Hingabe, dies zu tun.

Nun nimmt die Hingabe seit dem Ende des Kalten Krieges ab, vor allem in den Vereinigten Staaten. Es ist nicht nur Trump – jetzt habe ich den Namen doch noch einmal gesagt – der zum Beispiel über die europäischen Militärausgaben verärgert ist. Ich kann mich erinnern, dass ich schon in den frühen 1970er Jahren Artikel in Zeitungen geschrieben habe, in denen ich erklärte, warum die Vereinigten Staaten ihre Truppen in Europa behalten sollten, obwohl die Europäer nicht viel dazu beigetragen haben.

Nichts davon ist also neu, aber wir befinden uns in einem neuen Kontext, im Kontext einer digitalisierten Welt, die schnell wächst und schnell in unsere Gesellschaft vordringt. Und niemand Geringerer als der weltberühmte Henry Kissinger, der über den Wiener Kongress schrieb, schrieb einen sehr langen Artikel in einem amerikanischen Magazin, in dem er kürzlich warnte, dass die künstliche Intelligenz unsere Welt und unsere Gesellschaft und unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, untergraben wird.

Wenn dies der Fall ist, dann gibt es hier wirklich eine große Herausforderung für Sie, für die Presse der Welt und vor allem für die jüngeren Generationen, die hier sind. Aber diese Herausforderung hat sehr wenig mit der bestehenden sogenannten Ordnung zu tun. Es hat nichts mit „Europa allein“ zu tun. Europa ist sicherlich nicht allein. Wenn überhaupt, dann wird Europa mehr denn je in Mitleidenschaft gezogen.

Wenn wir eine Messung durchführen würden, wie viel Raum der amerikanische Präsident in der Presse bekommt, wäre dies nach meiner Annahme eine Menge. Aber es gibt auch andere Menschen wie Jeff Bezos und Herr Zuckerberg und Herr Sergey Brin, der eigentlich ein Immigrant aus Russland war, die wahrscheinlich mehr Einfluss auf unser Leben haben, als der amerikanische Präsident. Aber dies wird nicht als Teil der Weltordnung angesehen, es scheint mehr eine vage Herausforderung zu sein.

Mein Punkt ist also, dass wir ein neues Narrativ benötigen. Und wir brauchen eine neue Ordnung, auf der wir dies aufbauen können. Das bedeutet nicht, dass der „Westen“ tot ist. Wenn überhaupt, dann ist der Westen stärker. Unsere Werte sind immer noch diejenigen, die bestimmen, wie die Welt regiert wird und wir müssen weiter hart daran arbeiten, um sicherzustellen, dass dies so bleibt. Unsere Werte sind für mich nach wie vor die besten der Welt. Aber vielleicht müssen wir uns weniger auf den institutionellen Multilateralismus konzentrieren als vielmehr auf unsere Geistesgeschichte und unsere Werte.

Es gibt ein Konzept, an dem ich vor Jahren gerne mitgearbeitet habe – die so genannte Schlussakte von Helsinki – die eine sehr gute Aussage darüber macht, was die Grundsätze der modernen demokratischen Zivilgesellschaft sein sollten, und die übrigens in 58 Ländern, einschließlich der Russischen Föderation, unterzeichnet wurde. Es werden derzeit geradezu philosophische Diskussionen darüber geführt, was die Digitalisierung für unsere Gesellschaften bedeutet. Was ist die Bedeutung von Sozialen Medien uvm. Anstatt sie zu regulieren, wie es einige Leute fordern, ist es sicher besser, wenn wir auf das 18. Jahrhundert zurückschauen, in dem Philosophen und Wissenschaftler für das politische Leben viel wichtiger waren als die Bürokraten und die Politiker.

Abschließend möchte ich einfach sagen, dass die Nachkriegswelt auf der Grundlage eines Zusammenbruchs aufgebaut wurde. Und es hat sehr gut funktioniert. Es brachte uns in die unglaublich positivste Lage, die wir uns vorstellen konnten. Wir befinden uns jetzt in einer neuen Welt. Wir wollen sie nicht auf der Grundlage eines Zusammenbruchs wieder aufbauen müssen. Ich glaube nicht, dass wir das tun müssen. Aber um dies zu tun, wäre es wichtig, daran zu denken, was um uns herum vor sich geht, und nicht zu versuchen, die Vergangenheit zu bewahren, obwohl die Vergangenheit in Wahrheit längst vergangen ist. Ich danke Ihnen vielmals.