23. Mai 2024. Wie ist die Stimmung in den USA sechs Monate vor den Wahlen? Vom 30. April bis 10. Mai hat der Politikwissenschaftler und Amerikanist Dr. Tobias Endler die USA bereist und teilt hier seine Eindrücke:
10 Tage zwischen Manhattan und Texas. Also zwei Amerikas, die 3.000 km auseinanderliegen. Für jemanden, der das Land seit Jahrzehnten bereist, fühlt es sich 2024 eher so an, als wären es 10.000 km.
Damit sind wir bei einer ersten Beobachtung: Die große Trennlinie verläuft zwischen Stadt und Land. Entlang dieser Linie wird sich auch die Präsidentschaftswahl im November entscheiden. Laut Statistik leben zwar 8 von 10 Amerikanern in „urbanen Gegenden“, aber dieser Begriff umfasst vieles, und aufgrund des Mehrheitswahlrechts entscheidet sich die Frage nach Sieg oder Niederlage in den großen Flächenstaaten im ländlichen Raum. Texas ist eine Welt für sich, und es ist Amerika hoch 2.
Aber die Texaner sind in ihrer Überzeugung, dass New York, Washington DC und die anderen Ostküstenmetropolen mit ihrem Leben nicht viel zu tun haben, nicht allein. Sie sind allerdings stolz, welchen Sog ihr Bundesstaat auf die Menschen der Metropolen an der Westküste ausübt – auch wenn man offiziell mit den „blasierten Kaliforniern“ nichts anfangen kann: Don’t mess with Texas. Hier gibt es Ranchhäuser samt Veranda und großem Vorgarten plus Auffahrt für den Preis einer halben Einzimmerwohnung in San Francisco.
Zweitens werden die Amerikaner im Herbst entlang der beiden W-Fragen wählen: Wirtschaft und Werte. Und zwar in dieser Reihenfolge. Ich habe mit Studierenden auf dem Campus der Columbia-Universität und der NYU gesprochen – und natürlich sind viele beim Protest dabei, weil sie ein Problem damit haben, dass ihre Universitäten im großen Stil in Israel investiert sind. Das ist eine Werte-Frage (und egal wie man dazu steht: Der Umgang der Uni-Leitungen mit der Angelegenheit ist irgendwo zwischen unglücklich und unmöglich). Es sind aber auch einige dabei, die nicht einsehen, warum sie 65.000 Dollar Studiengebühren im Jahr zahlen und die Hochschule mit einem Schuldenberg von 300.000 Dollar verlassen werden. Solange sie Studierende sind, wollen sie dafür mindestens ihre Meinung kundtun. Die Meinungsfreiheit ist in den USA sehr weit gesteckt. Aber Meinung ist eben nicht alles, und leider ist die Informiertheit so mancher Protestler nicht annähernd so hoch wie ihr Engagement.
Auch weil die Proteste medial dermaßen präsent sind, kann man sich leicht täuschen, was ihre Bedeutung für das große Ganze betrifft. In den USA gibt es rund 20 Millionen eingeschriebene Studierende, von denen sich nur ein geringer Bruchteil dermaßen einbringt. Bei über 160 Millionen registrierten Wählern im ganzen Land haben wir es mit einer wichtigen Wählerklientel, aber längst nicht mit der einzigen Klientel zu tun. Im Herbst kann zudem längst ein anderes Thema komplett im Vordergrund stehen – nämlich die Economy: Wie hoch ist mein Mindestlohn? In New York City lautet die Antwort: 16 Dollar, in Kalifornien 15 Dollar. In Texas 7,25 Dollar. Wie hoch ist meine Vermögenssteuer? Im Land der Haus- und Grundbesitzer, wo niemand zur Miete wohnt, der nicht unbedingt muss, eine wichtige Frage. Bleibt das Wirtschaftswachstum bei fast 3,5%? Nicht von ungefähr betont Biden bei jeder Gelegenheit, warum Build Back Better so eine gute Idee war.
Was Wertefragen angeht: Gerade bei der Gen Z und Alpha sind sie sehr präsent. Immer weniger junge Menschen sehen ein, warum der Staat entscheiden sollte, ob ich ein Kind bekomme oder nicht. Damit trifft Biden einen Nerv. Ob ein – wirklich – alter Mann allerdings der beste Fürsprecher in dieser Frage ist, darüber gehen die Meinungen stark auseinander. Immerhin 6 von 10 Amerikanern sind der Meinung, dass ihr Präsident „irgendwie religiös“ ist. Überhaupt ist bei Biden vieles „irgendwie“, daher auch seine betont kämpferische Rhetorik in letzter Zeit. Siehe zum Beispiel diese Woche seine Ankündigung der ersten TV-Debatte für Ende Juni. Zurück zu den Wertefragen: Sie spielen auch für die anderen Generationen bis hinauf zu den Boomern eine wichtige Rolle – allerdings kommen viele dabei gut ohne Religion aus. Überhaupt scheint mir die Bedeutung von Glaubensfragen mittlerweile überschätzt, wenn wir von Deutschland aus auf die USA schauen. Natürlich sind die Amerikaner – im Landesdurchschnitt! – ein gläubiges Volk. Aber gerade die jungen Menschen argumentieren mit Fairnessgedanken, mit Gerechtigkeit, mit Selbstbestimmung, mit Menschenwürde usw., nicht damit, was in der Bibel steht.
Drittens: Wir sollten nicht der Täuschung erliegen, dass die Außenpolitik bei der Wahl im Herbst letztlich eine entscheidende Rolle spielen wird. Das wäre der Fall, wenn die USA einen Angriff auf ihr eigenes Territorium erleben würden (siehe 9/11). Ansonsten gilt die Aufmerksamkeit der Amerikaner den Fragen vor der eigenen Haustür bzw. der Frage danach, warum es jeden Tag ein wenig riskanter scheint, die sanierungsbedürftige Auffahrt auf den Freeway zu nehmen, oder warum es in der Schule schon wieder aus der Decke tropft. Zur Rolle der USA in der Welt demnächst mehr.
Zum Schluss (und nicht ganz ernst gemeint): In Texas heißt der Favorit für die Wahl Willie Nelson. Er ist eine Country-Ikone und gerade 91 Jahre alt geworden. Auch Reagan T-Shirts laufen nach wie vor gut. In NYC werden MAGA-Kappen (Make America Great Again) verkauft. Der Times Square ist noch immer offiziell Waffen-freie Zone – damit das niemand vergisst, gibt es dafür extra Schilder. Und (der 2017 verstorbene Musiker) Tom Petty ist Jesus. Niemand kann all sowas behaupten ohne Foto-Beweis, also: bitte schön.
Text und Fotos: Tobias Endler