Can Dündar über die Wahl in der Türkei

17. Mai 2023. Eine gewisse Enttäuschung war Can Dündar und seiner Frau Dilek anzusehen, als am vergangenen Sonntag die ersten Hochrechnungen der Türkei-Wahl veröffentlicht wurden: Kein Erdrutsch-Sieg von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, keine sofortige Abwahl von Sultan Recep Tayyip Erdoğan. Im Falle eines Sieges der Opposition wären Dündar und seine Frau sofort in die Türkei zurückgekehrt. Nun müssen sie bis auf unbestimmte Zeit hierbleiben.
Nicht, dass es ihnen in Deutschland nicht gefällt, erzählen sie am Wahltag im Garten des Maxim-Gorki-Theaters, aus dem Dündar die Wahl live kommentiert hat. Aber sie vermissen ihre Heimat, ihre Familien, ihr (von der AKP konfisziertes) Haus und haben beide seit Jahren ihre alten und kranken Eltern nicht mehr gesehen.
Einen großen Anteil an diesem Ergebnis haben zwei Drittel der 1,5 Millionen in Deutschland wahlberechtigen Türken, die erneut den zunehmend autokratisch regierenden Erdoğan gewählt haben, ohne selbst in der Türkei zu leben. “Ich beobachte das seit 20 Jahren und versuche es, zu verstehen”, sagt Can Dündar.


Kürzlich wurde im ZDF eine Dokumentation von ihm ausgestrahlt, “Erdoğans Terrorliste“ (in der ZDF-Mediathek und auf YouTube in Deutsch mit türkischen Untertiteln). Darin sagt er: ”Deutschland ist für jemanden wie mich das gefährlichste Land der Welt. Und Berlin ist einer der gefährlichsten Orte. Der türkische Geheimdienst ist hier sehr aktiv. Es gibt viele, die hier von Erdogan mit Hass gefüttert werden. Leider hat die deutsche Regierung ihn jahrzehntelang gewähren lassen. Deshalb spiegelt sich die Polarisierung in der Türkei in Deutschland direkt wider.“
Eine kleine Hoffnung für den zweiten Wahlgang am 28. Mai bleibt. Denn dass Erdogans Partei im ersten Wahlgang sieben Prozent verloren hat, während Kılıçdaroğlu 45 Prozent holte, zeige, dass die Türkei noch nicht vollständig vor der Autokratie kapituliert habe, so Dündar: “Mit der Hälfte der Gesellschaft gegen ihn, mit den geleerten Staatskasse und mit der Müdigkeit von 21 Jahren stellt sich die Frage, wie lange Erdoğan sich noch an der Macht halten kann.”
Dündar, der in der Türkei wegen angeblicher Spionage zu fast 19 Jahren Haft verurteilt wurde, der nur knapp einem Anschlag entging, dem 2016 die Flucht gelang und der seitdem unter Polizeischutz im deutschen Exil lebt, betreibt seit 2017 die deutsch-türkische Nachrichtenplatform „Özgürüz“ (Wir sind frei). Ende letzten Jahres hat die türkische Regierung ihn auf die sogenannte Graue Liste der meistgesuchten Terroristen aufgenommen und ein Kopfgeld von bis zu 500.000 Türkischen Lira (25.000 Euro) auf ihn ausgesetzt.
Er hat eine Kolumne in der ZEIT, schreibt Bücher, dreht Dokumentarfilme und ist regelmäßiger Gast bei M100.