Begrüssung Mike Schubert

Sehr geehrter Herr Volkov,
sehr geehrter Herr Dr. Reckwitz,
sehr geehrter Herr Lindner,
Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist sehr schön, Sie alle wieder hier begrüßen zu dürfen, nachdem wir im vergangenen Jahr pandemiebedingt leider nur eine kleine M100-Variante durchführen konnten. Ich heiße Sie daher nun besonders herzlich in der Landeshauptstadt Potsdam willkommen.

Ich freue mich, dass Sie, Herr Lindner, heute trotz der besonderen Situation in Berlin zu uns gekommen sind, um die Laudatio auf Alexei Nawalny zu halten. Ich gebe unumwunden zu, ich bin auf Ihre Rede auf unseren diesjährigen Preisträger sehr gespannt, wird Sie doch von einem Mann vorgetragen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit in wenigen Wochen der neuen Bundesregierung angehören könnte.

Damit ist Ihr heutiges Statement für mich auch ein Fingerzeig darauf, wie eine der zukünftigen Regierungsparteien sich im Spannungsfeld zwischen der Meinungsfreiheit und der damit verbundenen individuellen Freiheit eines politischen Dissidenten und der dennoch notwendigen geopolitischen Sprach- und Annäherungsnotwendigkeit zu Russland positionieren wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

M100 hat sich in diesem Jahr dem Thema, „Von der Dauerkrise zu demokratischer Resilienz“ gewidmet. Dieses Thema baut sicher in erster Linie, aber nicht nur, auf die Ereignisse des vergangenen Jahres auf. Auf ein Jahr der Pandemie, wie es sie in unserer modernen Welt noch nicht gegeben hat. Aber demokratische Resilienz spielt nicht erst seit der Corona-Pandemie eine Rolle. In einer sich immer mehr individualisierenden Gesellschaft ist die Frage der Stärkung des Wertes der Gemeinschaft heute wieder mehr denn je von Bedeutung, wenn wir nicht zuschauen wollen, wie unsere Gesellschaft sich in eine Horde von Individualisten atomisiert.

Die Fähigkeit eines Gemeinwesens, in gesellschaftlichen und politischen Krisen- und Transformationssituationen immer wieder zu einer von der Mehrheit der Gesellschaft getragenen und im demokratischen Meinungsstreit legitimierte Akzeptanz von Demokratie als Gesellschafts-, Staats- und Lebensform zu gelangen und diesen Grundwert einer pluralistischen Gesellschaft zu verteidigen, das ist für mich demokratische Resilienz.

Für mich gehört auch die Verteidigung dieser Grundwerte dazu. Denn bei aller Pluralität der Meinungen muss die Toleranz ihre Begrenzung finden in der Abwehr menschen- und demokratiefeindlicher Aussagen. Voraussetzung eines demokratischen Gemeinwesens ist der Schutz von Menschen- und Grundrechten und die Bejahung der Demokratie als Gesellschaftsform. Und dazu müssen alle Gewalten aus meiner Sicht ihren Beitrag leisten.

Sie meine Damen und Herren, haben heute ausführlich über Ihre Sichtweise auf die demokratische Resilienz und die Aufgabe von europäischen Medien bei deren Stärkung gesprochen.

Wenn man sich als deutscher Politiker mit Medien und deren Wirkung auseinandersetzt oder nach Beispielen sucht, dann tut man gut daran, vielleicht zunächst jenseits der einheimischen Veröffentlichungen zu schauen. Man könnte ja dem einen oder anderen dort auf den Fuß treten. Und wer will das als Politiker schon in einer Mediengesellschaft?

Und deshalb will ich ein erstes Beispiel – quasi, als Warm-up – an einem Artikel aus einer österreichischen Zeitung machen. Das Mitglied unseres Beirats, Christian Reiner, hat in seinem letzten Leitartikel im österreichischen Magazin Profil über die Aussage sinniert, ob wir noch „wissen was wir wählen“? Nun lieber Christian Reiner, ich zumindest weiß noch was und auch warum ich ihn gewählt habe. Aber ich gebe zu, dass sich meine Wahlentscheidungsfindung in der Tat unterscheiden könnte von vielen anderen.

Christian Reiner beschreibt in seinem Artikel eine Gefahr für die demokratische Resilienz. Dort, wo Pluralismus und inhaltliche Unterscheidung der Parteien als Kriterium abhandenkommen, wird Raum geschaffen für Entscheidungen, die eher auf menschlichen Eigenschaften der Kandidaten, oder zumindest denen die uns die jeweilige Kampagnen suggerieren wollen, beruhen.

Die Frage, die sich aber dabei auf einem Medienkongress aufdrängt, ist die nach der Rolle der Medien. Also, was tragen Medien und die Form ihrer Berichterstattung dazu bei, dass diese Personen gewählt werden?

Lassen Sie mich eine These stellen:

Die Aufmerksamkeitsökonomie des heutigen Medienbusiness ist ein perfekter Nährboden für das Entstehen populistischer Stimmungen und der oft mit ihnen einhergehenden Personalisierung von Politik. Die pointierte These vorgetragen von einem Politikertyp Agent Provokateur ist das, was Schlagzeile macht.

Politiker werden erst dann interessant für Medien, wenn man ihnen das Label des provokanten Quergeistes, des Tabubrechers, des Krachmachers zuschreiben kann. Boris Palmer in der Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür.

Die Gegenseite sind dann die Politiker, deren inhaltliche Aussagen sich schlechter zu knalligen Sätzen verdichten lassen. Ist man im Laufe eines politischen Lebens nicht mehr zum permanenten Tabubruch bereit, kühlt auch das mediale Interesse ab. Es ist eine permanente Abhängigkeit zwischen Provokation und Schlagzeile. Die Medien und Politiker werden so zu symbiotischen Partnern.

Denn es gibt sie, die Medienpopulisten, die meinen, den echten Sorgen der normalen Menschen Ausdruck zu verleihen, die in einem angeblich abgehobenen Politikbetrieb nicht mehr ausreichend zur Sprache kommen würden.

Trägt diese Form der Berichterstattung zur demokratischen Resilienz bei? Häufig könnte man darüber streiten, bei einem Thema aus meiner Sicht nicht.

Es gab in den vergangenen sechs Jahren ein Thema, für das der politische und der mediale Populismus ein Gift war, und das die demokratische Resilienz und unseren gemeinsamen europäischen Grundrechtskanon herausfordert. Bei keinem Thema wurde in den letzten Jahren so populistisch pointiert gestritten, auch von Vertretern sogenannter etablierter Parteien, wie in der Flüchtlingspolitik. Für mich persönlich einer der Tiefpunkte war dabei eine Äußerung des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz in der BILD-Zeitung im Januar 2020.

Die Überschrift lautete „Private Seenotrettung führt zu mehr Toten.“ Punkt.

Also ich persönlich halte nicht viel davon, Menschen ertrinken zu lassen, um andere abzuschrecken. Das ist nämlich die Umkehrung dieser Aussage: Wir retten erstmal nicht, denn wenn die einen nicht gerettet werden, kommen andere nicht mehr nach.

Das ist falsch, zynisch und inhuman.

Damit ich hier nicht falsch verstanden werde, genauso falsch und inakzeptabel ist es, wenn der Herr Bundeskanzler dann in der Reaktion von Seenotrettern als Öko-Faschist oder Baby-Hitler bezeichnet wird.

Wenn man Humanität in Europa will, dann fängt die bei der Sprache an. Sonst entsteht genau die populistische Frontstellung, die aber eines mit Sicherheit nicht ermöglicht – eine Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger an Fakten.

Aber was wäre meine ganz persönliche, man mag es für naiv halten, Erwartungshaltung an eine Zeitung gewesen? Zumindest den simplen Hinweis an den österreichischen Bundeskanzler auf das internationale Seerecht und vielleicht noch auf Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der das Recht auf Asyl paraphiert zu geben und ihn mit seiner davon abweichenden Haltung zu konfrontieren. Vielleicht mit der Frage ob er denn schon bei der Rettung an sich wüsste, ob es sich um einen Menschen handelt, der kein Anrecht auf Asyl hat.

Das kann man im Übrigen danach auch in der Schlagzeilenform des Boulevards verarbeiten. Ich will mich mal als Headliner versuchen.
„Skandal – Ösi-Kanzler will Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen!“
Oder
„Österreichischer Bundeskanzler ruft zu Bruch von europäischem Recht auf!“

Wäre sicher auch ein Hingucker gewesen. Aber es hätte, da gebe ich Ihnen Recht, genauso wenig zur Lösung beigetragen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Geschichte Potsdams, die Stadt, in der Sie heute zu Gast sind, ist eine Geschichte von Offenheit, Toleranz und geprägt von Migration. Toleranz und Migration haben Potsdam Chancen eröffnet und waren Motor einer Entwicklung. Und in dieser Tradition des Miteinanders und des Umgangs mit Zuzug agiert die Stadt Potsdam auch heute.

Anfang 2019 wurde in Potsdam das deutsche Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ mit 13 Mitgliedern gegründet, die sich für ein rechtsstaatliches Asylverfahren und eine Verteilung der Menschen in ganz Europa einsetzen. Heute sind wir über 100 Mitglieder. Knapp 18 Millionen Menschen.

Mittlerweile wächst das Bündnis nun auch auf europäischer Ebene, im Juni haben dazu 35 Städte auf Einladung von Potsdam und Palermo eine Erklärung unterschrieben. Und dieses internationale Bündnis wächst auch. Alle diese Städte haben Ihren Beschluss demokratisch legitimiert, viele davon durch Beschlüsse ihrer Räte.

Aber auch hier gibt es ein Beispiel, Medien, die bewusst oder unbewusst die demokratische Entscheidung durch sprachliche Zuspitzung zumindest herabzusetzen.

Ein Beispiel, aber es gibt mehrere:

In einem Kommentar für SPIEGEL-Online setzte Nikolaus Blome Städte, die eine eigene Flüchtlingsaufnahme anbieten, mit Zechprellern seiner Studienzeit gleich, weil diese Städte „Flüchtlinge quasi bestellen“, aber nicht die gesamten Kosten bezahlen. Eine solche Aussage verhohnepipelt die Arbeit vieler Menschen in der Integration, reduziert das verfassungsmäßige Recht auf Asyl auf einen monetären Aspekt.

Ist ein Grundrecht unserer Verfassung weniger wert als das andere oder darf verhohnepipelt werden, nur weil es Geld kostet? Führen solche Aussagen zu demokratischer Resilienz?

Was wir statt permanenter Zuspitzung in diesem Thema brauchen, und das gilt meines Erachtens nicht nur für Politiker, sondern auch für Journalisten, ist die Suche nach einem umsetzbaren Konsens. Es geht um einen moralischen Pragmatismus, um große Teile unserer Gesellschaft wieder zusammenzubringen.

Es geht darum, die zurückzugewinnen, oder ihnen eine Stimme zu geben, die quasi zwischen den Fronten der Populisten stehen. Die das Gefühl haben, in den aktuellen politischen Debatten kaum Gehör zu finden. Nichts weil sie laut rufen, dass Ihnen keiner zuhört.

Sondern weil sie sich keinem der beiden vermeintlichen lauten Ränder zugehörig fühlen, sondern die Mitte unserer Gesellschaft sind.

Die, die sich weder als Weltenbürger noch als Nationalisten verstehen wollen. Nur, dazu braucht es auch einer differenzierenden Berichterstattung. Und es gibt ja kein Gesetz, dass Politiker oder Journalisten zur populistischen Zuspitzung zwingt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es gibt überall in Europa Bürgerinnen und Bürger, die Seenotrettung zuerst als eine humanitäre Pflicht verstehen, für die aber die Frage einer gerechten Verteilung der Aufgaben, organisierte Verfahren und gesellschaftliche Integration in der Flüchtlingsfrage wichtig sind. Menschen, die gleichzeitig die europäischen Außengrenzen nicht in Frage gestellt wissen wollen.

Dass es dafür einen Weg und den Willen vieler Städte gibt, findet in einer medialen, polarisierten Auseinandersetzung über die Frage Migration derzeit aber keinen Raum. Dabei brauchen wir gerade in der Zukunft eine von Populismus freie Diskussion über die Notwendigkeit von Zuwanderung!

In den kommenden Jahren werden wir in Europa große Herausforderungen meistern müssen: einen demografischen Wandel und einen Fachkräftemangel. Geht das überhaupt ohne Zuwanderung?

Ich wünsche mir, und damit habe ich dann doch noch einen Wunsch als Vorsitzender des M100-Beirats an die Medien:

Informieren Sie Menschen stärker über mögliche Kompromisslinien. Bauen Sie von mir aus Druck auf die Politik auf, Kompromisse zu suchen.

Schaffen Sie Echokammern für einen Dialog, der ein Klima in der Gesellschaft schafft, welches dazu beiträgt, die europäische Hängepartie in der Flüchtlingspolitik zu beenden.

Wir dürfen diese Frage nicht weiter aussparen oder zuspitzen. Das ist toxisch für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir brauchen eine starke, glaubwürdige, diskussionsfreudige und wehrhafte Demokratie.

Denn nur, wenn Sie stark, glaubwürdig, diskussionsfreudig und wehrhaft ist, ist sie auch resilient.

Vielen Dank.