Wie Deutschland sich in Wladimir Putin geirrt hat

18. März 2023. Prof. Dr. Wolfgang Ischinger ist seit Beginn des Jahres im Beirat des M100 Sanssouci Colloquiums. Am Rande der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz hat der georgische Journalisten Vazha Tavberidze, der mehrfach am M100 Sanssouci Colloquium teilgenommen hat, mit ihm für den georgischen Dienst von Radio Free Europe (RFL/RL) über die Entwicklung der deutschen Russlandpolitik gesprochen und warum Berlin Wladimir Putin so falsch eingeschätzt hat (Interview im englischen Original).

RFE/RL: Beginnen wir mit einem historischen Rückblick und dieser bahnbrechenden Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Jahr 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Viele sehen diese Rede heute als eine de facto Wiederaufnahme des Kalten Krieges an. Glauben Sie das? Und wenn ja, warum wurde sie damals nicht so gesehen?

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Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine

24 Februar 2023.

“Unsere Liebe zum Leben und zur Freiheit ist stärker als ihr Hass.”
Wladimir Klitschko in seinem 3. Brief aus Kyiv, 13. Februar 2023

Heute jährt sich der völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Seit einem Jahr wehrt sich das ukrainische Volk gegen die massive, brutale, durch nichts zu rechtfertigende Invasion, die bereits zigtausende Opfer gekostet hat. Nach diesem Jahr voller Leid, Tod, Terror und Verwüstung haben wir einige unserer ukrainischen Alumni gebeten, uns persönliche Rückblicke auf dieses Kriegsjahr zu schicken, das ihr Leben und das ihrer Familien und Freunde am 24. Februar 2022 von Grund auf verändert hat.

Folgend finden Sie Texte der ukrainischen Journalistinnen und Journalisten Olesya Bida, Anastasiia Ivantsova, Olga Konsevych, Olena Kuk, Roman Melnyk, Olha Novikova, Anna Romandash und Oleya Tsytarenko.
Außerdem berichtet die slowakische Menschenrechtsjournalistin Sara Cincurova von ihren Reportageerlebnissen in der Ukraine und Sergej Sumlenny, ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kyiv, von seiner Hilfstour nach Isjum und Kyiv.

Olesya Bida: Als könnte jeder Tag der letzte sein

Olesya Bida war Redakteurin beim unabhängigen ukrainischen Medium hromadske.ua, das 2014 während der Maidan Revolution gegründet wurde. Sie war 2016 Teilnehmerin des M100YEJ.
Twitter: @OlesyaBida

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war fast 5 Uhr morgens, als ich seltsame und sehr laute Geräusche hörte. Jetzt, wo der Krieg schon fast ein Jahr andauert, ist es normal, dass man nicht vom Wecker, sondern von den Geräuschen des Raketenangriffs aufwacht.

In dieser Nacht war es anders, und ich konnte wirklich nicht begreifen, was geschehen war. In einer Minute schaltete mein Mann Dmytro ein Video mit Putins Rede ein. Wir haben verstanden, dass der Krieg in vollem Umfang begonnen hat.

Mein Mann rannte sofort los, um nachzusehen, ob unser Keller offen war. Er versuchte auch, etwas Bargeld aus dem Geldautomaten zu holen, aber es war sinnlos. Die Straßen waren voller Menschen, die ihre Taschen in die Autos packten und versuchten, die Stadt zu verlassen.

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Anastasiia Ivantsova: Kampf gegen russische Propaganda

Anastasiia Ivantsova ist Faktencheckerin bei VoxCheck, das zur unabhängigen analytischen Plattform VoxUkraine gehört. VoxCheck überprüft, ob Politiker korrekte Fakten und den richtigen Kontext verwenden, decken Lügen und Manipulationen auf und entlarven russische Propaganda, insbesondere die am häufigsten verbreiteten Fehlinformationen über den Krieg Russlands in der Ukraine. Sie hat 2016 am M100YEJ und 2022 am M100 Colloquium teilgenommen.
Twitter: @tsovkan

Dieses Jahr hat viel für uns verändert. Natürlich begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine bereits 2014. Aber diese Tragödie war für viele – auch für Ausländer – bis zum 24. Februar 2022 unsichtbar. Wir haben verstanden, was echte Angst um das eigene Leben bedeutet. Wenn zum Beispiel die Artillerie die eigene Stadt beschießt oder man das Pfeifen einer Rakete über dem eigenen Haus hört.

Das Einzige, was sich in diesem Jahr nicht geändert hat, ist die russische Propaganda, mit der wir genauso massiv bombardiert werden wie mit Raketen. Und als Organisation, die Fakten überprüft, musste sich unser Team nicht nur mit Drohungen gegen das eigene Leben, sondern auch mit Informationsbedrohungen auseinandersetzen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie das ganze Land in dieser Zeit lebte, aber ich werde Ihnen von meinen drei wichtigsten Erinnerungen an diesen Krieg als Kiyverin und Faktenprüferin erzählen.

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Olha Konsevych: Ich glaube an die Zukunft

Olha Konsevych war Chefredakteurin der ukrainischen Newsplatform Channel 24. 2014 hat sie erstmals am M100YEJ teilgenommen und ist seitdem regelmäßige Teilnehmerin des M100 Colloquiums. Seit 2019 ist sie Teil des German Marshall Fund of the United States und seines innovativen Transatlantic Inclusion Leaders Network (TILN). 2021 wurde sie als erste Ukrainerin in die VVEngage-Kohorte der Vital Voices Global Partnership aufgenommen. Zurzeit arbeitet sie u.a. für den Tagesspiegel.
Twitter: @Liza22Frank

Die Ukraine befindet sich derzeit in der schwierigsten Phase ihrer Geschichte. Journalisten werden von den Raketen des Kremls und russischen Soldaten getötet. Viele meiner Kollegen arbeiten von Kellern und Unterkünften aus, solange es noch Strom und Mobilfunknetze gibt. Ich war persönlich an der Grenze zu Polen und Moldawien und habe Kiyv besucht. Aber ich habe keine Angst in den Augen meiner Kollegen gesehen.

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Olena Kuk: Wir haben uns daran gewöhnt, in Kriegszeiten zu leben

Olena Kuk ist Redakteurin der öffentlichen Rundfunkanstalt der Ukraine. Zuvor war sie Fernsehredakteurin bei der inzwischen geschlossenen News Group Ukraine. Davor arbeitete sie als Auslandsnachrichten-Redakteurin und Sonderkorrespondentin des nationalen Fernsehsenders „Ukraine“/“Ukraine24“. In dieser Funktion wurde sie nach der Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine Teil des nationalen ukrainischen Nachrichten-Telethons „United News“. In diesem Projekt haben sich sieben der größten ukrainischen Fernsehsender zusammengeschlossen, um seit dem 24. Februar 2022 rund um die Uhr Nachrichten zu senden. Sie hat 2022 am M100YEJ teilgenommen.
Twitter: @KukOlena

Normalerweise beginnt mein Tag mit dem Klingeln des Weckers, aber heute, wie so oft in diesem Jahr, wurde er durch die Sirene des Luftalarms verstärkt. Manchmal ertönten diese Geräusche in einer anderen Reihenfolge, was mich spät in der Nacht aufwecken könnte, weil Russland nachts einen Massenangriff auf uns Ukrainer vorbereitet. Das macht mich wirklich wütend, hauptsächlich wegen des Schlafmangels, nicht wegen der Gefahr. Es klingt schrecklich, aber wir haben uns daran gewöhnt, in diesem Jahr des umfassenden russischen Krieges gegen die Ukraine mit einem ständigen Gefühl der Gefahr zu leben.

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Roman Melnyk: Gegen Fake News, Korruption und Machmissbrauch

Roman Melnyk ist Bürgeraktivist, Politikwissenschaftler, Data-Journalist und u.a. Ko-Gründer der ukrainischen NGO Wikipatrol. Er konnte seine Familie, die aus Kyiv und Russland stammt, in die EU in Sicherheit bringen. Er hat 2014 am M100YEJ teilgenommen.
Twitter: @Rom_Melnyk

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich mein Leben verändert. Davor war ich in der Beratung tätig und unterstützte ukrainische Politiker und internationale Unternehmen. Außerdem gründete ich eine Bürgerinitiative namens „Wikipatrol“, deren Ziel es ist, russische Propaganda und russische neoimperiale Narrative auf Wikipedia zu bekämpfen. Dank meiner Erfahrung als Redakteur und meiner jahrelangen Arbeit in der Öffentlichkeit habe ich im Jahr 2020 zusammen mit meinen Freunden ein Freiwilligenteam gegründet, das Artikel über die Ukraine in verschiedenen Sprachen auf Wikipedia verfasst und Manipulationen und Ungenauigkeiten aufdeckt und korrigiert.

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Olha Novikova: Der Krieg, rückwärts gesehen

Olha Novikova stammt aus Dnipro, wo sie für eine große ukrainische Zeitung gearbeitet hat. 2015 war sie Teilnehmerin des M100YEJ. Heute lebt sie in München und arbeitet als SAP Security Consultant bei einem großen Unternehmen.

Januar 2023. Für einige Sekunden höre ich auf zu existieren, als ich den Namen meiner Heimatstadt lese. Ein neunstöckiger Wohnblock wird von einer russischen Rakete getroffen. Wir haben noch keine Luftabwehr für diesen Raketentyp. Anstelle der neun Stockwerke sehe ich ein großes Loch und einen Haufen Schutt. Ich bin wie versteinert. Es sieht aus wie jedes andere Haus in meiner Nachbarschaft. Diese typischen Gebäude aus der Sowjetzeit, Sie wissen schon. Wir sind im Osten, in der Nähe der Frontlinie: Tag und Nacht gibt es stundenlang Fliegeralarm, ständige Stromausfälle machen es unmöglich, Aufzüge zu benutzen, oft schlagen Raketen ein, bevor die Sirene losgeht, niemand versteckt sich mehr im Luftschutzkeller. Unter den Trümmern müssen Menschen liegen: Kinder, ganze Familien. Ich lese den Namen der Straße und atme aus: NOT MINE.

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Anna Romandash: Ich hoffe, dass Emphatie kein Verfallsdatum hat

Anna Romandash ist eine preisgekrönte Journalistin, die u.a. für CNN, Radio Free Europe, Open Government Partnership, Freedom House und der Deutschen Welle arbeitet. Normalerweise arbeitet sie als Reporterin und Expertin für digitale Politik mit Schwerpunkt auf nachhaltiger Medienentwicklung, Menschenrechten und dem Zugang zu Informationen.Jetzt berichtet sie über den Krieg. Sie hat 2015 am M100YEJ teilgenommen.
Twitter: @annaromandash

Ich bin gespannt, was der Jahrestag bringt. Der Krieg begann jedoch schon vor sehr langer Zeit. Es gab einen Krieg im Donbas und die Annexion der Krim seit 2014. Es gab eine hybride Kriegsführung und Propagandakampagnen. Es gab Geschichtsmanipulationen und eine Normalisierung des russischen Imperialismus, eine beleidigende Sprache gegenüber der Ukraine und den Ukrainern und Versuche, den Staat von innen heraus zu spalten.

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Olesia Tytarenko: Angst, dass meine Kontakte eines Tages nicht mehr online sind

Olesia Tytarenko ist stellvertretende Chefredakteurin der Nachrichten bei der Nationalen öffentlichen Rundfunkanstalt der Ukraine (Suspilne) und ehemalige Sonderkorrespondentin von Radio France Internationale in Kiew. Sie hat 2017 am M100YEJ und 2022 am M100Colloquium teilgenommen.
Twitter: @OlesiaTytarenko

Dieser Krieg ist online. Seit dem 24. Februar habe ich eine Menge über Raketen, Drohnen und Stromausfälle gelernt. Die High Society der Patriots, Leopards und F-16 ersetzte die zuvor gewünschte Welt der Eighth Avenue, des Quai d’Orsay und von Boston, MA. In diesen 12 Monaten habe ich den Journalismus wiederentdeckt, mich an das System der Eilmeldungen gewöhnt und meine eigenen Kriegserfahrungen verarbeitet. Ich bin in meiner Heimat geblieben und viel im Land herumgereist. Als hätte ich Angst, die Felder, die grenzenlose Steppe, das abfallende Ufer des Dnjepr nie wieder zu sehen. Wie nie zuvor genoss ich die Familienwochenenden, das Begrüßungsessen meiner Mutter, das Kichern meines Bruders und das „Bis bald“ meines Vaters, als ich den Zug zurück nach Kiew bestieg. Als ob…

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