Laudatio Marek Prawda

In diesem Jubiläumsjahr wird die deutsche Nachkriegsgeschichte in zahlreichen Publikationen oft mit berühmten oder aussagekräftigen Bildern dargestellt. So stieß ich auf ein Foto von 1982 mit drei Politikern in der Regierungsbank des Bundestages. Die Unterschrift lautet: „1982: Nach der mehrstündigen Debatte über die Polen-Politik Innenminister Gerhart Baum, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Schmidt geschafft in der Regierungsbank“. Besonders „geschafft“ (müde) scheint der Bundesaußenminister zu sein.

Ich bin mit diesem Bild sehr zufrieden, weil es die These widerlegt, Polen sei für Deutschland nicht besonders wichtig. Denn niemand, der sich dieses Foto anschaut, kann behaupten, dass unsere Beziehungen zu den Unkompliziertesten auf der Welt gehören. Dennoch leben wir seit 1989 in einer Phase, in der gute Nachrichten für Polen ebenfalls gut für Deutschland sein sollten. Und umgekehrt. Diesen Zustand, für manche ein historisches Wunder, nannten unsere damaligen Außenminister, Krzysztof Skubiszewski und Hans-Dietrich Genscher, eine „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“. Es ist für mich eine Ehre und ein Geschenk, heute über den Architekten dieses Wunders aus polnischer Sicht sprechen zu dürfen.

Im Juni 1989, nach den ersten halbwegs freien Wahlen in der Region, wurde uns in Warschau klar, dass es ohne Deutschlands Vereinigung kein souveränes Polen geben kann. Und die Deutschen verstanden, dass die polnische Unterstützung den Weg zur Wiedervereinigung weitgehend erleichtern kann. Bereits Ende Juni sprachen viele „Solidarność“- Politiker offen darüber, allen voran Bronisław Geremek. Diese These war in „Solidarność“-Kreisen zwar nicht unumstritten, aber eigentlich schon seit Jahren sehr präsent. Ich erinnere mich an eine internationale Tagung in Warschau, auf der Geremek für seinen Vorstoß von allen Seiten kritisiert wurde. Die noch regierenden Kommunisten bezeichneten seine Position zur Wiedervereinigung des westlichen Nachbarn als „unverantwortlich“. Die französischen und deutschen Journalisten waren höflicher und sprachen von einem für die Polen typischen Defizit an politischer Vernunft.

Bevor sich die „Unverantwortlichen aller Länder“ im Jahre 1989 vereinigen konnten, um die Welt zu verändern, bedurfte es mühsamer Arbeit – sowohl in der großen Politik als auch in den Gesellschaften. In beiden Fällen lässt sich die Zeitgeschichte nur dann glaubwürdig erzählen, wenn man die außerordentliche Rolle von Hans-Dietrich Genscher berücksichtigt. In der polnischen Erzählung wird vor allem betont, dass er sehr früh die Besonderheit der „Solidarność“ als einer sich selbst beschränkenden Revolution erkannte. Und dass der Bundesaußenminister sich als erster deutscher Spitzenpolitiker mit Lech Wałęsa traf. Dass er vorher, im Jahre 1984, seinen Polen-Besuch absagte, als ihm die kommunistischen Behörden eine Geste gegenüber der demokratischen Opposition verweigerten. Vor dem viel beachteten Treffen mit Wałęsa und seinen Beratern im Januar 1988 gab es enorme Schwierigkeiten, weil der Elektriker Wałęsa keinen unbezahlten Urlaub für nur einen Tag bekommen konnte. Es kam schließlich zu einer positiven Lösung, weil Genscher hartnäckig blieb. Für diese Hartnäckigkeit, für treue Freundschaft in Zeiten, als es uns nicht so gut ging, und vor allem für die frühe Anerkennung der Rolle der Bürgerbewegungen wurde Hans-Dietrich Genscher die „Solidarność“- Medaille verliehen. (…)

Mit Hans-Dietrich Genscher verbinden wir natürlich auch seine legendäre Ausgleichspolitik zwischen Ost und West sowie die Schlussakte von Helsinki. Für viele Bürger des östlichen Teils Europas brachte dies eine deutliche Erweiterung der zivilgesellschaftlichen Verbindungen mit dem Westen und neue Reisemöglichkeiten. Die demokratische Opposition konnte sich nunmehr auf den Korb von Helsinki berufen, mit dem die Menschenrechte in die internationalen Beziehungen eingeführt worden waren. (…)

Wenn uns Hans-Dietrich Genscher auf die Nähe zwischen den Völkern im Jahre 1989 aufmerksam macht, so sagt er damit, dass wir eine einmalige Chance haben, ein Wir–Gefühl neuer Art zu produzieren. Eine Gemeinschaft, die keine Gegengemeinschaften braucht und ohne Abgrenzungen von den „Anderen“ auskommt. (…)

Deshalb ist es schon von Bedeutung, in welchem Verständnis wir über 1989 sprechen, und wie wir dieser Ereignisse gedenken. Sind wir imstande, aus der national-heroischen Perspektive auszubrechen? Die Mauer ist ja nicht von alleine gefallen. Dem politischen Umbruch ging die faszinierende Geschichte der Oppositionsbewegungen in unserer gesamten Region voraus. Es ist auch eine Geschichte darüber, wie man eine autoritäre Macht ideologisch zu entwaffnen suchte. (…) Viele in der Region haben sich gegenseitig gestärkt und begonnen, ein Gemeinschaftsgefühl – das Herr Genscher mit Recht so oft und so nachdrücklich betont – zu entwickeln. Da waren doch auch die Demonstrierenden in Leipzig mit ihren Parolen „Wir sind das Volk! Keine Gewalt!“ Und genau das ist die Geschichte, die wir uns in diesem Jubiläumsjahr erzählen sollten. Wie sonst wollen wir „das Friedliche“ der friedlichen Revolution überhaupt erklären? Und wenn die friedliche Revolution Eingang in das europäische Gedächtnis findet, bekommen wir doch eine wichtige Grundlage für unsere gemeinsame, europäische Politik. Nicht nur Öl oder Gas besitzen die Eigenschaft, Menschen zusammen zu halten, sondern auch gemeinsame Werte. (…)

Für den heutigen Preisträger war 1989 „das europäischste Jahr des 20. Jahrhunderts“. Heute kommt es auf die globale Verantwortungspolitik an. Diese verlange – so Genscher – Rüstungskontrolle und Abrüstung, vor allem aber: „Abrüstung der Feindbilder, Absage an Überlegenheitsillusionen, an regionales oder politisches Besitzstandsdenken, Öffnung anstelle von Abgrenzung“. Das erinnert mich an den Journalisten Ryszard Kapuściński, der uns mit seinen literarischen Reportagen über entfernte Gesellschaften, vor allem islamische, genau das beibringen wollte: Man muss den anderen verstehen lernen, um sich selber zu verstehen. Sein gesamtes Werk gleicht dem geduldigen Aufstellen kultureller Spiegel der anderen. In diesen Spiegeln sollen wir uns selbst, ungeschminkt, betrachten.