Laudatio Dr. Paul Achleitner

üblicherweise gibt man zu solchen Anlässen einen Überblick über die Biographie der Person, die geehrt wird. Aber genau das werde ich heute Abend nicht tun. Wir alle kennen die herausragende Karriere Mario Draghis. (Ich habe jedoch einmal folgende einleitende Worte an Henry Kissinger gehört: „Niemand auf der Welt braucht eine Einleitung weniger als Henry Kissinger – aber niemand auf der Welt genießt seine eigene Einleitung mehr als Henry Kissinger“ – Mario ist jedoch noch nicht an diesem Punkt angelangt.) Stattdessen möchte ich Ihnen gern meine eigene Sichtweise auf Mario Draghi ans Herz legen.
Lassen Sie mich vielmehr mit einer Prophezeiung beginnen:
In Geschichtsbüchern wird es über ihn heißen: „Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit mit dem richtigen Job.“
Ja, in Geschichtsbüchern – denn wir leben in einer wahrhaft historischen Zeit. Eine Zeit, die als eine der wichtigsten Phasen in unserer politischen Entwicklung in die Geschichte eingehen und rückblickend als historisch gelten wird.

Der Mann, den wir heute Abend ehren, spielt in dieser entscheidenden Zeit eine entscheidende Rolle.

Lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten und schauen, wo wir heute stehen.
• Einige von Ihnen wissen, dass ich gern über die Welt in zwei verschiedenen Zeitaltern spreche: BC, bzw. „Before Crisis“ (das heißt die Zeit vor der Krise) und AD bzw. „After Deleveraging“  (das heißt die Zeit nach dem Schuldenabbau).
• Und dann gibt es auch noch die Gegenwart. Machen wir uns nichts vor, wir befinden uns noch nicht in der Zeit nach der Krise. Wir können bislang noch nicht von „AD“ sprechen, denn wir haben noch einen enormen Schuldenabbau vor uns.
• Aber wir sind jetzt in einem entscheidenden Stadium. Wir gestalten und definieren gerade diese Zeit nach der Krise. Entscheidungen, die wir jetzt treffen, haben Auswirkungen auf die nächsten Generationen, die Entwicklung Europas und Europas Platz in einer sich verändernden Welt. Die Taten und die Willensstärke von wenigen politischen Persönlichkeiten wie Mario Draghi oder Minister Schäuble werden von entscheidender Bedeutung sein, ebenso wie auch die Unterstützung von Ihnen, den Meinungsträgern, heute Abend.

„BC“ war eine Zeit akkomodativer Geldpolitik, billigen Kapitals (zu billig rückblickend betrachtet), außerordentlich freundlicher Märkte und wachsenden Wohlstands. In den zwei Jahrzehnten vor der Krise schienen Investitionen mit sehr geringem Risiko einherzugehen. 3

Wir wissen alle, wie es endete:
• Viele Amerikaner jagten dem amerikanischen Traum hinterher und blieben dann am Ende auf ihren Häusern sitzen, die sie sich nicht mehr leisten konnten
• Viele Investoren jagten schnellen Gewinnen hinterher und besaßen dann Produkte, deren Risiken sie nicht verstanden
• Viele Kleinanleger jagten den höchsten Zinsen hinterher und hatten schließlich Konten bei einer isländischen Bank.
• Einige Verantwortliche für die Finanzen von Unternehmen oder der öffentlichen Hand jagten dem schnellen Geschäft hinterher und waren am Ende einfach pleite.
• Einige europäische Regierungen jagten der sozialen Utopie hinterher oder beschritten einfach nur den leichten Weg und hatten schließlich unhaltbare Schulden ….
• und natürlich jagten viele Beschäftigte im Finanzsektor kurzfristigen Gewinnen für sich selbst hinterher und hatten letztendlich – kurzfristige Gewinne für sich selbst …

Und das Ergebnis? Die schlimmste Finanzkrise der Nachkriegszeit.
Aber etwas vergessen wir sehr gern – die „Before Crisis“-Ära brachte uns auch Vorteile:
• Einer davon war die Globalisierung. Der internationale Handel verdreifachte sich in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts. Die ausländischen Direktinvestitionen stiegen beträchtlich. Nach dem Wegfall der Handelsschranken und mit der Entstehung des freien Handels stieg der Wohlstand in den Entwicklungsländern. 1,25 Milliarden Menschen – ein Sechstel unseres Planeten – wurden aus der Armut geholt.

Wir müssen natürlich anerkennen, dass nicht jeder von der Globalisierung profitieren konnte. Doch insgesamt, so würde ich sagen, waren die Auswirkungen überwältigend positiv.
• Und die Zeit des Easy Credit und des Ready Investment halfen den osteuropäischen Volkswirtschaften nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder auf die Beine.
• Und nicht zu vergessen, der Wiederaufbau Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung konnte auch dank des Zugangs zu internationalen Kapitalmärkten zu günstigen Konditionen finanziert werden.
• Was oft übersehen wird ist die entscheidende Rolle, welche die Kapitalmärkte und modernen Finanzinstrumente für Versicherungen und Rentenfonds im Zusammenhang mit der Altersvorsorge spielen.

Mit anderen Worten: stabile, expandierende Kapitalmärkte und wohlwollende Kreditbedingungen waren zugleich eine eigenmächtige Kraft. Sie verwandelten Ersparnisse in 4

Kapital, das Geschäfte zu günstigen Konditionen finanzierte, schneller als je zuvor – und in einem sehr viel größeren Maßstab, als die Bilanzen von Banken es jemals vermocht haben.
Und, meine Damen und Herren, wir müssen uns beide Seiten der „Before Crisis“- Ära ansehen, bevor wir Maßnahmen ergreifen, die für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sind. Denn in der Tat lehrt uns die Geschichte, dass es zwei unterschiedliche Arten von Finanzkrisen gibt:
• Wir haben Krisen gesehen, die nur Verluste, Not, Elend und Wut mit sich brachten. Beispielsweise die Tulpenmanie in Holland; der Louisiana Land Boom; die Südseeblase;
• Aber es gab auch andere Krisen. Krisen, in denen es zwar zu Verlusten für die Investoren und zu persönlichem Leid kam, die aber zugleich auch sehr wichtige, positive Vermächtnisse hinterließen. Der Crash auf dem Markt amerikanischer Eisenbahnaktien traf seine Investoren hart, hatte aber einen Ausbau im Transportwesen zur Folge, wodurch ein sehr großer Kontinent wichtige Infrastruktur erhielt. Der Internetboom, oder die „Dotcom-Blase“, hat auch zu enormen Verlusten bei den Investoren geführt, aber heute haben wir fast eine Milliarde Kilometer Kabel, die die Welt auf nie da gewesene Weise miteinander verbinden, und die die Welt, in der wir leben, revolutioniert haben.

Wenn wir Reformen durchsetzen, müssen wir uns vorher darauf festlegen, welche der beiden Arten von Krise wir hinter uns haben. Man kann nicht den „richtigen“ Reformweg einschlagen, wenn man nicht wirklich die zugrunde liegende Krise verstanden hat:
Wenn wir nach der Kreditkrise aufräumen, besteht die Gefahr, dass wir das Kind mit dem (zugegebenermaßen schmutzigen) Bade auszuschütten.

Lassen Sie mich Ihnen zwei einfache Beispiele für diese Denkensart zeigen:
• Erstens: eine rückwärtsgewandte Einstellung, bei der es um den Zerfall in Nationalstaaten geht. In einigen europäischen Ländern gibt es Wahlkreise, in denen die Wähler entweder den Schritt zur europäischen Integration rückgängig machen möchten oder bewusst das Risiko in Kauf nehmen, dass dies durch Zufall geschieht;

Zweitens: die Tendenz, das Pendel zu sehr in entgegen gesetzter Richtung zu ziehen. Wenn wir die Funktionsfähigkeit der Banken und Kapitalmärkte übermäßig begrenzen, unterminieren wir die Fähigkeit, Kapital für Geschäftszwecke zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellen zu können –mit anderen Worten, wir drehen ihnen den „Sauerstoff“ ab, den sie zur Genesung benötigen! “Too big to fail” hört sich überzeugend an, erfüllt jedoch nur seinen Sinn, wenn jemand zuverlässig definiert, was es bedeutet 5
“small enough to fail” – die IKB, die Northern Rock und kleinere Banken waren es offensichtlich nicht …

Ich weiß, ich weiß – meine Worte sind nicht unbedingt sehr populär, zumindest hören sie sich von einem Banker der Deutschen Bank, der vorher bei der Allianz und Goldman Sachs tätig war, ziemlich defensiv an. Doch nur, weil es gegen den Zeitgeist ist, ist es nicht unbedingt falsch.
Und das ist es, was die Aufgaben Mario Draghis – und natürlich weiterer wichtiger Entscheidungsträger wie Minister Schäuble – so außerordentlich schwierig macht.
Neben der Tatsache, dass es keine etablierten institutionellen Richtlinien für das Management dieser Umgestaltung gibt, dauert die Krise an, gegen den Einfluss der drei fundamentalen Trends, die ich bereits erwähnt habe:

• Erstens: die Neuausrichtung der weltweiten Wirtschaft mit dem Aufstieg Asiens – darüber ist bereits genug gesagt, außer dass dies weiterhin natürlich massiv zusätzlichen Kapitalbedarf mit sich bringt.

• Zweitens: Schuldenabbau – anders gesagt, die Reduzierung exzessiver Schuldenfinanzierung, was entscheidend ist, aber natürlich zugleich die Versorgung mit Kapital verringert. Die beiden zusammen bedeuten ganz einfach, dass die Kosten für Kapital in der AD-Ära ansteigen werden – ohne Rücksicht auf laufende kurzfristige Finanzierungskosten.

• Und drittens: der Zeitgeist – nennen wir es einfach das vorherrschende Gefühl in der Öffentlichkeit, welches in der Zeit nach der Blase so restriktiv sein kann wie es vor der Krise offensiv war. Heute spricht sich der Zeitgeist gegen Mäßigung und innovative Lösungen aus – er fordert Vergeltung und Orthodoxie –, und wo keine „Orthodoxie“ existiert, fordert er allzu simple Lösungen, wie der Rückgriff auf das Glass-Stegall Act aus den 30er Jahren…

Manchmal, so scheint es, vergessen die Menschen, dass zur erfolgreichen Bewältigung von Umweltproblemen härtere Regeln, erhöhtes Bewusstsein und verändertes Verhalten nötig waren – und nicht eine Zurücknahme der Industriellen Revolution…
Alles das ist sehr verständlich, vor allem in Anbetracht der derzeitigen Lage sowie des wahrgenommenen Fehlverhaltens derer, die als unfaire Nutznießer der vergangenen Schwemme gelten – ob es sich nun um die Einwohner Griechenlands oder Londons handelt.

Aber ist nicht dies die entscheidende Frage: Verstehen sie es oder verstehen sie es nicht? Verstehen sie – die Einwohner Griechenlands oder Londons –, dass die AD-Ära fundamental anders sein wird als die BC-Ära?
Wenn es ihnen klar ist – wirklich klar ist –, dann brauchen sie Zeit – wir alle brauchen Zeit –, um das ganze Chaos aufzuräumen. Man kann nicht 30 Jahre Fehlleitungen von Kapital in drei Jahren ungeschehen machen.

Die Prinzipien sind dieselben wie bei der Umstrukturierung eines Unternehmens: Wählen Sie ein vertrauenswürdiges Managementteam aus, verständigen Sie sich auf einen Plan zur Richtungsänderung, stellen Sie Kapital bereit, mit welchem das Management den Plan in die Tat umsetzen kann – und dann gilt: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle …
Doch wenn Sie kontrollieren – kontrollieren Sie korrekt und fair. Fehler und Misserfolge aus der BC-Ära gilt es jetzt auszumerzen, und deshalb wird die ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Engagierte Journalisten sollten sich aber nicht dazu verleiten lassen, falsche Schlüsse zu ziehen, wie beispielsweise „sie haben doch gar nichts gelernt“.
All das läuft auf eine überwältigende Schlussfolgerung hinaus: am Ruder der zweitwichtigsten Währung der Welt, im Zentrum des europäischen Finanzsystems ist es entscheidend, den richtigen Reformer zu haben! Einen, der den Zusammenhang versteht und die Courage besitzt, sich gegen den Zeitgeist zu behaupten.

Denn wir sollten uns keiner Illusion hingeben: Wenn Europa zerfallen sollte, können einzelne europäische Staaten allein der Wirtschaftsmacht der USA oder Chinas nichts entgegensetzen. Als Österreicher kann ich Ihnen sagen: Die Bedeutung des Nationalstaats wieder zu beleben, ist keinesfalls mehr möglich.
Eine stabile gemeinsame Währung, ein gut funktionierendes Bankensystem und Kapitalmärkte sind von entscheidender Bedeutung, wenn Europa seine Wettbewerbsfähigkeit, die für zukünftigen Wohlstand und Wachstum von zentraler Bedeutung ist, wieder erlangen soll.
Die Aufgabe, der die europäischen Staatsmänner und -frauen jetzt gegenüberstehen, ist weder leicht noch schnell noch billig. Die Reise wird hart sein. Unsere Politiker benötigen außergewöhnliche Intelligenz, Mut, Weitblick, Energie und Hartnäckigkeit. Und sie brauchen auch unsere Unterstützung.

Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem wir die Ordnung für die Zeit nach der Krise gestalten – die AD-Ära. Wir brauchen nicht bloß Reformer, sondern die richtigen Reformer – Reformer, die nicht nur auf die letzte Krise reagieren, sondern die die Bedürfnisse von Europa in der nächsten Phase unserer Geschichte antizipieren. Reformer, die pragmatisch, aber verantwortungsbewusst sind; die sich auf dringende Prioritäten konzentrieren, aber auch eine längerfristige Perspektive einnehmen; die erfahren sind, aber konventionelles Denken herausfordern. 7

Und genau das ist der Charakter des Mannes, den wir heute Abend hier ehren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen wie ich begonnen habe. Ich habe Ihnen nicht den Lebenslauf von Mario Draghi erzählt, … sondern ich habe Ihnen meine Sichtweise auf Mario Draghi dargelegt.

Jetzt übergebe ich an Luca di Montezemolo, der Mario bereits seit seiner Kindheit kennt – ich bin sicher, er weiß noch Dinge über ihn zu erzählen, die nicht in seinem Lebenslauf stehen….
Vielen Dank.

Paul_Achleitner