Hauptrede Robert Menasse

ZUKUNFTSMUSIK

Der Bürger liebt die Zukunft. Denn nur dort, im weiten Feld des Möglichen, kann und soll sich sein Erfolg erweisen. Er erkennt die Welt nicht an, so wie sie ist, sie soll reicher, schöner, sicherer, kühner, praktischer, glücklicher werden, sie soll alles Mögliche werden, aber just eben dies: alles Mögliche. Die Geschichte? Leid! Die Gegenwart? Defizite! Die Zukunft? Erlösung und Bestätigung! Das ist, zumindest historisch, bürgerliches Bewusstsein. Selbst das Unmögliche ist dem Bürger immer nur eine besondere Herausforderung seines Möglichkeitssinns gewesen, seiner Gier nach Überwindung beschränkter und begrenzter Wirklichkeit. Was ist passiert, dass heute, in den modernen bürgerlichen Gesellschaften in Europa, selbst das Mögliche und das eindeutig Notwendige als unmöglich angesehen werden? Warum verharrt Europa heute in einer Blockade in Hinblick auf eine vernünftige Weiterentwicklung der Union, eine Blockade, die Krisen produziert, die Mehrzahl der Menschen frustriert, und die dabei so enorme Kosten produziert, dass der Versuch, diese Kosten zu bedienen, nur wieder die Krise verschärft und die Blockade verstärkt?

Bevor ich mich auf diese völlig blockierte Debatte über die europäische Krise einlasse, will ich einen einfachen Sachverhalt in Erinnerung rufen: Die Fortschritte in Freiheit und wachsendem Wohlstand waren nur möglich durch die Befreiung der Wissenschaft und die Befreiung der Kunst. Die Befreiung der Forschung von religiösen Fesseln und gesellschaftlichen Tabus ermöglichte das Verständnis der Naturkräfte, das alle Lebensbereiche revolutionieren und Entwicklungen auslösen konnte, die das bis dahin Unmögliche nach und nach möglich machten, von der Dampfmaschine bis zur Raumfahrt, die Leistungen der Medizin, die Beschleunigung der Kommunikation und so weiter. Dazu wird jeder nicken (und keine Antwort haben, wenn man nun die Frage stellt, warum denn heute, in einer zweifellos bürgerlichen Gesellschaft, die freie akademische Forschung politisch behindert, budgetär ausgehungert und ökonomisch in neue Abhängigkeiten gezwungen wird). Aber auch die Kunst – und dazu wird wohl nicht mehr jeder automatisch nicken – hatte maßgeblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte der bürgerlichen Welt: durch die Befreiung der Künstler aus den Abhängigkeiten von kirchlichen Auftraggebern und adeligem Mäzenatentum, durch die Entstehung eines freien Kunstmarktes, konnte die Kunst erst ein wahres Bild der Menschennatur produzieren, den Menschen in seinem sozialen Zusammenhang begreiflich machen, und dadurch das Terrain ausleuchten, das der Bürger als sein ureigenes betreten und verstehen wollte. Es war die Kunst, die das Bewusstsein vom menschlichen Elend genau so wach hielt wie die hochfliegenden Sehnsüchte und Möglichkeiten des Menschen, die Realität mit all ihren Defiziten zeigte, dem Menschen Würde gab noch in seinem Scheitern, und damit die Perspektive eröffnete auf seine mögliche Größe und auf sein Gelingen. Als das Bürgertum die wirtschaftliche Macht errungen hatte und sich anschickte, nun auch die politische zu erobern, war ihm die Kunst eben deshalb eine unverzichtbare Antriebskraft: sie führte, frei von alten Ideologien und Abhängigkeiten, die Ideale und Bedürfnisse der Bürger als zutiefst menschliche vor, von universaler Gültigkeit. Nur deshalb wurde es dann auch selbstverständlich, dass demokratische Gesellschaften die Förderung von Kunst und die Sicherung und Verbesserung der Rahmenbedingungen der Kunstproduktion als politische Aufgabe wahrnahmen.

Was ist davon geblieben? Wenig. Gesellschaftlich wurde Kunst als Hochkultur zu einem Ghetto des Spektakels, das nicht mehr die Neugier des Bürgers, sondern nur noch seine Allüren befriedigt, ökonomisch wurde Kunst zur Aktie und zum Vorwand für Umwegrentabilität, auf der anderen Seite zum Sozialfall, und politisch zu einem ungeliebten, schlecht dotierten Ressort.

Das ist geschichtsvergessen und zukunftsblind, und das ist, wenn wir unsere Zeitgenossenschaft reflektieren, ein wesentlicher und zugleich völlig ignorierter Aspekt dessen, was wir heute „die Krise“ nennen.

Krise, wohin man blickt! Finanz-, Haushalts-, Banken-, Wirtschafts-, Wachstums-, Standort-, Euro-, EU-Krise – so viele Krisen, und doch ist alles eins: eine Krise ohne Licht am Ende des Tunnelblicks der Ökonomie. Dieser Blick ist verheerend, denn er ist blind gegenüber der Notwendigkeit, die eigene Zeitgenossenschaft zu verstehen und die Zukunft innovativ, demokratisch und  sozial stabil zu gestalten, im Geiste eines Universalismus, wie ihn wesentlich die freie Forschung und die freie Kunst in die Gesellschaft einbringen. Aber wenn heute Wege aus der Krise gesucht werden, verengt sich sofort der Blick, schon wimmelt es von Wirtschaftsexperten, die mit ihren Ratschlägen, ignorant gegenüber den realen Erfahrungen und Bedürfnissen der Menschen, die Krise nur verschärfen. Dies ist nicht zuletzt auch eine Folge der politischen Verwahrlosung der Universitäten, die, schlecht ausgestattet und nur dem Schein nach autonom, keine Chance haben, im 21. Jahrhundert anzukommen. Sie bilden wie im 19. Jahrhundert immer noch Nationalökonomen und Betriebswirte aus, die dann als politische Berater auftreten – ungeachtet der Tatsache, dass es Nationalökonomie gar nicht mehr gibt, denn Nationalökonomie ist ein Gegenstand, der in Europa heute kein Substrat mehr in der Wirklichkeit hat: Europa ist seit sechzig Jahren in eine nachnationale Entwicklung eingetreten, Wertschöpfung funktioniert transnational, die Finanzströme kennen keine nationalen Grenzen mehr, die Ökologie, die nicht nur ein Problem, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor wurde, ist nationalökonomisch weder zu begreifen, geschweige denn zu managen, und so weiter. Ein Nationalökonom als wirtschaftspolitischer Berater ist daher heute so absurd wie ein Pferdeflüsterer als Berater der Automobilindustrie. Und dann die Betriebswirte! Ein Staat ist kein „Betrieb“, so wenig wie ich „Kunde“ des Staates oder von staatlichen Institutionen bin, ich bin zum Beispiel auch kein „Kunde“ der Polizei! Ich bin Staats- und Europabürger, und es ist eines der größten Rätsel in der Analyse des heutigen bürgerlichen Bewusstseins, dass Menschen allen Ernstes ihre Staatsbürgerrechte nach den Kriterien des Konsumentenschutzes definieren. Aber wenn schon ein Staat kein „Betrieb“ ist, dann ist ein Staat, der in einen nachnationalen Prozess eingetreten ist, schon gar nicht wie ein „Betrieb“ zu führen (und es wäre eindeutig an den Haaren herbeigezogen, die Union als „Kartell“ zu bezeichnen).  Deswegen ist der ökonomisch fokussierte Blick auf die gegenwärtige Krise so verheerend: er bestätigt jene, die sich von der europäischen Idee abwenden, weil sich die EU „bloß“ als ein reines Wirtschaftsprojekt im Interesse der Banken und Konzerne erweise, und die nun die Symptome der Krise als Beweis dafür anführen, dass dieses Projekt, das die Gestaltungsmöglichkeiten einer souveränen Nationalökonomie aushebelt, nie und nimmer funktionieren kann. Die Fixierung der Krisenanalyse auf die Ökonomie ist verheerend, weil sie das klassische globale bürgerliche Zukunftsdenken reduziert auf das Betteln um nationale  Konjunkturförderungsprogramme, sie ist verheerend, weil sie Lebensorte nur noch als „Standorte“ sieht und deren „Qualität“ nach den Möglichkeiten von Lohn-, Sozial- und Steuerdumping bemisst.

Die Wahrheit, auch wenn sie vergessen wurde, ist: Die Europäische Union war nie in erster Linie ein wirtschaftspolitisches Projekt, der Prozess der Vereinigung Europas wurde nicht aus ökonomischen Gründen oder gar Zwängen begonnen, und es war nie im Interesse „der Wirtschaft“, diesen Prozess weiter zu treiben. Weder Real- noch Finanzwirtschaft haben je Druck dahingehend ausgeübt, die Vergemeinschaftung konsequent auszubauen. Im Gegenteil. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wie die wirtschaftliche Situation in Europa zur Zeit der Gründung der Montanunion war, aus der dann die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union hervorgingen. Europa befand sich damals noch in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Krieg, die Auftragsbücher der Unternehmen waren gut gefüllt, die Binnenmärkte der europäischen Staaten waren nach den Jahren des Mangels nicht gesättigt, und ein beträchtlicher Teil des exorbitanten Wirtschaftswachstums und des Aufschwungs verdankte sich großen Staatsaufträgen, zum Wiederaufbau und Ausbau der nationalstaatlichen Infrastrukturen. Es war die Wirtschaftspolitik des souveränen Nationalstaats, die daher im Fokus der Interessen vor allem der größeren Unternehmen lag, und nicht die Utopie eines vereinten Europas. Wenn man heute die Diskussionen nachliest, die der Gründung der Montanunion vorangingen, dann muss man Analphabet sein, um all die Einwände der Wirtschaftsvertreter zu übersehen, die sie gegen die Preisgabe nationaler Souveränität in wirtschaftspolitisch so wichtigen Bereichen wie Kohle und Stahl geltend machten. Bedingungen für eine transnationale Wertschöpfung in Europa herzustellen,  war also weder im Interesse der damals machtvollen großen Unternehmen, sie sahen dies noch nicht einmal als Chance für die Zukunft. Und heute? Zeigt sich heute nicht in aller Deutlichkeit, dass die EU schließlich doch bloß das Europa der Konzerne geworden sei? Wieder falsch. Auch heute haben die Konzerne nicht das geringste Interesse an einer konsequenten Weiterentwicklung und politischen Vertiefung der Union, etwa an einer höchst notwendigen Vergemeinschaftung der Finanz- und Wirtschaftspolitik: denn so lange in wirtschaftspolitisch relevanten Bereichen, etwa der Fiskalpolitik, die Nationalstaaten ihre Souveränität verteidigen, solange sind die Staaten von den Konzernen erpressbar. Sie, die Konzerne, können Steuern und Abgaben drücken, die Liberalisierung des Arbeitsrechts erzwingen und so weiter, alleine durch die  stete Drohung von Abwanderung in einen anderen Staat, der sich beeilt bessere Bedingungen zu gewähren – ohne den riesigen europäischen Binnenmarkt verlassen zu müssen. Europa als Ganzes aber wäre in diesem Maße nicht mehr erpressbar. Gleiche Spielregeln für alle auf dem ganzen Kontinent brächten den Konzernen also keinen Vorteil. Deshalb ist nicht die EU ein Produkt der Konzerne, vielmehr ist die Blockade in der Weiterentwicklung der EU ein Produkt der Konzerne – soweit man das überhaupt generalisieren kann.

Tatsächlich geht es bei der EU um etwas ganz anderes, als um die unmittelbare Befriedigung der Interessen von Konzernen, deren Weitblick nicht weiter reicht als bis zum nächsten Quartalsergebnis. Die Europäische Union ist zunächst und wesentlich ein kulturpolitisches Projekt. Am Anfang stand eine Idee, die, wie gesagt, nicht von Kapitalvertwertungsinteressen abgeleitet werden konnte. Eine Idee, deren Umsetzung es ermöglichen sollte, auf diesem Kontinent, der immer wieder von Kriegen verwüstet wurde, endlich nachhaltigen Frieden zu schaffen. Die Gründergeneration des Europäischen Einigungsprojekts hatte in einer Lebenszeit vier Kriege erlebt. Alle Kriege der Moderne in Europa waren Produkte des Nationalismus, waren nationale Einigungs- und Eroberungskriege, Folge der Konkurrenz und der ideologisch genährten Feindschaft zwischen den Nationen. Der Nationalismus hat zu den größten Menschheitsverbrechen der Geschichte geführt, zu Kriegen, in denen die Zivilbevölkerung nicht mehr verschont wird, bis hin zu Genozidversuchen, zu Auschwitz. Nur eine Überwindung des Nationalismus kann nachhaltig Frieden schaffen,  kann ein Leben in Würde auf der Basis der universalen Menschenrechte auf Dauer gewährleisten. Und wie kann man das bewerkstelligen? Die Idee war genial: Indem man die Nationen dazu bringt, nach und nach nationale Souveränitätsrechte an supranationale Institutionen abzugeben, bis die Nationen irgendwann in der Zukunft, aller politischen Gestaltungsmöglichkeiten verlustig, absterben. Diese Idee ist kühn, aber man kann sie heute nicht mehr als „Utopie“ bezeichnen und damit abtun, denn eine Utopie ist durch Nirgendwo und Nie definiert, die Europäische Idee aber entwickelt sich konkret und real seit über sechzig Jahren hier, in Europa, und hat schon verblüffend weit getragen. Nun ist eine Idee, die von historischen Erfahrungen eine neue Definition der Identität und der gesellschaftlichen Zugehörigkeit der Menschen ableitet und eine neue Form des Zusammenlebens entwickelt, zunächst ein kulturelles Phänomen, und in dem Maß, wie sie die politische Kultur und Praxis zu verändern versucht, ein kulturpolitisches Projekt. „Die Wirtschaft“ sollte durch entsprechende Wirtschaftspolitik Mittel zum Zweck sein und der Idee dienen – und dabei profitieren können. Das Angebot war: sie bekommt durch Binnenmarkt, Kapitalfreizügigkeit, Gemeinschaftswährung etc. Wachstumschancen, und bewirkt dabei durch ihre internationale Verflechtung, dass keine Nation mehr aus nationalem Egoismus Entscheidungen gegen andere treffen kann, ohne sich selbst dabei ökonomisch zu schaden. Nur so weit sollten die Interessen der Wirtschaft bedient werden, und nur soweit lernte die Wirtschaft im Prozess der Einigung Europas eigene Interessen zu definieren. Die Grundidee Europas, das Friedensprojekt, war ihr aber – salopp gesagt – egal. Volkswirtschaften sind im Gesamten gegenüber der Frage Krieg oder Frieden weitgehend neutral. Gibt es Krieg, gibt es eben Kriegswirtschaft. Dann muss man nicht mühsam Löhne drücken, dann verfügt man über Zwangsarbeiter. Und ist der Krieg vorbei, dann gibt es wieder enorme Wachstumsraten, begleitet von schönen Sonntagsreden. Ich glaube jedem Wirtschaftskapitän, Manager, CEO, wenn er sagt, dass diese Sehweise ein Skandal sei, ein Unsinn, er selbst, ein liebender Familienvater, verabscheue den Krieg und wünsche sich ewigen Frieden. Aber wir reden hier nicht von redlichen individuellen Befindlichkeiten, sondern von Systemlogik. Und wie gleichgültig Wirtschaftsinteressen gegenüber einer Idee wie dem europäischen Friedensprojekt sind, sah man jetzt am Beispiel der so genannten „griechischen Haushaltskrise“: zunächst gelang der deutschen Waffenindustrie das Kunststück, ein Nato-Mitglied, nämlich Griechenland, gegen ein anderes Nato-Mitglied, nämlich die Türkei, massiv mit militärischen Geräten und U-Booten aufzurüsten, man kann auch sagen: ein EU-Mitglied gegen einen EU-Beitrittskandidaten, was eine unglaublich zynische Verballhornung der europäischen Idee darstellt – um dann auch noch aggressive nationalistische Ressentiments gegen Griechenland auszulösen: „Die Griechen! Da leben sie mit unseren U-Booten über ihre Verhältnisse, und dann haben sie auch noch Zahlungsschwierigkeiten!“

An diesem Beispiel sieht man auch, wie die Finanz- und Wirtschaftspolitik der europäischen Staaten systematisch die europäische Idee der Überwindung des Nationalismus und das Gemeinschaftsinteresse unterläuft: jedes auftretende Problem wird sofort renationalisiert, schuld ist nicht die Blockade der gemeinsamen Politik, sondern immer nur die Politik der jeweiligen Nation, in der Krisensymptome auftreten, diese Nation wird dann zu einer nationalen Kraftanstrengung in Form von nationaler Austerity-Politik gezwungen, wodurch aber die Systemfehler der Gemeinschaft nicht gelöst werden können, allerdings nationale Populationen in die Misere fallen. Diese Renationalisierung ist die Krise, der antieuropäische Backlash, betrieben von den Staats- und Regierungschefs der EU.

Ich bezweifle nicht die Logik und immanente Stimmigkeit der Argumente, mit denen sich nationale Wirtschaftspolitiker und nationale Wirtschaftsexperten gegen eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik stemmen, ich verstehe auch die Psychologie der nationalen Parlamente, die sich ihre wichtigste Kompetenz, die Entscheidungshoheit über Budget- und Fiskalpolitik, nicht nehmen lassen wollen. Aber wir wissen auch aus historischen Erfahrungen, dass selbst gut begründete Interessen sehr kurzsichtig und ihre Befriedigung letztlich extrem verhängnisvoll sein können, und wir wissen heute aus Erfahrung, dass diese nationalen Blockaden und die Renationalisierung der europäischen Gemeinschafts-Politik die Krise in Europa nicht nur nicht lösen können, sondern wie ein Perpetuum Mobile die Krise immer wieder aufs neue mit immer neuen Symptomen produzieren.

Gegen diese Kurzsichtigkeit hilft nur zweierlei, erstens: den Blick in die Zukunft unbeirrt und konsequent neu zu eröffnen, die Liebe des Citoyens zur Zukunft, seinem natürlichen Terrain, in dem er gestalten, gesellschaftlich und politisch partizipieren und sich verwirklichen will, neu zu entfachen. Nicht die Bilanz des nächsten Quartals ist entscheidend, sondern die unserer Lebenszeit: wird es uns gelingen, gemeinsame Rahmenbedingungen herzustellen, die nachhaltig Frieden, Rechtszustand, Lebenschancen für die größtmögliche Zahl auf unserem Kontinent garantieren, ein System, das nicht unausgesetzt in globaler Wirtschaftskonkurrenz hechelt, sondern zum Vorbild wird, dem die ganze Welt langfristig nacheifert? Und zweitens: eine Rückbesinnung auf die Grundidee des europäischen Einigungsprozesses, eine Rekonstruktion und konsequentere Umsetzung ihrer kulturpolitischen Dimension. Wenn schon eine Fiskalunion kurzfristig nicht möglich ist, wäre zunächst eine gemeinsame europäische Kulturpolitik die Möglichkeit, die Entscheidung zur notwendigen weiteren Vergemeinschaftung der europäischen Politik dort vorzubereiten, wo sie letztlich fallen muss: in den Köpfen und Herzen der Bürger. Eine kulturpolitische Offensive im weitesten Sinn: eine Bildungsoffensive, die die Bildungsinstitutionen aus der Misere nationaler Sparzwänge erlöst, eine Befreiung von Wissenschaft und Forschung aus der Zumutung, nur noch Misere zu verwalten, ein gesamteuropäisches Konzept zur Förderung und Vermittlung von Kunst aller Sparten, verstärkter Kulturaustausch, radikale Ausweitung von Erasmus- und Leonardo-Programm, aber auch Austausch von Journalisten, wie es hier beim Young European Journalists-Projekt in Potsdam geschieht – wir brauchen keine neuen europäischen Medien, wir brauchen Europäer in den Medien. Und wir brauchen Phantasie und Kreativität – dafür ist der diesjährige Preisträger des M100 Media Award, der Tänzer und Choreograph Erdem Gündüz, ein wunderbares Beispiel – , um friedlich den öffentlichen Raum zu erobern, den Anspruch auf politische Partizipation zu demonstrieren, und über nationale Grenzen hinauswirkende Diskussionen zu befördern, wie die neue gemeinsame Demokratie aussehen kann, die wir in Europa aufbauen müssen.

Europa ist in seiner Voraussetzung ein kulturpolitisches Projekt und muss daher in diesem politischen Feld gemeinsam engagierter und kreativer werden: Es ist Nationalismus in seiner schrulligsten Form, dass europäische Nationalstaaten, allen voran Deutschland, sich weigern, kulturpolitische Kompetenzen an die Europäische Kommission und das Europäische Parlament zu übertragen, und am allerschrulligsten ist die Begründung, nämlich dass Kulturpolitik in subsidiärer Entscheidungshoheit bleiben müsse. Genau diese würde eine gemeinsame europäische Kulturpolitik ja nicht unterbinden, das Subsidiaritätsprinzip ist im Lissabon-Vertrag festgeschrieben und ist der einzige Punkt, den niemand, der sich mit der europäischen Entwicklung beschäftigt, antasten möchte – im Gegenteil: dieses Prinzip muss konkretisiert und noch weiterentwickelt werden. Alle großen kulturellen Leistungen sind regional entstanden, aber klar ist auch, dass sie Bedeutung nur erlangen konnten, weil sie zugleich auch universal waren. Sie zur Unterfütterung von nationaler Identität und Nationalstolz auszustellen, ist Einschränkung ihrer Bedeutung und Missbrauch. Wenn es aber gelänge, die Vielfalt der künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen Europas als gemeinsamen Reichtum wahrzunehmen und zu vermehren, das kulturelle Erbe Europas nicht als Summe „nationaler Beiträge“ zu sehen, sondern als gemeinsames Erbe zu erwerben, um es zu besitzen,  wenn es also gelänge, kulturpolitisch die entsprechenden gemeinsamen Rahmenbedingungen herzustellen, dann entstünde eine gemeinsame, aus vielen Facetten zusammengesetzte Identität, die weder individuelle Interessen uniformiert, noch regionale Besonderheiten auslöscht. Was verlorenginge, wäre nichts anderes als die Fiktion von Nationalstolz, dieses eigentümliche Phänomen, just darauf am meisten stolz zu sein, wofür man nichts kann und nichts beigetragen hat, nämlich zufällig innerhalb der Grenzen eines bestimmten Territoriums zur Welt gekommen zu sein, Grenzen, die noch dazu in Europa heute nicht mehr existieren. Eine europäische Kulturpolitik, die den Nationalstolz zu Grabe trägt, wäre ein großer Schritt in Richtung Vollendung der Aufklärung, und sie führte zu einem europäischen Bewusstsein, dem dann die Blockaden durch nationale Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht standhielten. Ein kleiner Beitrag von 99 Cent pro Bürger pro Jahr wäre schon ein großer Schritt auf diesem Weg, zugleich der Kern, aus dem eine gesamteuropäische Fiskalpolitik und ein europäisches Budget erwachsen könnte. Die EU braucht für eine vernünftige und in ihrer Sinnhaftigkeit deutliche Politik der Verflechtung und Harmonisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa ein eigenes Budget, statt von den Mitgliedszahlungen der Nationen abhängig zu sein, die aggressiv um Rabatte feilschen, was wiederum nur nationalistische Ressentiments schürt.

Harmonisierung der Rahmenbedingungen für die Vielfalt der Lebenskulturen auf diesem Kontinent: das ist ein kulturpolitischer Anspruch, der in alle Politikfelder fortwirkt. Warum soll denn ein Mensch im Alentejo in völlig anderen Rahmenbedingungen sein Leben zu machen versuchen, als ein Mensch in Hessen oder in Tirol oder am Peloponnes? Haben all diese Menschen grundsätzlich so unterschiedliche Interessen und so verschiedene Erwartungen an das Leben? Warum soll ein Mensch an seinem Lebensort die Arbeit verlieren, weil ein Unternehmen den Standort wechselt, nachdem ihm innerhalb einer vorgeblich gemeinsamen Union woanders billigere Bedingungen geboten werden? Oder radikale Lohneinschnitte hinnehmen, um dem nationalem Budget zu ermöglichen, transnational agierende Banken zu retten? Entspricht das dem Bedürfnis der Menschen, in Würde und Anstand unter Voraussetzungen, die für alle gleichermaßen gelten, auf seine je eigene Weise Chancen wahrzunehmen und sein Glück zu suchen? Welche Chancen hat er denn, wenn er ein Opfer der Fiktion „nationaler Interessenspolitik“ oder erzwungener nationaler Austerity-Politik wird? Es ist ja just die oktroyierte nationale Austerity-Politik, die nicht die geringste Rücksicht auf je gewachsene Kulturen und Mentalitäten der Menschen nimmt, sie alle über den Läusekamm der Misere schert, und ihnen schon die Voraussetzungen raubt, sich als Teil einer vielfältigen und reichen Kultur zu erfahren, frei und selbstbewusst in ihr zu leben und sie weiterzuentwickeln.
Wer den Glauben an den schönen Sinn einer europäischen Kulturpolitik als blanken Idealismus abtut, sagt damit, dass Ideale keinen Wert haben – und soll jetzt erklären, warum dann der knallharte Pragmatismus so viele reale Werte zerstört hat!

Die Wirtschafts- und Fiskalunion wird kommen – wenn die Europäer begreifen, dass sie die Europäer sind. Die Bürger, die die europäische Kultur hervorbringen, werden dann auch ihr politisches Gemeinwesen neu zu organisieren wissen. So kann die Europäische Republik entstehen.

Zukunftsmusik? Ja! Ist es nicht die Zukunft, die wir wieder lernen sollten zu gestalten, statt zu fürchten? Und Musik – klar! Denn ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum!