Hauptrede Angela Merkel

[…] Ich bin der festen Überzeugung, dass die gemeinsamen europäischen Werte im globalen Dialog der Kulturen und Religionen nur dann auch mit Leidenschaft vertreten werden können, wenn wir ein Stück weit wieder erlernen, sie auch zu artikulieren.

Das ist ein spannender Beitrag der Medien zu einer ausstehenden Diskussion. Denn die Lebendigkeit der Geschichte lässt in unserer heutigen schnelllebigen Zeit an vielen Stellen zu wünschen übrig, zumindest ist sie nicht in dem Maße Gemeingut, wie dies aus meiner Sicht eigentlich richtig wäre.

Wenn wir über den Dialog der Kulturen sprechen, so muss dieser in Respekt und Toleranz anderen Kulturen gegenüber geführt werden. Aber wir kommen sehr schnell dazu, dass Toleranz nicht gegenüber allem gelten kann, sondern dass es nach unserer Auffassung – zumindest nach meiner – bestimmte Werte gibt, z. B. die Würde des einzelnen Menschen, die nicht verhandelbar sind. Das muss einem solchen Dialog sicherlich vorangestellt werden.

Die Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen, ist der Kristallisationspunkt unseres Selbstverständnisses, und sie ist im Übrigen auch die Grundlage dafür, dass wir so etwas wie Meinungs- und Pressefreiheit haben. Aus der Bindung an die Menschenwürde speist sich auch unser Bekenntnis zur Meinungs- und Pressefreiheit.

Die Verbreitung von Informationen und der Zugang zu allen Informationen sind ein wichtiger Schutz gegen die Unterdrückung oder Drangsalierung einzelner Menschen. Wenn ich den brandenburgischen Ministerpräsidenten sehe, vielleicht auch andere hier im Raum und mich, so haben wir in der früheren DDR 35 Jahre lang auch davon gelebt, dass sich Medien für das Leben von Menschen interessiert haben, die die Segnungen der Pressefreiheit aber nicht genießen konnten. Und wenn ich mir heute überlege, wie viele Menschen in Unterdrückung und Drangsalierung leben, so ist dies eine permanente Aufforderung an die Medien, diese Schicksale sichtbar werden zu lassen und uns vor Augen zu führen.

Gleichzeitig ist es in einer Demokratie wichtig, Informationen über Strukturen in die Öffentlichkeit zu bringen, die vielleicht die Tendenz zur Intransparenz haben, in denen Menschen selbstgerecht agieren, über ihre eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen hinaus. Das heißt: Die Transparenz, die durch die Medien in unsere Gesellschaft gebracht wird, ist sozusagen immer wieder auch ein Motor der Erneuerung demokratischer Strukturen.

Auf der anderen Seite ist das Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen Menschen auch etwas, was die Möglichkeiten der Medien begrenzt. Über diese Begrenzung muss gesprochen werden: Wo werden der Schutz und die Würde des einzelnen Menschen in Mitleidenschaft gezogen, wenn die Medien Anspruch auf alles haben? In diesem Sinne hat es gerade in den letzten Wochen, Monaten und sicherlich auch Jahren immer wieder Fragen gegeben. Wo sind die Medien gefordert? Wo sind ihre Grenzen aufgezeigt?

[…] Also sind wir gefragt, und die Medien sind auch gefragt. Ihnen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Ich würde mir wünschen, dass zwischen den Vertretern der Medien noch einmal sehr intensiv darüber diskutiert wird, wie man auf den so genannten Karikaturenstreit zurückblickt. Ich glaube, dass an diesem so genannten Karikaturenstreit manches von dem sichtbar wird, was als Spannungsverhältnis zwischen Freiheit der Medien, Pflicht zur Berichterstattung, auch mit der Möglichkeit der Überspitzung, und gleichzeitigem Respekt und Toleranz in Bezug auf andere Kulturen auf der Tagesordnung steht.

Die völlig neuen Möglichkeiten der Kommunikationstechnologien werden – das sage ich voraus – uns alle in der Europäischen Union und auf der Welt dazu bringen zu lernen, wie wir mit diesen Kommunikationstechnologien umgehen. Sie ermöglichen heute einen fast zeitgleichen Austausch über Zeitungen in Europa, im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt. Das heißt, das was bei uns geschrieben wird, ist auch in einem völlig anderen kulturellen Raum sofort verfügbar und erfährt dort eine völlig neue Rezeption.

Die Frage lautet: Ist es einfach mit der Pressefreiheit erklärbar, dass man sich nur auf sein lokales Publikum konzentriert und für dieses schreibt, aber die Wirkungen an anderer Stelle dieser Welt unter völlig anderen Rezeptionsmöglichkeiten außer Betracht lässt und sagt, „es geht mich nichts an, ich bin eine deutsche Zeitung, ich schreibe für Deutschland,“ oder muss diese Globalisierung der Informationen auch eine Reflexion in der Art und Weise unseres Ausdrucks haben?

Ich vermute, dass wir hier vor einem Lernprozess stehen. Als Politikerin maße ich mir nicht an, die Grenzen medialer Offenheit zu benennen, aber ich würde mir eine Diskussion zwischen den Medienvertretern an dieser Stelle wünschen und glaube zumindest, dass so, wie von den Politikern gefordert wird, dass sich diese nicht nur in der Geschichte und in der Kultur des Landes, das sie repräsentieren, auskennen, sondern auch Kenntnisse über andere Kulturen und Länder haben, auch Vertreter von Medien in zunehmendem Maße genau diese Kenntnisse haben müssen, um verantwortlich reagieren zu können. Das erfordert eine Weitung unserer Weltsicht im wörtlichen Sinne. […]

Ich will – das sage ich hier ausdrücklich – selbstbewusste Medien, die ihre öffentliche Rolle verantwortungsvoll ausüben, gerade in einer Demokratie. Und ich denke, angesichts all dieser neuen Herausforderungen ist es an der Zeit, auch einen Austausch zwischen europäischen Medien zu pflegen. Genau das tut M100, und daher bin ich sehr dankbar, dass es diese Initiative gibt. Denn nur so kann sich Europa auch eines gemeinsamen Wertefundaments vergewissern und sich in einer globalen Welt mit seinen Analysen und Beurteilungen behaupten. […]