Hans-Dietrich Genscher

Eröffnungsrede Hans-Dietrich Genscher

(Aus gesundheitlichen Gründen konnte der ehemalige Außenminister und Vizekanzler Genscher nicht an der Konferenz teilnehmen und sandte seine Rede als Videobotschaft.)

Meine Damen und Herren!

Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben, diese Konferenz an einem so geschichtsträchtigen Ort zu eröffnen.
Hier in Potsdam trafen sich – gerade zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs  – die Alliierten, um „die Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland nie wieder seine Nachbarn oder die Aufrechterhaltung des Weltfriedens bedrohe“, zu vereinbaren.
Vier Besatzungszonen wurden eingerichtet, Berlin wurde in vier Sektoren aufgeteilt.
Es wurden viele bedeutsame Änderungen der Grenzen festgelegt, wie Sie alle wissen, insbesondere in bezug auf Polen.
Die Gipfel der “Großen Drei” in Potsdam und zuvor in Jalta formten die Nachkriegswelt für die folgenden 45 Jahre bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Für Deutschland war der Kalte Krieg sozusagen mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 glücklich beendet, nachdem zuvor am 12. September 1990 in Moskau  der Zwei-plus-Vier-Vertrag geschlossen worden war.
Einige Wochen später wurde am 1. November die Charta von Paris durch die 34 beteiligten europäischen Staaten (mit Ausnahme Albaniens) sowie die Vereinigten Staaten und Kanada unterzeichnet.
Die Zeit von 1945 bis 1990 wurde weitgehend durch die Konfrontation der beiden sogenannten Supermächte, Vereinigte Staaten und Sowjetunion, geprägt.
Die beiden Alliierten wurden – fast sofort – Feinde, und der Kalte Krieg die Bühne für ideologischen Antagonismus und für ein extrem gefährliches Wettrüsten, auch mit Kernwaffen.
Deutschland war geteilt und unter Viermächteherrschaft.
Europa war ebenfalls geteilt: Der Ostblock war unter Sowjetherrschaft, und die Menschen in den Ländern Mittel- und Osteuropas waren die Opfer.
Die “Hoffnungen auf eine bessere Zukunft für die Welt”, wie sie in Roosevelts und Churchills  Atlantikcharta von 1941 versprochen worden waren, schienen zu schwinden.
Winston Churchill, bei den britischen Wahlen während der Potsdamer Konferenz abgewählt, drückte in seiner großen Rede in Fulton, Missouri, am 5. März 1946 am besten aus, was geschehen war: “Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria hat sich ein eiserner Vorhang über den Kontinent gesenkt.”
Im Juli/August 1945 forderten die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion und das Vereinigte Königreich auch von Japan die bedingungslose Kapitulation aller japanischen Streitkräfte und erklärten: “Die Alternative für Japan ist schnelle und vollständige Zerstörung.”
Wir wissen, was dann geschah:  Am 6. und 9. August 1945 warfen US-Flugzeuge Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ab und töteten damit sofort 200.000 Japaner.
Am 2. September 1945 unterzeichnete Japan die bedingungslose Kapitulation und beendete so den Zweiten Weltkrieg auch in Asien.
Einige gute Nachrichten – mit positiven Langzeitfolgen – brachte die Konferenz in San Franzisco von April bis Juni 1945.
50 Nationen kamen zusammen, um die Charta der Vereinten Nationen zu verfassen und zu unterzeichnen, die auf der ersten UNO-Vollversammlung am 24. Oktober in London noch 1945 ratifiziert wurde.
Meine Damen und Herren!.
Seit 1945 bedeutete die sehr, sehr allmähliche – friedliche – Auflösung des antagonistischen Gegensatzes zwischen den ideologischen und militärischen Blöcken in Europa ein extrem langsames, oft frustrierendes Vorgehen mit einer Reihe von entscheidenden Schritten:
– Erstens und vor allem, unter der inspirierenden Führung von Konrad Adenauer, die Erlangung der Souveränität (wenngleich noch beschränkt) im Jahr 1955 und die volle Einbindung des westdeutschen Staates in das atlantische Bündnis und die wachsende Europäische Gemeinschaft.
– Gestützt auf diese unerschütterlichen Bindungen führte die von Willy Brandt und Walter Scheel verfolgte aktive “Ostpolitik” zur Unterzeichnung der Verträge über die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und mit Polen 1970 sowie mit der Tschechoslowakei 1973, des Grundlagenvertrages mit der Deutschen Demokratischen Republik 1972 und des Viermächteabkommens über Berlin 1971.
Alle diese Verträge erkannten den Status quo an. Sie räumten bestehende fundamentale Differenzen ein, erarbeiteten aber praktische Maßnahmen für einen akzeptablen Modus vivendi, zum Nutzen der durch die Teilung Deutschlands so schmerzlich betroffenen Menschen.
Etwas wie die “Krönung” der spektakulären und kontroversen Folge von Verträgen war dann 1973 die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen, die die volle Akzeptierung der Deutschen in den internationalen Gemeinschaften markiert.
Der Erfolg der Ostpolitik ermöglichte den Beginn des KSZE-Prozesses.
Die am 1. August 1975 unterzeichnete Schlussakte von Helsinki brachte 35 Staaten zusammen: Alle europäischen Staaten mit Ausnahme Albaniens sowie die beiden nordamerikanischen Staaten waren vertreten.
Sie vereinbarten zehn Leitprinzipien für ihre Beziehungen und die Zusammenarbeit in allen Bereichen, darunter Handel, Kultur, Information, vertrauensbildende militärische Maßnahmen und, am wichtigsten für die Deutschen, menschliche Kontakte über die innerdeutschen Grenzen hinweg.
Für die Sowjetunion war aber die formale Anerkennung und Bestätigung der Nachkriegsordnung in Europa, des territorialen Status quo, am wichtigsten, das Bestehen auf der Unverletzlichkeit von Grenzen.
Wenige Monate nachdem ich Außenminister geworden war, hatte ich die Ehre, das relevante Prinzip I der Schlussakte von Helsinki zu verhandeln.
Mit der unentbehrlichen Unterstützung von Henry Kissinger gelang es uns, folgenden Satz in Prinzip I unterzubringen:
„ …ihre Grenzen können in Übereinstimmung mit internationalem Recht durch friedliche Mittel und durch Vertrag verändert werden“.
Außerdem enthält, dringlich gefordert durch nach Unabhängigkeit strebende Länder wie Jugoslawien und Rumänien und voll durch unsere Delegation unterstützt,  Prinzip I eine sehr kostbare Klausel, die Konferenzinsider als §Hamlet-Formel” bezeichneten:
Die Teilnehmenden Staaten haben „…das Recht, Teil von Bündnissen oder Allianzen zu sein oder nicht zu sein…“
Sowohl die Klausel über „friedliche Veränderung” als auch die „Hamlet-Formel” wurden bei dem erfolgreichen Aushandeln des „Zwei-plus-Vier-Vertrages” 15 Jahre später genutzt, da sie unschätzbare Bezugspunkte für das Ermöglichen der Wiedervereinigung und der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO boten.
Vor fünf Tagen konnten wir – in tiefer Dankbarkeit und glücklich über das wunderbare friedlich erreichte Ergebnis – den 25. Jahrestag der Unterzeichnung dieses Vertrages in Moskau begehen.
Ebenso werden wir in zwei Monaten den 25. Jahrestag der „Charta von Paris für ein Neues Europa” begehen.
Aber, es tut mir leid, das sagen zu müssen, wir haben noch nicht so viel zu feiern.
Heute können wir noch absolut zufrieden sein mit der vollen Verwirklichung des „Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990“.
Nicht zuletzt, weil der Vertrag auch die legitimen Erfordernisse unserer Partner berücksichtigt, zu denen natürlich auch die Sowjetunion – heute die Russische Föderation – gehört.
In der Nacht vor der Unterzeichnungszeremonie hat die Delegation der Bundesrepublik Deutschland einen Text entworfen, der ausdrücklich die Regierung des vereinigten Deutschland verpflichtet, über die Stationierung ausländischer Streitkräfte (= von anderen NATO-Mitgliedern) auf dem Gebiet der früheren Deutschen Demokratischen Republik „auf vernünftige und verantwortungsvolle Weise unter Berücksichtigung aller Vertragspartner…“ zu entscheiden.
Ich bin überzeugt: Das ist eine fortdauernde Verpflichtung, die über die spezielle Anwendung im „Zwei-plus-Vier-Vertrag” hinausreicht.
Meine Damen und Herren!
Damit beende ich meinen ziemlich kurzen Rückblick auf die Zeit seit Potsdam 1945, bei dem ich auf einige wichtige Verhandlungen eingegangen bin, an denen ich das Privileg hatte, in gewissem Maße beteiligt gewesen zu sein.
Die Vergangenheit könnte einige allgemeine Lektionen für Entscheidungsfindung in der Außenpolitik bieten.
Natürlich ist es Aufgabe unserer Staatsmänner  und Diplomaten, sie auf die derzeitigen Krisen und sehr komplexen Probleme in der heutigen scheinbar chaotischen globalen Situation anzuwenden zu lernen – mit Vorsicht und Mut flexibel und von Fall zu Fall:

(1) Definieren Sie die eigenen zentralen Werte und vitalen Interessen. Gleichzeitig sollten Sie für  Werte Ihrer Partner und Feinde Verständnis und Respekt aufbringen!
Wir Deutschen haben das gemacht durch unser beständiges und eindeutiges Engagement für FRIEDEN (in Großbuchstaben), für Freiheit und Demokratie, für die volle Achtung der Menschenrechte, für die Herrschaft des Rechts, für soziale Gerechtigkeit und für wirtschaftliches und soziales Wohlergehen.
Unsere Verfassung, das „Grundgesetz” von 1949, das 1990 auch die Verfassung des wiedervereinigten Deutschland wurde, umfasst alle diese Werte.
Ich bin überzeugt, dass sie unsere Gesellschaft und das politische Leben in exemplarischer Weise leiten und bestimmen.

(2) Suchen Sie nach den richtigen Partnern beim Verteidigen und Befördern Ihrer Ziele!
Ja, in der Tat, Deutschland hat gute Partner – jetzt Freunde – im westlichen Bündnis mit der transatlantischen Beziehung und, noch offensichtlicher, in der Europäischen Union (mit nun 28 Mitgliedern und noch vielen Antragstellern) gewählt.
Darüber hinaus unterhält Deutschland zum wechselseitigen Vorteil aller gute Beziehungen und umfassende Zusammenarbeit mit allen anderen Nachbarn in Europa und mit Ländern auf der ganzen Welt, und es wird dies weiterhin tun!

(3) Niemals, niemals den Dialog aufgeben!
Auf Grund von Deutschlands langen, sich am Ende jedoch als lohnend erweisenden Erfahrungen seit 1945 ist der Dialog für uns eindeutig das unentbehrliche Instrument beim Umgang mit internationalen Konflikten und Krisen.
Er hilft beim Vermeiden von Missverständnissen und bei dem besseren Einschätzen der Interessen der Gegenseite.
Ohne Zweifel ist der Dialog eine Vorbedingung für das Finden wechselseitig annehmbarer Lösungen.
Das braucht Zeit und schließt Frustration und Rückschläge ein, aber es kann zum Erfolg führen.
Ein Ereignis aus der jüngsten Vergangenheit beweist dies: Die Unterzeichnung des Nuklearvertrages zwischen dem Iran, den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates und, wie ich stolz sagen kann, Deutschland.

(4) Vertrauensbildung und Zusammenarbeit sind immer der Konfrontation vorzuziehen!
Die bedrückende Situation in der Ukraine und um sie herum bleibt äußerst kritisch und gefährlich.
Die Annektierung der Krim war ein klarer Bruch des Völkerrechts und der Prinzipien von Helsinki.
In der Folge ist das wechselseitige Vertrauen zwischen den beteiligten Staaten nahezu zerstört.
Kommunikation und Verhandlungen sind deshalb existentiell wichtig, um Vertrauen wiederherzustellen und die anstehenden Konflikte zu lösen.
Die beiden Abkommen von Minsk bilden weiterhin die Grundlage für die dringend notwendigen Maßnahmen, um gemäß dem internationalen Recht Frieden in der Ukraine zu schaffen.
Deutschland leistet dabei durch Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier jede mögliche Hilfe.
Sie verdienen unseren Dank und unsere Unterstützung!

(5) Halten Sie Ihre Verpflichtungen ein, und nutzen Sie die bestehenden internationalen Institutionen und Foren!
Die Vereinten Nationen für die ganze Welt und die OSZE (die institutionalisierte KSZE) für Europa sind zu den wichtigsten Institutionen für Konfliktprävention und – in gewissem Maße – Konfliktlösung geworden.
Auch sie brauchen viel mehr Unterstützung.
Deutschland leistet weiterhin einen wesentlichen Beitrag zu ihrer verdienstvollen konkreten friedensschaffenden Arbeit.
Außerdem müssen in Krisenzeiten andere Foren genutzt werden, beispielsweise die gegenwärtig grob vernachlässigten Konsultationsmechanismen, die von der NATO und der Russischen Föderation geschaffen worden sind.
Wann sollten wir und ihrer bedienen, wenn nicht JETZT?
Nicht zuletzt muss die Charta von Paris aus dem November 1990 noch ihr ambitioniertes Versprechen erfüllen, eine friedliche, freie und prosperierende Gemeinschaft kooperativer Partner in konstruktiver Interdependenz  von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen.

(6) Solidarität mit den Menschen in den Entwicklungsländern und mit den Flüchtlingen überall.
In Deutschland, in Europa, in Afrika und Asien erleben wir heute ein ständig zunehmendes Anwachsen von Flüchtlingsbewegungen, und zwar mit höchst dramatischen, tragischen persönlichen Konsequenzen für die betroffenen Männer, Frauen und Kinder.
Wie wir persönlich und unsere Behörden sie in unseren Ländern und, ja, in unseren Wohnungen empfangen und auf der nationalen Ebene wie auch der europäischen Ebene in Brüssel für sie sorgen, wird jetzt die größte Herausforderung für unsere Gesellschaften.
Die Antwort muss unverzüglich eine konzertierte, wirklich großmaßstäbliche europäische Reaktion sein, im Geiste der Solidarität und Großzügigkeit und unter Beachtung der Menschenwürde!
Auf der Grundlage dieser sechs Lektionen für Entscheidungsfindung möchte ich Ihnen eine „Agenda für Europa und die Welt“ vorstellen.
Sie ist zweifelsohne ziemlich ambitioniert, aber überhaupt nicht utopisch: Sie ist absolut notwendig!
– Globale und europäische Herausforderungen können nur zusammen bewältigt werden – und sicher nicht ohne Russland oder sogar gegen unseren wichtigsten Partner in Europa.
– Wir brauchen einen kraftvollen Neustart der Europäischen Union nicht irgendwann, sondern jetzt, um die EU in allen Politikbereichen zukunftsfähig zu machen.
– „Die Charta von Paris” muss vollständig in die Praxis umgesetzt werden, um eine dauerhafte und kooperative Zukunft für das gesamte transatlantische Gebiet von Vancouver bis Wladiwostok zu gewährleisten.
– Wir brauchen eine faire und gerechte „Weltfriedensordnung” im Geiste globaler Nachbarschaft.
– Und letztlich brauchen wir eine umfassende „Agenda für Weltfrieden” – insbesondere für die Förderung weltweiter Abrüstung und Rüstungskontrolle und mit dem vorrangigen Ziel, die so dringend benötigte nukleare Abrüstung voranzutreiben!

Meine Damen und Herren,
Die Globalisierung hat aus der Welt, — unserer – Welt, eine Überlebensgemeinschaft gemacht.
Diese Herausforderung kann nicht ignoriert werden und wird nicht einfach verschwinden.
Es bleibt keine Wahl: Wir alle, als Deutsche, als Europäer, als Weltbürger, müssen uns ihr stellen und sie – zusammen – meistern!

Lassen Sie mich zum Schluss John F. Kennedy zitieren, fünf Monate vor seinen Tod.
Ich glaube, dass seine Worte noch heute relevant sind: Unsere grundlegendste Gemeinsamkeit ist, dass wir alle diesen kleinen Planeten bewohnen.
„Wir alle atmen dieselbe Luft.
Uns allen liegt die Zukunft unserer Kinder am Herzen.
Und wir alle sind sterblich.“

Vielen Dank für Ihre Geduld.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Konferenz!