Dankesrede Erdem Gündüz

Mein Name ist Erdem Gündüz … Ich bin freischaffender Choreograph und Tänzer. Ich bin sehr stolz, diese Auszeichnung an einem Ort wie Potsdam zu erhalten – einer Stadt, die bekannt ist für ihre Toleranz, für ihren Kosmopolitismus und die Verteidigung der Freiheit. Eine Stadt, die sich viele Jahre lang auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befand und heute im Herzen Deutschland liegt, zwischen Ost und West, Orient und Okzident.
Im Jahr 2010 habe ich ein Tanzstück aufgeführt. Es heißt „Hexenbaum“. Ich möchte mit einem Auszug aus Edip Cansevers Gedicht beginnen, der Hexenbaum:

The parts of nature
I have forgotten,
or have never encountered,
they let themselves be, one by one,
I am passing from a path I have created on my own,
On the path, I see a dry Witch Tree.
I’m looking at the Witch tree in silence.
The extensions of it, something dry as me, this witch tree
What kind of thing am I?
I feel a painless ache. At that time …
The ache is spreading through my arms that are me.
The ache is spreading through my feet.

It seems as if I have very close relationship with some objects.
And I am the man who implies unresolved circumstances.
Whatever it is, from the most genuine side of a man,
from the most unexplainable place,
I am a man who flows
in order to be explained.
And I stand there,
On the path
That I created on my own.
And there I stand, and there I am,
since I stood there, I am still,
standing still.

Das erste Konzept ist Mehrdeutigkeit und Dualität. Hier könnte eine künstlerische Arbeit vorliegen, bei der man nicht weiß, wie man sie in definierte Termini zwängen könnte. Einem Teil des Publikums mögen spezielle Dinge aufgefallen sein, während der andere Teil des Publikums das Augenmerk auf ganz andere Aspekte gelegt haben mag. Ein definitives Resultat zu erlangen wird unmöglich. Genau das, was die Menschen über den „Standing Man“ gedacht haben.

Das nächste Konzept handelt von Beziehungen. Ein Thema kann mit einem anderen Thema verknüpft sein. Menschen, Menschlichkeit, Kollektivität, individuelle Körper und Gemeinschaft. Alle sind miteinander verbunden. Der Körper des Individuums verwandelt sich in den Körper der Gemeinschaft. Wir sprechen über Konzepte wie über eine Einzigartigkeit, und den Übergang des Einzelnen hinüber zu einem gemeinsamen Ganzen oder in eine kollektive Einheit. Das was wichtig wird, ist das kollektive Bewusstsein, denn das wird nicht in kollektiven Formulierungen, sondern in individuellen Begriffen ausgedrückt. Eine Einheit, geformt aus individuellen Wesen, bekommt eine größere Bedeutung und Kraft, wenn man sie mit einer Einheit vergleicht, die aus einer kollektiven Kraft entstanden ist.

Im Gezi-Park haben die Menschen als Individuen gehandelt. Sie verhielten sich autonom. Diese Verhaltensweise wurde sehr kraftvoll und es war schwer, damit umzugehen. Auf diese Weise haben sie eine bestimmte Art von Werten geschaffen. Jedes Individuum dort ist bedeutend. Sie handeln nicht zusammen, sie handeln nicht zusammen in einem kollektiven Bewusstsein. Es ist einfach, eine Million Menschen zu organisieren, die zusammen agieren sollen. Hunderttausend Leute, die komplett autonom handeln, sind schwierig.
Hier hat ein Anführer weniger Bedeutung. Man weiß nicht, wer der Anführer ist.
Leute haben mich wie einen Anführer gefragt, wieso ich das Bild von Atatürk anschauen würde, während ich da stand. Also, ich muss zugeben, dass ich seine Ideale und Prinzipien vermisse. Einige Leute haben beanstandet: „Atatürk war ein Diktator, nicht einfach nur ein Anführer“. Dem stimme ich nicht zu. Atatürks Idee war, in der Türkei europäische Ideale, und moderne Prinzipien zu erlangen und den fortschrittlichsten Gesellschaften der Welt nachzueifern. Ich weiß, dass viele Menschen meiner Meinung sind. Atatürk war kein Diktator, sondern ein guter Anführer. Die AKP-Regierung versucht durch TV, Zeitungen und der ganzen Medien die Gehirne der Menschen zu waschen. Bevor die AKP an die Macht kam, war die Türkei europäischer und genoss mehr Freiheiten in den Medien und soziales Leben im Mittleren Osten. Die Regierung hat die türkischen Medien zerstört und es geschafft, dass die Medienvertreter nur noch die Perspektive der Regierung wiedergeben.

Jedoch bedeutet Demokratie nicht nur, die Rechte derjenigen zu beschützen, die an der Macht sind. Es geht nicht nur um Wahlen. Ganz im Gegenteil, Demokratie sollte die Rechte von Minderheiten und der restlichen Gesellschaft verteidigen. Sie sollte für Bürgerrechte, Frauenrechte, Meinungsfreiheit und für die Freiheit der Gedanken einstehen. Nehmen wir die Frauenrechte: Die AKP setzt die Frauen sehr unter moralischen Druck und will ihnen vorschreiben, wie viele Kinder sie bekommen sollen. Wenigstens drei, aber besser wären fünf. Schwangeren Frauen wird nahe gelegt, zu Hause zu bleiben und nicht auszugehen. Es wird sozialer Druck auf sie ausgeübt, ein Kopftuch zu tragen, falls Sie in den städtischen Raum kommen sollten, wird Ihnen das auffallen. Keine wirkliche demokratische Regierung des Westens würde Druck auf Wähler ausüben, dass sie sich in ihrem Leben so oder so zu verhalten haben.

Und nochmals, die Leute fragen mich, wieso ich schweigend und emotionslos vor dem Portrait von Atatürk auf dem Taksim Platz stand.
Zuerst war dies ein Protest gegen die türkischen Medien, die ihren Job nicht richtig und objektiv durchgeführt haben. Während der Proteste im Gezi-Park konnten sich Ausländer nicht durch die türkischen Medien informieren, was in der Türkei passierte. Zudem war meine Aktion eine Reaktion auf die brutale Polizeigewalt in der Türkei gegen die Gezi-Park-Demonstranten. Letzten Endes wollte ich meinem Respekt für Mustafa Kemal Atatürk zeigen, weil er unser Land gegründet hat. Wie ich bereits gesagt habe, vermisse ich seine Prinzipen und die Ideen, eine neue und moderne Nation zu schaffen nach unserem Kampf um Unabhängigkeit. Deshalb stand ich lange Zeit vor seinem Portrait und habe es angeschaut.

Während ich dort stand, erinnerte ich mich an seine Worte, die besagen: „Frieden zu Hause, Frieden in der Welt.“ Das war sein Hauptprinzip. Ihm schwebte eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede oder andere Unterschiede zwischen den Bürgern der Türkei vor, aus denen er erstmals eine Nation gemacht hat. Er forderte, dass Religion und Staat getrennt sein sollten. Er kreierte ein neues politisches System und reformierte das Rechtssystem, schaffte das Kalifat ab, säkularisierte die Regierung und die Bildung, gab den Frauen gleiche Rechte, änderte das Alphabet und die Kleidung, förderte die Kunst, die Wissenschaft, die Landwirtschaft und die Industrie. Das war – im Vergleich zum Ottomanen-Staat – eine soziale Revolution.

Ok, wo ist nun die Verbindung zwischen diesen Themen und der eigentlichen Performance?

Zuerst war es nicht meine Absicht, eine Performance oder bildende Kunst aufzuführen. Ich habe das als Bürger gemacht, der in diesem Land lebt. Das sollte keine Performance sein. Das Interessante hierbei ist, dass, wenn diese Performance ein gewöhnlicher Mann von der Straße gemacht hätte, hätten die Leute es wohlmöglich nicht als Performance wahrgenommen. Mit dem Verstehen von bildender Kunst ist es ähnlich.

Sie haben mich später nach einer Reproduktion des „Standing Man“ gefragt. Ich dachte, das sei so wie die Kopien des Bildes von Marilyn Monroe von Andy Warhol. Das war in Ordnung für mich. Außerdem war ich auch stolz darauf. Genau wie Rodins „Der Denker“. Jeder kennt den „Denker“, aber nicht jeder weiß, wer Rodin ist.

Schließlich sind wir menschliche Wesen. Wir entwickeln Empathie. Wir können Empathie für andere zeigen oder auch nicht. In der bildenden Kunst ist es das gleiche. Du kannst  für ein Kunstwerk Empathie entwickeln, für andere hingegen nicht. Vielleicht ist nichts mehr eine Sache als der Tanz. Vielleicht sollte der Tanz rekonstruiert werden. Damit er mit einer neuen Bedeutung weiterleben kann, aber nicht mit neuen Bewegungen. Beispielsweise waren in meiner „Hexenbaum“-Performance fast keine tänzerischen Elemente vorhanden. Die Geschichte, um die es geht, handelt lediglich von einem Muskel, der sich anspannt, zusammen mit Skulptur und Poesie. Die Leute können es mögen oder nicht. Das sind alles Teile des Lebens selbst.

Außerdem habe ich im Jahr 2007 ein Tanzstück gemacht. Der Name war „DUVAR“, das heißt „Die Wand“. Ich bin mit meinem Körper gegen die Wand gerannt, weil ich versucht habe, die Wand einzureißen, durch sie hindurch zu laufen, drüber zu springen, ich bin dagegen geprallt, gestürzt, zurückgerollt, habe neue Energie gewonnen und es erneut versucht und wieder und wieder, sechs Minuten lang. Auch mein Körper hat mich manipuliert. Dieses Stück war mit meiner eigenen künstlerischen Auffassung verknüpft, in der das Hauptthema ist, sich gegen Grenzen zu stemmen, die Menschen voneinander trennen.

Eine andere Performance aus dem Jahr 2004 nahm Bezug auf das Kopftuchverbot an den Universitäten. Diese Performance setze sich für Gleichberechtigung ein. Meine Freunde und ich haben diese Performance realisiert, um Gleichberechtigung für alle von uns zu fordern. Denn an den Universitäten konnten die männlichen Muslime problemlos in ihrer muslimischen Bekleidung am Unterricht teilnehmen. Aber die Frauen durften das nicht. Der Turban war für Frauen, nicht für die Männer. Wir haben auf diese Situation hingewiesen. Wir waren Kunststudenten. Zusammen mit zwei anderen Kommilitonen, einem Mann und einer Frau, sind wir in den Kunstunterricht mit Kopftüchern gegangen. Das war verboten. Wir haben lediglich am Unterricht teilgenommen und ein Kopftuch getragen. Ich beanspruche nicht, ein Aktivist oder ein Mann der Politik zu sein. Aber durch einen glücklichen Zufall hatte ich die Möglichkeit, mit politischen Institutionen zu arbeiten und auch mit der Politik von Institutionen.

Kommen wir zurück in die Gegenwart: In einer vollkommenen Unbeweglichkeit ist Bewegung. Sogar wenn man reglos steht, wächst man im Inneren weiter. Du gibst all deine vorhandene Energie. Auch wenn du still stehst, stehst du aktiv still.

Ich sehe nicht nur still, sondern ich frage, ich hinterfrage, ich tanze und zitiere…

Dieses Jahr habe ich ein Stück in der Istiklal-Straße aufgeführt, in einem öffentlichen Raum. Ich las mein Manifest in dem Stück auf einem hohen Stand. „Erstens: Liebe ist überall. Zweitens: Am Ende wird jeder sterben. Drittens: Mein letztes Stück war schlecht.“ Ich habe Dinge erzählt, die mir sehr wichtig sind. Ich hinterfrage außerdem Ideen, Dinge, konventionelle Ideen, allgemeine und fundamentale Konzepte. Und dann: „Viertens: Wie kann jemand sicher sein, ob das Kunst ist oder nicht? Fünftens: Was ist die Beziehung zwischen mir und dem Kunstobjekt? Sechstens: Gibt es einen Kunstrat in der Türkei?“ Das ist auch der Name des Stücks: „ Gibt es überhaupt einen Kunstrat in der Türkei?“ Denn wenn du selbstständig arbeitest, also Autoren, Maler, Bildhauer, Choreographen, die eigenständig arbeiten, kannst du dich nicht beim türkischen Kultusministerium (für Unterstützung) bewerben.

Ich frage nicht nur, warum das so ist. Ich frage auch, was ist Choreographie? Was ist Tanz? Wie ist Tanz? Was ist ein Kunstwerk? Wie verstehen wir die Welt? Bitte, laßt sie sie …

Bevor ich meine Rede beende, möchte ich ein Zitat von Auguste Rodin als Rat für junge Künstler zitieren: „Das wichtigste ist, bewegt zu werden, zu lieben, zu hoffen, zu zittern, zu leben. Sei ein Mensch, bevor du ein Künstler bist!“